Trägt George W. Bush Plastiktüten?

Warum es Bobos in Deutschland schon 1849 gegeben hat, sie aber nicht die neue Elite beschreiben

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David Brooks hat uns eine schöne These geschenkt. Nein, nicht über die Bobos, vor allem nicht über die vermeintliche deutsche Bobo-Elite, welche von gehobenen Frauenzeitschriften ebensogern herbeischrieben wurde wie von politischen Wochenmagazinen. Sondern vielmehr über jene Regenjacken von Firmen wie North Face und Jack Wolfskin, die mitunter teurer sind als ein Joop-Jackett, aber aussehen wie eine Plastiktüte. Man sieht Menschen sie selbst bei nur leicht bewölktem Himmel umhertragen. Dank Brooks gerade auf in Deutschland erschienenem Buch "Die Bobos“ wissen wir warum sie das tun: Die Träger wollen unangepasst sein wie der Held von Thoreaus "Walden“, der in der Wildnis sein höheres Selbst verwirklicht. Sie wollen aber zugleich auch ihren Reichtum zeigen - intelligent zeigen natürlich. Wie David Brooks so schön schreibt: "...es wird gerne gesehen, wenn man Hunderte von Dollars für Wanderschuhe ausgibt, als vulgär gilt hingegen, denselben Betrag für Lacklederschuhe auszugeben.“ Elite ist eine Stilfrage, sie definiert sich nicht mehr über die Produktionsbedingungen sondern über den Konsums. Bezeichnen wir also erstmal statt einer ganzen Elite einfach die Träger teuerer Plastiktüten als Bobos.

Das Wort steht für "bourgeoisie Bohemiens" und meint ein Establishment, das den Stil der Subkultur übernommen hat, übernimmt und prägt. Brooks liefert dafür bekannte Belege wie die beigen, alten Chinos von Steve Case und Bill Gates, die gern auch zu Aktionärsversammlungen getragen werden. Er liefert aber auch unvergessliche neue Beschreibungen, zum Beispiel jene des Städtchens Wayne, das immer schon Platz acht bei der Zahl der einflussreichen Familien im US-"Social Register“ einnahm. Viel hat sich in Wayne geändert. Es gibt heute zum Beispiel sechs Gourmet-Kaffeehäuser mit Namen wie "Gryphon“ oder "Café Procopio“. Es gibt kleine, schnuckelige Buchläden und einen Bäcker, der Spinat-Feta-Brot für umgerechnet einen knappen Zehner unter die Leute bringt.

Über all diesen amüsanten Beschreibungen sind bei der Rezeption in Deutschland zwei wesentliche Einschränkungen von Brooks Thesen übersehen worden: Es ist eine zutiefst amerikanische Beobachtung und lediglich die eines Momentes, der inzwischen Vergangenheit ist.

Schon die Dichotomie von Bourgeoisie und Boheme ist der amerikansichen Liebe zur Reduktion eines Gegenstandes auf zwei praktikable Gegensätze zurückzuführen. Allerdings beschreibt Brooks damit ebenso pointiert wie zutreffend die in den Vereinigten Staaten bis in die sechziger Jahre herrschende Gesellschaftsordnung: Die Elite bestand aus WASPs, den weißen angelsächsischen Protestanten der Ostküste, die ihre Kinder zwar auf Eliteuniversitäten schickten, aber von ihnen dort keine Leistungen erwarteten. Es war eine bildungsfeinliche, anti-intellektuelle Elite.

Aufnahme und Abschluss an Elite-Schulen waren durch die Familienzugehörigkeit gesichert. Das war schon im System der Punktvergabe bei Aufnahmeprüdungen kodiert: Einen saftigen und für die Aufnahme ausreichenden Punktezuschlag gab es, wenn der Vater dieselbe Universität besucht hatte. Erst Harvard-Präsident James Bryant Conant machte dem ein Ende: Er ekelte sich vor der Vorstellungen, Amerika sei zur Erbaristokratie verkommen und ließ neue Aufnahmetest von Henry Chauncey entwickeln. Ab 1960 kamen die mit dem Scholasic Aptitude Test (SAT) geprüften Studenten nicht nur aus einer viel breiteren sozialen Schicht, sie waren auch weit begabter. In ihrem Jahrgang hätten der druchschnittliche Absolventen von 1952 zum letzten Zehntel gehört.

Die Bürgerrechtsbewegungn in den sechziger Jahren hatte in den Vereinigten Staaten dieselbe Wirkung wie die Revolution in Harvard: Menschen konnten sich nicht mehr durch Konstrukte wie Familie, Rasse oder Religion vor dem Wettbewerb schützen. Es entstand ein freier Markt für intellektuelle Leistung, was natürlich Intelligenz und den äußerlichen Ausdruck von Intelligenz, also den Stil der Boheme zu einem Statussymbol machte.

In Deutschland bildete sich schon in den Städten des Mittelalters so etwas wie ein Bildungsbürgertum. Die industrielle Revolution im Einklang mit den neohumanistischen Vorstellungen Humboldts verknüpften die Wirtschaftskraft des Bürgertums mit seiner Hochschätzung der Bildung. In Heinrich Manns Roman "Der Untertan“ über die Zeit des Wilhelminismus findet sich ein Vertreter dieser Schicht: Wolfgang Buck. Dem Vater gehört die Papiermühle vor Ort, er ist ein reicher und gebildeter Märzrevolutionär. Ihnen gegenüber steht Diederich Heßling, Vertreter der neuen Elite: Ein feiger und dummer Kleinbürger, der durch seine Willfährigkeit und Kaisertreue in Burschenschaft, Armee und Politik wirtschaftliche Macht ähnlich jener der Bucks aufbaut, ja die Vertreter des Bildungsbürgertums letztlich sogar bezwingt. Eine ähnliche Entwicklung beschreibt Joseph Roth in "Das Spinnennetz“, worin der Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg Lohse einen sozialen Aufstieg innerhalb rechtsradikaler Bünde schafft.

Diese zwei Romane reichen schon, um zu erkennen, dass das amerikanische Verhältnis von Bildung, Elite und sozialer Revolution nicht auf Deutschland zu übertragen ist. Während die WASP-Elite der Vereinigten Staaten sich durch ihre Bildungsfeindschaft auszeichnete, fand in Deuschland eine soziale Revolution durch den Nationalsozialsimus statt, welche die alten Eliten der Junker und Militärs im Bunde mit dem aufstiegwilligen Kleibürgertum an die Macht brachte, während das Bildungsbürgertum seinen Einfluss verlor.

Die Vergangenheit Deutschland ist eine andere als jene der Vereinigten Staaten, und die Gegenwart ist es auch. Während alle US-Schüler die Primarstufe und Sekundarstufe I gemeinsam an einheitlichen Schulen absolvieren, werden in Deuschland bereits sehr früh die Bildungswege getrennt. Deshalb besteht in den Vereinigten Staaten eine hohe Bildungsmobilität, während in Deutschland die nachträgliche Entscheidung für einen höheren Bildungsweg nur schwer zu realisieren ist. Von einem freien Markt für Intelligenz kann in Deuschland nicht die Rede sein. Im Gegenteil, es gibt eine hochgradigie soziale Stratifizierung: 1989 besuchten 11 Prozent der Arbeiterkinder ein Gymnasium, bei Beamtenkindern waren es 58 Prozent. Seither werden diese Daten nicht mehr beim Mikrozensus erhoben. Wie auch immer: Eine Beschreibung der gegenwärtigen deutschen Elite fehlt, doch auch ohne sie kann man anhand der historischen und statistischen Fakten Brooks These als nicht übertragbar werten.

Und für die Vereinigten Staaten gilt sie auch längst nicht mehr. Viele Beobachtungen Brooks betreffen die Elite der sogenannten New Economy. Diese funktionierte wie die alte vor allem dank der Freiheit von jeder staatlichen Regulierung. Plötzlich wurde die in den Achtzigern verachtete Generation X zu ihrem Protagonisten. Time schrieb unter dem Titel "Great Xpectations“: "Die sogenannte Generation X erweist sich als voll von Menschen mit Nehmerqualitäten, die es einfach tun – auf ihre Art.“ Die von Xlern immer noch freie Machtelite ließ die Kinder gern gewähren – in der Wirtschaft. Sollten sie doch mit Start-Ups und dergleichen herumspielen, eine Wiedergeburt der Goldschürfer konnte der Wirtschaft kaum schaden.

Heute schrumpft die New Economy wirtschaftsturnusgemäß wieder und es wird deutlich, wer die Macht hat: An der Schnittstelle von Ökonomie und Politik in George W. Bushs Kabinett sitzen Vertreter der Old Economy: Donald Evans, Leiter des Wirtschaftsministeriums, kommt aus der Ölindustrie. Finanzminister Paul O’Neill war Leiter des Aluminiumkonzerns Alcoa, später managte er einen Papierhersteller. Stabschef im Weißen Haus ist Andy Card, ehemals Vertreter der Auto-Industrie in Washington. Eine Plastiktüte für 1000 Mark hat man sie noch nie tragen sehen. Vielleicht machen sie das auch nur bei Wanderungen im Regen.

David Brooks: Die Bobos. Der Lebensstil der neuen Elite. 294 Seiten. Ullstein Verlag. DM 39,90.-