"Tschu, tschu Kolibri, sing die Melodie"

Der alte deutsche Schlager für den exotischen Vogel lag gar nicht so falsch: Kolibris waren 30 Millionen Jahre vor ihrer ersten Entdeckung in Amerika bereits in der Alten Welt heimisch, bevor sie dort ausstarben.

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Kolibris in Europa? Die einzigen Kolibris, die man heute in Europa fliegen sieht, stammen aus der Neuen Welt. Ganz anders vor 30 Millionen Jahren. Damals lebten sie in Deutschland und anderen Teilen Europas. Gerald Mayr von der Ornithologie im Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt/Main berichtet darüber in der neuesten Ausgabe von Science.

Der ungewöhnliche und zugleich beweisende Fund stammt aus der Grube Unterfeld in Frauenweiler südlich von Wiesloch in Baden-Württemberg. Durch einen Zufall fanden sich in der Grube die erste Tonplatte mit Knochenstücken außerhalb Nord- und Südamerikas, die das "Design" eines frühen Kolibris wiedergeben. "Eurotrochilus inexpectatus" hat Gerald Mayr seine Beobachtung genannt, weil es sich um den ersten Europäer aus der Gruppe der Trochilidae (Kolibri) handelt, der für die Forscher unerwartet (= inexpectatus) vor 30-34 Millionen Jahren lebte. Die frühesten Funde in Amerika sind erst 1 Million Jahre alt.

Ein Skelett verrät die Herkunft

Dieses europäische Kolibriskelett mißt 4 cm vom Kopf bis zum Schwanz. Es hat einen langen, spitzen Schnabel und kräftige Flügel, mit denen das freie Schweben beziehungsweise der Schwirrflug ermöglicht wurde. Dazu passen das große überdimensionale Brustbein und die verkürzten Oberarm- und Unterarmknochen. Folglich gibt es drei entscheidende Kennzeichen, die das Skelett und die modernen Kolibris verbinden: die kleine Körpergestalt, das Design der Schultern und oberen Armknochen und der lange Schnabel.

Die Abdrücke auf einer Tonplatte aus dem Tertiär verraten, warum der Bezug von Eurotrochilus inexpectatus zu den Kolibris bewiesen ist (Bild: Science).

Die modernen Kolibris reichen von ihrer kleinsten Art, der Bienenelfe (Mellisuga hellenae), die samt Schnabel und Schwanzfedern nur 6 cm mißt, bis zum größten Vogel, dem 25 cm langen Riesenkolibri (Patagona gigas). In der Regel handelt es sich jedoch um kleine Vögel. So entspricht das gefundene, 30 Millionen Jahre alte Skelett am ehesten der Rostamazilie (Amazilla rutilia) mit einer Gesamtlänge von 11 cm.

Ein Fund so lang wie ein durchschnittlicher Kolibri.

Die etwa 330 Kolibriarten besiedeln heute ausschließlich den amerikanischen Doppelkontinent von Alaska bis Feuerland, wobei der eindrucksvolle Verbreitungsschwerpunkt in Äquatornähe liegt. Allein in Equador werden ca. 130 Arten gezählt.

Kolibris werden traditionell in zwei Unterfamilien eingeteilt, die Schattenkolibris (Phaethornithinae) und die eigentlichen Kolibris (Trochilinae). Die Schattenkolibris sind durch düstere, nichtirisierende Gefiederfarben, die überwiegende Tendenz, Insekten zu verspeisen, sowie ihre kegelförmigen Hängenester gekennzeichnet. Demgegenüber lassen sich die Kolibris vom Stamm der Trochilinae aufgrund des metallisch schimmernden Gefieders, durch Ernährung von Blütennektar und den Bau von den auf Ästen aufsitzenden Napfnestern abgrenzen. Zu den am häufigsten vorkommenden Kolibris (117 Gattungen mit ca. 300 Arten) gehören die artenreichen Gattungen wie Amazilia, Chlorostilbon und Hylocharis.

Vor 30 Millionen Jahren war das Skelett nur graduell vom modernen Vogel verschieden.

Aufgrund der Lebensweise sind zwei Funktionssysteme besonders ausgebildet: der Flugapparat und die Schnabel-Zungen-Einheit. Die Flugtechnik der Kolibris stellt besondere Anforderungen an die Konstruktionen des Skeletts und der Muskulatur. Immerhin besitzen sie eine hohe Flügelschlagfrequenz von etwa 80 Schlägen pro Sekunde im Vorwärtsflug. Beim Balzflug sind unglaubliche 200 Schläge pro Sekunde möglich, wobei eine Spitzengeschwindigkeit von 95 km/h erreicht wird. Das charakteristische Kennzeichen der Kolibris ist aber der Schwirrflug, der die Nektaraufnahme aus freihängenden Blüten ermöglicht: der Vogel "steht" dabei vor der Blüte. Und dazu kommt die in der Vogelwelt einzigartige Fähigkeit zum Rückwärtsfliegen.

Dementsprechend weist der Skelettaufbau ein stark vergrößertes, gekieltes Brustbein, ein vergrößertes Rabenschnabelbein (Coracoideum) und acht Rippen (sonst meist sechs) auf: alles Stabilisatoren für die Muskulatur. Relativ gesehen sind die Brust- und Flugmuskulatur am kräftigsten ausgebildet. Die Flügel sind durch eine starke Verkürzung der Armknochen bei einer gleichzeitigen Verlängerung der Hand- und Fingerknochen und damit auch der äußeren Handschwingen gekennzeichnet.

Die grafische Darstellung ermöglicht eine Analyse der Knochenelemente (man: Mandibula, max: Maxillaris, cra: Cranium, st: Sternum, sca: Scapula, Co: Coracoideum, hu. Humerus, ul: Ulna, Bild: Science)

Ferner spielt der enge und lange Schnabel eine wichtige Rolle: Er dient zum Aufsaugen des Nektars. So wird die Zunge zunächst aus dem Schnabel herausgeführt und der Nektar passiv durch Kapillarwirkung in einen Hohlraum im Vorderteil der Zunge gesogen. Beim Zurückziehen preßt die Zunge gegen die Schnabelinnenwand und entleert den Nektar aus dem Hohlraum. Dieser Vorgang kann sich mehrfach innerhalb eine Sekunde wiederholen.

Weder das Gefieder, noch die "modernen" Funktionen der Kolibris lassen sich aus dem Skelettbefund ableiten. Kein Zweifel besteht aber an dem langen Schnabel, dem Körperbau und dem Schwirrflug. "Der Flügelschlag macht eine Acht, und der Rest des Skeletts ist wirklich Kolibri-ähnlich" betont Gerald Mayr.

Waren nur ökologische Gründe für das Aussterben verantwortlich?

Weshalb sind Kolibris in Europa (einschließlich Asien und Afrika) verschwunden? Gerald Mayr vermutet ökologische Gründe, etwa die Konkurrenz zu anderen Vögeln oder Insekten. "Sie können sich über eine ständiges Hin und Her verändert haben. Während die Kolibris verschwanden, haben beispielsweise die Bienen und andere Insekten deren Funktion als Pollenträger übernommen", erklärt Gerald Mayr.

Die lange Blütezeit und die reichliche Produktion dünnflüssigen Nektars sind Merkmale von Blüten, die von Vögeln bestäubt werden. Tatsächlich erhalten die hängenden Blüten der Kanarenglocke mitunter Besuch vom Zilpzalp. Daneben betätigen sich aber auch zahlreiche Insekten als Bestäuber. In Wahrheit, so liest man immer wieder, fehlt den Glockenblumengewächsen (Campanulacea) und manchen anderen Pflanzen der Kolibri.

Die Rostamazilia (Amazilla rutilia) trinkt aus der Pflanze Ipomoea neei (Convolvulaceae) in Mexico und überträgt gleichzeitig die Pollen. (Bild: J.Ferdinand)

Interessanterweise wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Pflanzen-Kolibri-Gemeinschaft in Equador untersucht und festgestellt, dass zeitliche und räumliche Gründe bestimmend sind. Von seltenen Ausnahmen abgesehen dürfte die fehlende Saisonalität ausschlaggebend sein. In den Regenwäldern gibt es aufgrund der sehr verschiedenen Pflanzen eine fast ununterbrochenen ganzjährigen Blühperiode. Andererseits müssen lange Kälteperioden den Lebensraum dieser Tiere einengen. Damit können Änderungen des klimatischen Umfeldes für das Aussterben der Kolibris in der Alten Welt von beherrschender Bedeutung gewesen sein.