"Traum des europäischen Hauses ist gescheitert"

Bundespräsident Steinmeier bei seiner Rede zum 8. Mai. Bild: bundespraesident.de

In den Reden zum 8. und 9. Mai kam vor allem eines zum Ausdruck: Derzeit gibt es keine Basis für eine gemeinsame Zukunft des Westens und Russlands

Das Gedenken zum Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 und am heutigen 9. Mai im postsowjetischen Raum stand in diesem Jahr im Zeichen des Krieges in der Ukraine. Sowohl westliche Politiker als auch Russlands Präsident Wladimir Putin haben versucht, die Bedeutung des Gedenkens gemäß ihrer Position zum Krieg umzudeuten.

Insofern ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zuzustimmen, wenn er am Sonntag bei seiner Rede zum Thema auf dem Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes von einem "Epochenbruch" sprach.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat bei seiner Rede am Sonntagabend vorrangig die "historische Verantwortung" Deutschlands bei der Unterstützung der Ukraine im Krieg mit Russland betont.

Die militärische Entwicklung im Ukraine-Krieg (19 Bilder)

Frontverlauf am 26. Februar 2022

"Aus der katastrophalen Geschichte unseres Landes zwischen 1933 und 1945 haben wir eine zentrale Lehre gezogen", so Scholz in seiner Ansprache, die in Radio und TV am 77. Jahrestag des Weltkriegskriegsendes in Europa am 8. Mai 1945 übertragen wurde.

Eine der zentralen Botschaft des Bundeskanzlers: "Nie wieder Krieg. Nie wieder Völkermord. Nie wieder Gewaltherrschaft." In der gegenwärtigen Lage könne dies nur bedeuten: "Wir verteidigen Recht und Freiheit - an der Seite der Angegriffenen. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen den Aggressor."

Scholz‘ Resümee: "Wir verteidigen Recht und Freiheit – an der Seite der Angegriffenen. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen den Aggressor."

Dazu nach Kräften beizutragen, bedeute heute "Nie wieder", so der SPD-Bundeskanzler, der damit indirekt auch die umstrittenen Waffenlieferungen in einem laufenden und eskalierenden Krieg rechtfertigte.

Darin, so Scholz, liege das Vermächtnis des 8. Mai.

Die drei Parteien der Regierungskoalition würden weiterhin die ukrainische Armee mit Waffen versorgen. Diese Entscheidung erstrecke sich "immer sorgfältig abwägend auch (auf) schweres Gerät", fügte er an: "Das setzen wir fort."

Hoffnungslose Nachricht des Bundespräsidenten

Telepolis dokumentierte die gesamte Rede des Bundeskanzlers, ebenso wie die Ansprache des russischen Präsidenten Wladimir Putin am heutigen Montag im Rahmen der traditionellen Militärparade zum "Tag des Sieges" auf dem Roten Platz.

Eine weitgehend negative Einschätzung zum Weltkriegsgedenken kam auch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er sprach angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine von einem "Epochenbruch", der das Verhältnis zu Moskau nachhaltig beeinflussen werde.

Steinmeier, der mit der Übernahme des Präsidialamtes sein SPD-Parteibuch abgab, für die Sozialdemokraten aber lange das Amt des Außenministers bekleidet hatte, erinnert daran, dass der 8. Mai über lange Zeit hinweg nicht nur ein Tag des Erinnerns und der Mahnung gewesen sei.

Sehr lange war der 8. Mai aber auch ein Tag der Hoffnung. Wer den Zweiten Weltkrieg überlebte, durfte die Hoffnung haben, dass der europäische Kontinent aus der Geschichte lernt, dass niemand mehr auf Krieg als Mittel der Politik setzt. Wer die Zeit des Kalten Krieges erlebte, der weiß um die Hoffnung, die mit der Schlussakte von Helsinki verbunden war, damals, 1975, als sich alle europäischen Staaten und auch die Sowjetunion zur Unverletzlichkeit der Grenzen bekannten und zum Verzicht auf Gewalt.

Generationen von Politikern haben dafür gearbeitet, dass "Nie wieder" auch "Nie wieder Krieg in Europa" heißt. Michail Gorbatschow hat uns eine Vision mit auf den Weg gegeben: das gemeinsame europäische Haus.

Aber heute, an diesem 8. Mai, ist der Traum des gemeinsamen europäischen Hauses gescheitert; ein Albtraum ist an seine Stelle getreten. Dieser 8. Mai ist ein Tag des Krieges.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Klingbeil: Russland-Passus im SPD-Programm überholt

Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang auch eine Wortmeldung des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil, der anlässlich der beiden Gedenktage eine neue Ostpolitik angekündigt hat. Im Interview mit der Tageszeitung Welt am Sonntag sagte er:

Wir haben uns zu stark auf Russland konzentriert. Künftig müssen wir viel stärker mit den osteuropäischen Staaten kooperieren.

Klingbeil nahm damit ausdrücklich Abstand von einem Satz im Grundsatzprogramm der SPD. Dort heißt es bislang:

Die strategische Partnerschaft mit Russland ist für Deutschland und die Europäische Union unverzichtbar. Die Öffnung Russlands sichert Frieden und Stabilität auf unserem Kontinent.

Dies stimme angesichts des Kriegsausbruchs nicht mehr, so Klingbeil, der eine Auseinandersetzung über die SPD-Ostpolitik in der Internationalen Kommission der SPD ankündigte.

Unklar scheint nach diesem 8. und 9. Mai, wie der Westen und Russland auch langfristig zu einer friedlichen Koexistenz finden können. Putin jedenfalls machte bei seiner Rede deutlich, dass er die Schuld für Eskalation und Krieg nicht bei sich sieht.

Russland habe trotz aller Meinungsverschiedenheiten in den internationalen Beziehungen "immer die Schaffung eines Systems gleicher und unteilbarer Sicherheit befürwortet, eines Systems, das für die gesamte Weltgemeinschaft von entscheidender Bedeutung ist", sagte der russische Präsident in seiner Rede.

Im vergangenen Dezember habe seine Regierung vorgeschlagen, einen Vertrag über kollektive Sicherheit abzuschließen. Russland forderte den Westen zu einem fairen Dialog auf, nach vernünftigen Kompromisslösungen zu suchen und die Interessen des anderen zu berücksichtigen. "Alles ist umsonst. Die Nato-Länder wollten uns nicht hören, was bedeutet, dass sie tatsächlich völlig andere Pläne hatten. Und wir haben es gesehen", so Putin.