Todestweets im Schnelldurchlauf

Über den Stand der digitalen Trauerkultur

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Wer glaubt, Gefühle zu haben, möchte diesem Glauben oft auch Ausdruck verleihen. Im Internet führt unter anderem das Prominentensterben der jüngeren Vergangenheit dazu, dass eine bestimmte Automatisierung der Trauer sichtbar wird.

Kulturkritik ist ja immer so eine Sache - ganz leicht kommt sie auf die schiefe Bahn, wird nostalgisch, feiert eine gute, alte Zeit, die nicht gut war. Schnell sind dann Phrasen bei der Hand, die sonst nur noch in Fernsehpredigten und bei Ansprachen des Bundepräsidenten auftauchen: Vom "Innehalten" ist dann die Rede, von der "Schnellebigkeit" und all dem anderen Quatsch. Als sei die Vergangenheit ein Teich mit Seerosen gewesen, der pausenlos zu besinnlichen Spaziergängen eingeladen hätte.

Neulich fiel mir die Todesanzeige eines Wehrmachtssoldaten in die Hände, der im August 1944 umgekommen war. Wie bei solchen Gelegenheiten üblich, wurde auch Poesie verbrochen. "Schlummre sanft, Du treues, tapferes Herz / Du hast den Frieden und wir den Schmerz", heißt es da in der typischen Idiotendiktion, und: "Herr, dein Wille geschehe / tut’s auch noch so wehe." Ein weiteres Mal ist von "Gottes hl. Willen" die Rede, als sei der Tod des Soldaten nicht auf den Willen sehr irdischer, ganz und gar unheiliger Herren zurückzuführen. Das ganze Grausen des vorgestanzten Trauerkitschs, der durch die Umstände, unter denen er stattfand, vom bloß hilflos Bescheuerten ohne Umweg ins Monströse rutschte.

Die Hakenkreuzdeko, die ebenfalls auf der Todesanzeige zu finden ist, war nach 1945 nicht mehr so en vogue; das Formelhafte, die poetischen Verbrechen und die Hinwendung zu höheren Mächten schon. Allerdings gewinnt in jüngerer Zeit das infantile Element, das auch schon immer vorhanden war, deutlich an Bedeutung.

Die Todesbärchen

Es mag sie schon länger geben, aber mir sind sie erst durch die Medien bekannt geworden, und zwar verstärkt in den letzten Jahren: die Todesbärchen. Wenn irgendwo in der Welt eine Tragödie geschieht, wenn es zu islamistischen Terroranschlägen, zu Amokläufen kommt, dann sind Kuscheltiere zur Stelle, die hingelegt werden, wie um mit ihrem flauschigen Fell das frische Blut zu verdecken oder aufzusaugen, auf jeden Fall: unsichtbar zu machen.

Es gibt so viele von ihnen, dass es nicht wundern würde, wenn die Stofftierindustrie mittlerweile bewusst zu einem Teil auf Todesbärchenproduktion umgestellt hätte. Die Kerzen und die religiösen Symbole sind auch noch da, aber für das Monströse sorgt heute der regelmäßig ausgebreitete Todesbärchenteppich.

Natürlich versichert man den Opfern, dass an sie gedacht wird - offenbar denkt das Publikum lieber an die Toten als an die Lebenden. Die poetische Begleitmusik ist nicht mehr ganz so geläufig, weil es schwieriger ist, ein holperndes Gedicht aus dem Internet abzuschreiben und auf einen Zettel zu schmieren als ein Kuscheltier ins Blut zu drücken.

Stichwort Internet. Die richtige Automatisierung der Trauer findet fraglos im Netz statt. Darunter sind nicht die seltsamen Ecken zu verstehen, in denen die althergebrachten Zeitungs-Todesanzeigen mit Hilfe von animierten GIF-Kerzen in die Neuzeit übersetzt werden. Diese spezielle Art des musealen Untotseins würde eine eigene Betrachtung verdienen.

Wahre Internet-Trauer

Wahre Internet-Trauer findet natürlich auf Facebook, Twitter usw. statt. Faszinierend daran ist, dass wir uns in einer web-historischen Situation befinden, in der sich die netzkompatiblen Standards der emotionalen Dummheit gerade eben erst gebildet haben. Es muss sich noch einschleifen, was in Zukunft völlig bedenkenlos repliziert werden wird. Das "herzliche Beileid" und die ungelenken Inszenierungen der Trauer per Stofftier sind in digitalen Gesten aufgegangen, wie zum Beispiel den Avatar-Überziehern, mit deren Hilfe man den jeweiligen Opfern seine Trauer und seine "Solidarität" versichern kann.

Dann sind alle Charlie oder haben die belgische Nationalflagge über dem Gesicht. Wenn Prominente sterben, kann man eigentlich nur noch den Kopf einziehen. Sind es Musiker, dann berichtet jeder Zweite von seinem Lieblingssong (es ist immer derselbe), manche haben Konzerterlebnisse aus dem letzten Jahrhundert zu bieten, andere wollen sogar dem Star einmal fast die Hand geschüttelt haben.

Bei dem epidemischen Musikersterben in der jüngsten Zeit wurde bis zum Erbrechen die Idee wiedergekäut, dass Gott sich wohl da oben eine Band zusammenstelle. Für Künstler anderer Sparten gilt mit branchenspezifischen Abweichungen dasselbe. Nach dem Tod von Prince war ich nur noch genervt und schrieb

Wenn ganz berühmte Leute sterben, ist das Internet besonders praktisch. Dann kann ich andere die Gemütsbewegungen ausdrücken lassen, die ich auch nicht habe.

Ein sarkastisches Bonmot, um Dampf abzulassen. Vielleicht muss man nicht so streng sein mit sich und den anderen. Vielleicht ist die Memisierung der Trauer unausweichlich. Trauern ist ein Gewerbe, und war es schon immer. Es ist eine Produktion von Gefühlen und von Formen, in denen sie ausgedrückt werden, und das Trauern verändert sich im Gleichschritt zur Veränderung der Produktionsmittel. Von der Todesanzeige über das Todeskuscheltier zum Todestweet.

Allerdings: der Echoraum, den das Internet bietet, ist halt auch viel größer als früher. Wenn dumme soziale Gewohnheiten auch noch auf diese Weise laut werden, wünscht man sich einfach nur ihre Abschaffung.