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Todsichere Sicherheitspolitik

Eine Zeitung fordert gemäß dem Zeitgeist, die Auseinandersetzungen mit Russland "bis zum bitteren Ende" durchzustehen. Was aber bedeutet das konkret?

Seit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), wie es die FAZ nennt, auf den Ukrainekrieg mit einer "sicherheitspolitischen Wende" reagiert [1] hat, erhält er breite Zustimmung. Das zeigt sich unter anderem in einer Umfrage des Nachrichtenmagazins Focus [2]zu den von ihm angekündigten Rüstungsbeschlüssen [3]:

Fast 60 Prozent bewerteten das Paket aus mehr als 100 Milliarden Euro, dem Kauf des Atombombers F 35 für die nukleare Teilhabe im Fall eines Atomkrieges, der Bewaffnung von Drohnen und weiteren bislang umstrittenen Schritte der Militarisierung – darunter die Übererfüllung der Nato-Vorgabe, zwei Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung militärisch zu verausgaben – als positiv oder eher positiv.

Die linksliberale Tageszeitung taz fragte kurz nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine: "Hat sich der Pazifismus überholt? [4]" Und Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/ Die Grünen) sagte in diesem Kontext, unsere "Wehrhaftigkeit entscheidet unsere Sicherheit" – so berichtet es die Süddeutsche Zeitung im Kontext der Frage: "Aber wie wehrhaft ist Deutschland wirklich?" 1 [5]

Die Bild bringt diese Frage als Angriff auf die Verteidigungsministerin Lambrecht: "Kann diese Ministerin Krieg?".2 [6] Die Frankfurter Rundschau schrieb [7] in einer Bilanz der Gipfeltreffen von EU, Nato und der G7-Staaten an einem Tag Ende März 2022 in Brüssel, der Westen habe "nicht nur ein (...) deutliches Signal an den russischen Autokraten Putin und sein Regime gesendet. Darüber hinaus haben sie verdeutlicht, dass der Westen bereit ist, die Auseinandersetzungen mit Russland bis zum bitteren Ende durchzustehen."

Das bittere Ende bezieht sich inhaltlich und unausgesprochen auf die Gefahr, die für die Zivilisation von den über 100 Atomreaktoren in Europa [8] – einem Viertel der weltweiten Nutzung von Atomkraft – ausgeht. Ein Krieg in diesem Erdteil kann mit unverantwortlich hoher Wahrscheinlichkeit auch ohne den Einsatz nuklearer Arsenale in einem atomaren Inferno enden.

Angesichts der Begründung der Nato-Sicherheitspolitik drängt sich der Gedanke an den Roman 1984 des britischen Schriftstellers George Orwells auf. Die Herrschenden nennen "Krieg" darin "Frieden" und deuten "Ignoranz" als "Stärke". Es ist besorgniserregend, dass vergleichbare Überlegungen nicht den gebotenen Widerstand der Öffentlichkeit hervorrufen, sondern weitgehend ohne Widerspruch hingenommen werden.

Friedensdemonstrationen für die Nato

Es ist sogar so weit gekommen, dass Vertreter einer Friedenslogik im Namen des Friedens vermehrt Angriffe erfahren. Die Meinungsmache der Militärlobby zeigt Wirkung.

Zwar ist es evident, dass auch der aktuelle Angriffskrieg Russlands zentrales Element einer Eskalationsdynamik ist, die sich militärisch nicht lösen lässt. Doch treffen Nato-Pläne zur Aufrüstung und Verstärkung der militärischen Drohkulisse selbst bei einer großen Zahl von Teilnehmern an Friedensdemonstrationen auf Zustimmung.

Russlands Völkerrechtsbruch ist für diese Entwicklung nicht die einzige Erklärung. Ganz offensichtlich hat die Militärlobby ihre Lektionen aus vergangenen Kriegen von Vietnam bis Irak gelernt.

Einst prangten Fotos von US-Kampfjets, die einen Bombenteppich über Vietnam ausklinkten, von Kindern auf der Flucht aus ihrem brennenden Dorf oder von Folteropfern in CIA-Einrichtungen auf Titelseiten der Tagespresse.

Heute sind Fotos von Opfern aus Kriegen, in denen Angreifer Nato-Waffen benutzen, kaum mehr zu sehen. Erschütternde Fotos von Kriegsopfern aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine dominieren die Kriegsberichterstattung in den Mainstream-Medien.

Es geht hier nicht darum, Russlands Menschenrechtsverletzungen zu relativieren, wenn Kritik darauf hinweist, wie stark hier mit zweierlei Maß gemessen wird, um Menschen zu manipulieren.

So blenden die Meinungsmacher den Jemen-Krieg weitgehend aus, obwohl die U [9]NO ihn 2018 mit seinen hunderttausenden Toten und über zehn Millionen oft vom Hungertod bedrohten Flüchtlingen zur größten humanitären Katastrophe unserer Zeit erklärt [10] hat.

Ebenso ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der USA gegen den Irak [11] mit seinen mehr als 600.000 Toten und vielen Flüchtlingen, die es teils sogar bis nach Deutschland geschafft haben, aus der medialen Aufmerksamkeit verschwunden, obwohl die Katastrophe dort weiterhin anhält.

Auch der Afghanistan-Krieg, in dem über 240.000 Menschen zu Tode kamen [12], in dem bis heute die Hungersnot grassiert und über 5,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben worden sind, wird aus dem öffentlichen Bewusstsein gedrängt.

Nato inszeniert sich als Garant für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte

Die Westmächte nutzen die Stunde für einen Propaganda-Coup, um Völkerrechtsbrüche von Nato-Staaten aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden zu lassen; sie forcieren ihre Hoch- und Atomrüstung unter Verweis auf Russland, das zur alleinigen Gefahr für den Weltfrieden stilisiert wird, während sie selbst sich als Hort der Freiheit, Demokratie und Menschenrechte darstellen.

Während seiner Polen-Reise Ende März 2022 forderte US-Präsident Joseph Biden [13]:

… mit Blick auf den Krieg in der Ukraine die Länder der Europäischen Union und der Nato zu einem "langen Atem" auf … Der Kampf für Freiheit und Demokratie sei eine Aufgabe unserer Zeit …

Dies kann der Präsident jenes Staates sagen, auf dessen Konto ungezählte Regime-Change-Aktionen mit CIA-Einflussnahme und massive Kriegsverbrechen sowie weitere Völkerrechtsverstöße gehen, und er erhält Akzeptanz in der westlichen Öffentlichkeit.

Die einseitige Berichterstattung in führenden Medien zeigt die ihrem Aufwand entsprechende Wirkung: Auch bei vielen Jugendlichen ist "eine Angst entstanden und daraus das Bedürfnis, dass Deutschland sich besser verteidigen muss", so Laura Körner von der Landesschülervertretung NRW.3 [14]

Viele ordnen die Gefahr ausschließlich dem russischen Militär zu, während die Nato sich erfolgreich als Sicherheitsgarant inszeniert. Der feine Unterschied besteht darin, dass dieser Sicherheitsbegriff mit einer Abwehrbereitschaft und militärischen Befähigung gegen einen Feind gleichgesetzt wird, anders als beim Friedensbegriff, der nur im gemeinsamen Handeln aller Beteiligten zum Ziel führt.

Der Meinungsumschwung in der Öffentlichkeit wurde schon seit Jahren vorbereitet. Etwa durch die Werbekampagne der Bundeswehr "Mach, was wirklich zählt", durch Sprüche wie "Mach dich bereit, an dein Limit zu gehen" oder "Mach dich bereit für echte Verantwortung!"4 [15]

Die auf Jugendliche fokussierte Werbung fürs Militär findet ihre Entsprechung in der medialen Öffentlichkeit: 2015, also vor Jahren schon, hatte die auflagenstärkste Zeitschrift für Deutschlands öffentlichen Dienst beklagt [16], dass "große Teile der Bevölkerung wie der Medien eine ausgesprochen kritische Haltung gegenüber allem, was mit Streitkräften und Kriegswaffen zu tun hat" einnehme.

Die Nato hat auf diesen Zustand unter andrem mit einer Essener Strategiekonferenz im Herbst 2015 reagiert. Im Einladungsschreiben formulierte die Strategieschmiede Joint Air Power Competence Centre [17], der "Nato gegenüber feindlich eingestellte Einheiten (Entities hostile to Nato) wissen, dass das Wissen sowie das Verständnis für Luftstreitkräfte der Öffentlichkeit verwundbar ist".

Nato setzt auf Einflussnahme der öffentlichen Meinung

Strategische Kommunikation ist für die Nato zu einem Element psychologischer Kriegsführung geworden. Die Essener Konferenz empfiehlt in ihrem Schlussbericht [18]:

Strategie und strategische Kommunikation sind untrennbar miteinander verbunden ... Botschaften lassen sich leichter in Form von Geschichten vermitteln; die Kraft des "Geschichten Erzählens" mit einer menschlichen Dimension: Klare, prägnante und einfache Botschaften …

Mit dieser Strategie der Nachrichtensteuerung verzeichnen die transatlantisch ausgerichteten Kräfte in Medien und Politik große Erfolge bei der Manipulation der öffentlichen Meinung.

Die Kräfte des Friedens und der Ökologie haben die Aufgabe, angesichts des Gegenwindes in ihrer Gegenaufklärung nicht nachzulassen. Die militärische Sicherheitslogik darf nicht zu einem bitteren Ende führen.

Es geht stattdessen darum, eine Weltgemeinschaft der Kooperation aufzubauen, die gemeinsam die Zukunftsgefährdungen durch die ökologische Katastrophe abwendet. Dies muss die Priorität einer Weltinnenpolitik werden, die einst der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow einforderte.

Militär und Kriege erweisen sich nicht nur als größte Naturzerstörer, sondern sie sind auch zwingend zurückzudrängen, wenn die Menschheit überleben will. Der UNO-Generalsekretär U-Thant schrieb 19695 [19]:

… nach den Informationen, die mir als Generalsekretär der Vereinten Nationen zugehen, haben nach meiner Schätzung die Mitglieder dieses Gremiums noch etwa ein Jahrzehnt zur Verfügung, ihre alten Streitigkeiten zu vergessen und eine weltweite Zusammenarbeit zu beginnen, um das Wettrüsten zu stoppen, den menschlichen Lebensraum zu verbessern, die Bevölkerungsexplosion niedrig zu halten und den notwendigen Impuls zur Entwicklung zu geben.

Wenn eine solch weltweite Partnerschaft innerhalb der nächsten zehn Jahre nicht zustande kommt, so werden, fürchte ich, die erwähnten Probleme derartige Ausmaße erreicht haben, dass ihre Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6657341

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ukraine-scholz-vollzieht-die-sicherheitspolitische-wende-17837931.html
[2] https://www.focus.de/politik/deutschland/bundeswehr-sondervermoegen-bis-zu-seiner-rede-waren-habeck-und-baerbock-ueber-scholz-milliarden-plan-nicht-informiert_id_60921131.html
[3] https://www.bmvg.de/de/aktuelles/deutlich-aufgestockt-verteidigungshaushalt-5372564
[4] https://taz.de/Pazifismus-in-Zeiten-des-Krieges/!5837894/
[5] https://www.heise.de/tp/features/Todsichere-Sicherheitspolitik-6657341.html?view=fussnoten#f_1
[6] https://www.heise.de/tp/features/Todsichere-Sicherheitspolitik-6657341.html?view=fussnoten#f_2
[7] https://www.deutschlandfunk.de/presseschau-dlf-e4341a31-100.html
[8] https://www.global2000.at/karte-atomkraft-europa
[9] https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/jemen
[10] https://www.wz.de/politik/jemen-groesste-humanitaere-katastrophe-weltweit_aid-25128757
[11] https://www.focus.de/politik/ausland/655-000-tote-durch-kriegsfolgen-irak-studie_id_1757927.html
[12] https://www.nzz.ch/international/der-krieg-in-afghanistan-forderte-240000-tote-ld.1640684
[13] https://www.deutschlandfunk.de/us-praesident-biden-zur-ukraine-kampf-fuer-freiheit-und-demokratie-100.html
[14] https://www.heise.de/tp/features/Todsichere-Sicherheitspolitik-6657341.html?view=fussnoten#f_3
[15] https://www.heise.de/tp/features/Todsichere-Sicherheitspolitik-6657341.html?view=fussnoten#f_4
[16] https://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_16/LP02016_120216.pdf
[17] https://www.japcc.org/wp-content/uploads/JAPCC_Conf_Flyer_2015_web.pdf
[18] https://www.japcc.org/wp-content/uploads/Conf_Proceedings_2015_web.pdfS.20
[19] https://www.heise.de/tp/features/Todsichere-Sicherheitspolitik-6657341.html?view=fussnoten#f_5