Tröstende Verschwörungstheorien

Wenn Menschen die Kontrolle entgleitet, helfen ihnen Illusionen darüber hinweg

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Der Mensch ist darauf trainiert, Muster zu erkennen. Diese Fähigkeit hat ihm schon in der afrikanischen Savanne das Leben gerettet. Ein plötzliches Rascheln konnte die Ankunft eines Fressfeindes verkünden - das rechtzeitige Erkennen der charakteristischen Streifen auf dem Fell war da womöglich die Rettung. Muster suchen wir heute nicht mehr nur optisch. Wir versuchen in vielfältiger Weise, Eindrücke miteinander zu verknüpfen, die dahinter stehende Gemeinsamkeit zu erkennen. Und ganz besonders, wenn wir bedroht sind, wenn wir keine Kontrolle über das haben, was passiert, greifen wir offenbar auf diese Fähigkeit zurück. In solchen Momenten aber nicht immer erfolgreich - oft genug erkennt der Mensch dann Zusammenhänge, wo keine sind.

Im WissenschaftsmagazinScience berichten jetzt zwei US-Forscher, wie sie diesem Phänomen mit sechs psychologischen Experimenten auf den Grund gegangen sind. Welchem Zweck dienen ausufernde Verschwörungstheorien oder die Bilder, die wir manchmal im Nebel ausmachen? Sie befriedigen vor allem das tiefe Bedürfnis danach, Herr der Lage zu sein, und wenn das Gefühl auch nur eingebildet ist. Ein Unfall als Ergebnis eines blinden Zufalls macht uns mehr zu schaffen als ein Ereignis, dessen Ursache wir zu kennen meinen. Die Wissenschaftler haben deshalb 29 Studenten bewusst in eine Position der Machtlosigkeit gebracht - und ihre Tendenz gemessen, Muster im Nichts zu erkennen.

In Experiment 1 bekamen die Teilnehmer die Aufgabe, zusammenhängende Symbole zu erkennen. Allerdings bewertete der Computer die Lösungen rein nach dem Zufallsprinzip, es war völlig unmöglich, das dahinter stehende Konzept zu erkennen. Anschließend füllten die Teilnehmer einen speziellen Fragebogen aus, der ein Maß für das persönliche Bedürfnis nach Struktur liefert. Dem Computer ausgeliefert zu sein, verstärkte dieses Bedürfnis (nicht ganz überraschenderweise) deutlich. Wenn den Versuchspersonen in Experiment 2 dann statt des Fragebogens Bilder mit Zufallsrauschen vorgelegt wurden, erkannten sie darin mehr Strukturen als die Kontrollgruppe.

Im dritten Experiment mussten die Teilnehmer zunächst eine Situation erinnern und beschreiben, in der ihnen komplett die Kontrolle entglitten war. Anschließend legten ihnen die Forscher Szenarien mit übernatürlichen Begebenheiten vor - wie zum Beispiel jemand auf Holz klopfte und anschließend erfolgreich ein Projekt erledigte. Die Teilnehmer mussten dann erklären, wie wahrscheinlich ihnen eine Verbindung zwischen der übernatürlichen Begebenheit und dem Ergebnis erschien. Auch hier erhöhte der Kontrollverlust die Wahrscheinlichkeit, an das Übernatürliche zu glauben.

In Zeiten der Unsicherheit sahen die Teilnehmer mehr Korrelationen als sonst

Um zu demonstrieren, dass nicht die Bedrohung, sondern der Kontrollverlust ursächlich war, ließen die Psychologen in einem vierten Versuch die Teilnehmer besonders bedrohliche Situationen erinnern - eine Gruppe mit, eine andere ohne Kontrollverlust. Obwohl alle Versuchspersonen die Bedrohung beschrieben, stieg nur bei der Gruppe mit Kontrollverlust das Bedürfnis, an Übersinnliches zu glauben.

Den fünften Versuch siedelten die Wissenschaftler im Bereich der Aktienmärkte an. Die Probanden mussten in eine von zwei Firmen investieren, und zwar entweder bei stabilen oder bei instabilen (fiktiven) Marktkonditionen. Bei instabiler Börsenlage bewerteten die Testteilnehmer genau die Firma besonders schlecht, über die die wenigsten Informationen vorlagen, und das, obwohl das Verhältnis zwischen positiven und negativen Informationen bei beiden Unternehmen identisch war. In Zeiten der Unsicherheit sahen die Teilnehmer offenbar mehr Korrelationen als sonst.

Muss man sich also mit dieser Eigenschaft des Menschen abfinden? Nein, stellten die Forscher im sechsten Experiment fest. Hier gaben sie in einer Abwandlung von Versuch 4 einem Teil der Probanden die Möglichkeit, Selbstbestätigung zu erfahren. Tatsächlich immunisierte diese Möglichkeit die betreffenden Teilnehmer vor der Tendenz, Muster im Nichts zu erkennen. Das Selbstvertrauen zu verstärken, wirkt zum Glauben an Verschwörungstheorien also kontraproduktiv.

Die Forscher machen allerdings darauf aufmerksam, dass das von ihnen untersuchte Phänomen durchaus positive Seiten haben könnte. Wer mehr eingebildete Strukturen erkennt, sieht womöglich auch mehr echte Strukturen. Er hätte sich das Mehr an echt positiven Erkenntnissen also mit einem Mehr an falsch positiven erkauft.