Tod in Echtzeit

Die "neuen Kriege": Was nicht als Leben gilt, kann auch nicht ausgelöscht werden

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Was es heißt, wenn Krieg zum modernen Medienereignis mutiert, beschrieb Paul Virilio, der den Begriff prägte: Krieg in Echtzeit. Das ist ein Krieg, den wir uns vom Bett aus im Fernsehen anschauen können. So erleben wir zugleich den Aufruf zum "reinen Krieg", der eine Art modernes Wunder bewirkt, nämlich einen Kampf, bei dem es kaum eine echte Berührung mit dem Feind gibt. Wunderwerkzeuge gestatten eine Ausübung des Gewaltmonopols wie in keiner anderen Epoche der Kriegsgeschichte.

Auf makabre Weise in Erinnerung gerufen wurde die göttliche Überlegenheit der westlichen Kriegstechnik durch die 2007 in Irak entstandenen (und jetzt bekannt gewordenen) Videoaufnahmen aus dem erhöhten Blickwinkel eines amerikanischen Kampfhubschraubers. Hier zeigt sich die Theorie des sauberen Krieges: Zwölf offenbar arglose Passanten, darunter zwei Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters, werden in Spielermanier regelrecht abgeschossen (Mord im Krieg vor der Kamera). Eine aktuelle, fassbare Realität oder - aus der Perspektive der fliegenden Protagonisten - am Ende nur eine virtuelle Vision?

Der tödliche Blick von oben. Screenshot aus dem von Wikileaks veröffentlichten Video

Über den Krieg der Moderne ist zuletzt viel geschrieben und veröffentlicht worden, man hat zum Beispiel festgehalten, dass der heutige Krieg sich zunehmend als Krieg der Bilder beschreiben ließe. Das fing an mit dem Golfkrieg, der auch schon als totaler elektronischer Weltkrieg bezeichnet wurde: ein der Betrachtung einer internationalen Zuschauergemeinde ausgesetzter globaler Krieg geisterhafter Augenblicklichkeit. Mit dem Ende der Dominanz der Führungsmächte USA und Sowjetunion in ihren jeweiligen Blöcken, leichterem Zugang zu Waffen und neuen Formen der Finanzierung von Kriegen kam auch die Vorstellung von einem Zeitalter völlig neuartiger Konflikte auf.

Das Ende der Ära zwischenstaatlicher Kriege (der "klassischen" Kriegsform) schien gekommen; asymmetrische Kriegführung, Entstaatlichung und Kommerzialisierung waren Schlagworte der Stunde und zugleich plausible Gründe dafür, dass der Begriff der "Neuen Kriege" in der Öffentlichkeit des letzten Jahrzehnts viel Erfolg hatte. Aber der "neue Krieg" zeigt auch ein weiteres, ein verstörendes Merkmal, trägt das Kennzeichen einer unlogischen, sakralen Macht. Sie überwindet anscheinend sogar die Zeit.

Ferngelenkte Drohnen durchkreuzen heute unbemannt den Luftraum über dem Irak oder Afghanistan. Hochentwickelte Technik macht es möglich, etwa einen einzelnen Wagen aus großer Entfernung in einem gegnerischen Konvoi zu orten, zu markieren und mit Hilfe von intelligenter Munition die nichtsahnenden Insassen gezielt und ohne erkennbaren Einsatz von Menschenhand zu eliminieren. Ein quasi göttlicher Eingriff. Die Präzision des Einschlags beruht auf modernen westlichen Systemen der Fernsteuerung und Navigation. Kein menschlicher Arm führt ein Schwert; das Schwert ist ersetzt durch Magie. Hier fließen die Grenzen der Wahrnehmung ineinander, auch die Unterscheidung dessen, was überhaupt "Tod" bedeutet.

Im Gaza-Krieg wurden mittels einer Drohne 8 Menschen getötet, die angeblich Raketen umluden, israelische Menschenrechtler hatten diese Version bestritten. Das Video wurde vom israelischen Militär veröffentlicht (Präzisionsschläge im Nebel).

Zurück zum Vorfall Irak 2007: Die hämischen Kommentare der über dem Schauplatz fliegenden Soldaten - eines neuartigen Soldatentyps, versehen mit einem neuartigen Maskulinitätskonzept - zeigen die zynische Distanz zum realen Geschehen; eines Geschehens auf dem physikalischen "Kriegsschauplatz" unten am Boden, von dem auch zwei Kinder betroffen waren. Die Videoaufnahmen offenbaren zudem die zwei Wirklichkeitsbereiche des modernen Krieges. Die destruktive Kraft wirkt sich verheerend ohne direkten "Feind"-Kontakt aus, Kommunikation findet seltsam abgehoben statt, die Eliminierung von Leben erfolgt vom Himmel aus. Die zerstörerische Aktion wird hier zum Spektakel.

"Erschreckend ist die Beiläufigkeit des Blutbads", so der Kölner Stadt-Anzeiger. Im Kommentar ist die Rede von der "Lakonik des Tötens": Sicherlich waren diese Soldaten durch Simulation geschult. Zudem gleichen sie Heroen, die davon überzeugt sind, unter der Mitwirkung Gottes zu handeln; der Einsatz ihrer Waffen gerät so zu einer schreckenerregenden Theophanie, einer Offenbarung göttlichen Willens. Und wir sind Zuschauer.

Als jetzt drei deutsche Soldaten in Afghanistan sterben (und fünf weitere schwer verletzt werden), spricht die politische Welt der Logik des Engagements zufolge von einer unzureichenden Ausrüstung der Soldaten. Das Problem ist nicht der "Krieg" an sich (politisch bis heute nicht eindeutig so genannt), das Problem ist auch nicht etwa das Mandat für den Einsatz am Hindukusch (wo der offiziellen Doktrin zufolge unsere Freiheit verteidigt wird), das Problem ist technischer Natur. Die Diskussion dreht sich dementsprechend um den neuesten Kampfpanzer, um satellitengestützte Aufklärung, um den adäquateren Helikoptertyp, um Menge und Qualität des Kriegsgeräts. Erfolg oder Misserfolg im Krisengebiet wird militärtechnisch und -logistisch debattiert und definiert. Dabei gilt: Zerstörungswaffen, und hier liegt der Schlüssel zu deren Effizienz, sind heute unbedingt auf Kommunikationswaffen angewiesen. Letztere sind die Waffen der Zukunft; sie beweisen schließlich ihre Überlegenheit über einen Feind, der technisch - und auch kulturell - als rückständig einzustufen ist.

US-Kommandozentrale in Katar zu Beginn des Irak-Kriegs. Bild: Pentagon

An die Stelle der früheren Feindberührung sind indirekte, technisch vermittelte Formen der Begegnung getreten

Verallgemeinerungen, Abwertungen, Abgrenzungen dienen dabei der Aufrechterhaltung der eigenen Identität. Jegliche Annäherung an den physischen Gegner - im Krieg doch eigentlich der Normalfall - wird auf westlicher Seite als unzumutbare Bedrohung wahrgenommen und kommentiert. Je weniger man den Anderen, den Unterlegenen, realiter kennt und erlebt, desto besser. Das ist auch der ideale Nährboden für propagandistische Zerrbilder. "Taliban" ist Synonym für den bärtigen, zivilisatorisch rückständigen, dabei gefährlichen Menschentyp, den es zu neutralisieren gilt. Die überlegene Gewalt wird im Namen von Sicherheit und Gerechtigkeit gerechtfertigt, aber die Selbstglorifizierung erfordert es, den Gegner politisch, moralisch und kulturell zu delegitimieren.

Die Technik ermöglicht die De-Realisierung des Feindes schon vor seiner physischen Vernichtung. Der direkte Kontakt ist nicht nur unerwünscht, mitunter ist er gar nicht mehr möglich; indirekte, technisch vermittelte Formen der Begegnung, früher "Feindberührung", sind an die Stelle getreten. So beklagte der Journalist und Ha'aretz Korrespondent Aluf Benn, die israelischen Luftwaffenmannschaften erlebten Palästinenser "nur noch als stille Punkte auf ihren Bildschirmen, die von Drohnenaufnahmen gespeist werden". Beleg für eine gespenstisch anmutende Entwirklichung des Gegenübers.

Digitale, akustische und thermische Bilder bestimmen die Informationslage im modernen Krieg. Immer schneller müssen "Ziele" bestimmt werden, muss die Kampflage interpretiert werden. Die Unterscheidung von "echten" und "falschen" Waffenträgern erfolgt mitunter in Sekunden. Der umstrittene deutsche Luftschlag von Kundus zeigt die Problematik.

Die Derealisierung erlaubt den sauberen Krieg

"Erkennen" oder "Wahrnehmung" im modernen Krieg geschieht somit auf der technischen Ebene mittels Bordcomputer, Ferndetektoren und Geländeabtastung. Dem voraus geht die normative, kulturell mitbestimmte Wahrnehmung dessen, was ein Leben überhaupt ausmacht. Es geht um die Struktur der Rahmung (framing) dessen, was ein Leben in Afghanistan, im Irak oder anderswo bedeutet, d.h. jeweils dort, wo der Westen Kriegsziele definiert und militärisch (und das heißt immer: auf der Basis militärtechnischer Hegemonie) verfolgt, politisch durch Mandate abgesichert.

Es geht also in der erweiterten Wahrnehmung um das Bild, das "den Text des Krieges einrahmt", wie die US-Philosophin und Professorin für Rhetorik, Judith Butler (Berkeley, University of California), in ihrem soeben erschienenen Buch "Raster des Krieges" schreibt. Es geht um den Geltungsgehalt von Leben.

Butler erklärt, dass bestimmte Leben, die gar nicht als Leben gelten (oder von Anfang an aus dem epistemologischen Raster herausfallen), im vollen Wortsinn niemals gelebt und auch niemals ausgelöscht werden können: "Die Rahmen oder Raster (frames), mittels welcher wir das Leben anderer als zerstört oder beschädigt (und überhaupt als des Verlustes oder der Beschädigung fähig) wahrnehmen oder eben nicht wahrnehmen, sind politisch mitbestimmt. Sie sind ihrerseits schon das Ergebnis zielgerichteter Verfahren der Macht."

Nach 2001 entwarf die US-Führung unter der Devise "War against Terror" eine neue Form der Weltherrschaft. Sie führte fortan das "Schwert der Gerechtigkeit", agierte als "Sole Super Power" und tat das in Vertretung der ganzen Welt. Jedoch zeigt die mit dem globalen Führungsanspruch verbundene Gewaltdynamik sphinxhaft auch jenes andere, ein hässliches Gesicht. Der Anspruch kultureller Überlegenheit zusammen mit dem Einsatz neuester Waffen gestattet neue Formen der Maßlosigkeit. Natürlich gehört dazu die Definition dessen, was ein Leben ausmacht.

Dem englischen Staatsphilosophen Thomas Hobbes (1588-1679) kommt das Verdienst zu, als einer der ersten über Monopolisierung von Gewalt in modernem Verständnis geschrieben zu haben. Seine Konzeption beruht auf dem "Gesellschaftsvertrag": Geben und Nehmen. Das Problem: Der Gesellschaftsvertrag kann die brutale Herrschaft des Gewaltmonopolisten auch verschleiern - und kleidet sich dazu bei Gelegenheit in eine nur äußere Form von Austausch, von Geben und Nehmen.

In diesem Kontrakt ist das Gut, das der Besiegte, Schwächere empfängt, das Geschenk seines Lebens; das Gut aber, das er verspricht, ist Dienst und Gehorsam.

Thomas Hobbes, De Cive, Kap. VIII)

Das Geschenk des Lebens? Die Magie heutiger Wunderwerkzeuge und ihr außerordentlicher Nimbus lässt diese Definition als hoffnungslos antiquiert erscheinen. Mircea Eliade beschrieb Mitte des 20. Jahrhunderts hellsichtig den magisch-religiösen Glanz der Technik einer Zeit, die sich anschickt, immer präzisere, immer effizientere Waffen zu entwickeln. Konnten gesellschaftliche und moralische Kompetenzen, die Hobbes einst noch beschwörte, mit der Entwicklung Schritt halten?

Unter Donnern und Blitzen zeigt sich die übernatürliche Macht; ihre Gewaltlegitimation steht außer Frage. So ist gefährdetes Leben in den Echtzeitkriegen unserer Tage wohl vordergründig auf den Bildschirmen fliegender Götter wahrgenommenes Leben mittels Ortung durch Radar, Funk und Laser. Die Mittelbarkeit der Begegnung mit dem Feind, seine phantastische De-Realisierung erlaubt westlicher Doktrin gemäß einen "sauberen" Krieg. Aber kulturell und politisch ist damit die Frage nach der Legitimation der neuen Kriege nicht beantwortet. Im Gegenteil, sie stellt sich den Nachdenklichen unserer Tage nur um so dringlicher.

Literatur (Auswahl)