Türkei-Deal: Das Visaspiel

Warum die Visafreiheit das einzig Gute am Deal mit der Türkei wäre. Ein Kommentar

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Seit Jahren fordert die Türkei Visafreiheit für ihre Bürger in den Schengen-Raum. Im Rahmen des Flüchtlingsdeals macht Ankara weiter Druck, aber Deutschland mauert. Dabei ist die Aufhebung der Restriktionen in der Reisefreiheit längst überfällig.

Einen wesentlichen Teil der letzten sechs Jahre habe ich in der Türkei verbracht. Die Einreise war nie ein Problem. Deutsche Pässe sind fast überall auf der Welt gern gesehen. Zuletzt begleitete der Zollbeamte am Atatürk-Flughafen in Istanbul den Stempel mit einem freundlichen Lächeln und den Worten: "Willkommen in der Türkei!"

Dass ein deutscher Zollbeamter einen einreisenden Türken mit "Almanya'ya hoş geldiniz!" begrüßt ist unvorstellbar. Die Herren schauen betont grimmig aus der Wäsche, machen sich wichtig, winken Deutsche kommentarlos durch und lassen sich beim Taxieren der türkischen Pässe und Visa Zeit. Viel Zeit.

Das in meinen Reisepass gestempelte Touristenvisum ist für drei Monate gültig. Und eine Aufenthaltsgenehmigung für einen weit längeren Zeitraum erhielt ich ebenfalls völlig problemlos. Für den Antrag braucht man nicht viel: einen Mietvertrag, Passkopie des Vermieters, Nachweis einer Krankenversicherung (bekommt man aufgrund des Deutsch-Türkischen Sozialversicherungsabkommens binnen Minuten) sowie den Nachweis, dass man pro Aufenthaltsmonat über mindestens 500 Dollar verfügt - wobei Letzteres nicht so genau genommen wird.

Die Türkei fordert seit Jahren von Deutschland eine vergleichbar entspannte Regelung. Vergeblich. Wer nach Deutschland möchte, muss im Konsulat vorstellig werden, dumme Fragen über sich ergehen lassen und im Zweifelsfall seine kompletten privaten und beruflichen Verhältnisse offenlegen und dokumentieren. Eine Garantie auf ein Visum ist die Tortur allerdings nicht.

Als ein Kollege von mir vor ein paar Jahren für eine Lesung nach Deutschland reisen wollte, wurde er erstmal zurück nach Hause geschickt. Er solle nochmal wiederkommen und seine Bücher mitbringen. Es könne ja jeder behaupten, Schriftsteller zu sein. Mal eben Google zu befragen, scheint für die Damen und Herren zuviel verlangt - oder eine kompetenzüberschreitende Aufgabe. Man weiß es nicht. Dann sollte eine Hotelreservierung beigebracht werden, wofür auch immer. Und schlussendlich wurde ein Visum für exakt einen Tag genehmigt. Anreise am Tag der Lesung, Rückreise am Folgetag. Längere Visa zu bekommen ist möglich - aber noch komplizierter. Und erniedrigender.

Als der Kollege eine Weile später für Auftritte in Frankreich im französischen Konsulat vorstellig wurde, zeigte sich: Es geht auch anders. Seitdem besorgt er sich via Frankreich ein Schengen-Visum (auch für mehrere Monate) und macht, wenn er Termine in Deutschland hat, einen Umweg über Paris. Das sei auch all jenen in der Türkei empfohlen, die Familie in Deutschland besuchen möchten. Es gibt zwar keine Gewähr, dass es immer funktioniert, aber es ist einen Versuch wert - und besser, als sich mit deutschen Beamten rumschlagen zu müssen. Die mag nämlich niemand. Auch in Deutschland nicht. Alternativ kann man sich an Dienstleister wenden, die das Antragsverfahren managen - aber wirklich einfacher wird es dadurch nicht. Nur der direkte Ansprechpartner ist ein anderer.

Visa-Freiheit würden den Menschen, nicht dem türkischen Staat oder Erdogan nützen

Das Simpelste wäre es selbstredend, türkischen Staatsbürgern Visafreiheit für den Schengenraum zu ermöglichen. Und es gibt auch keine stichhaltigen Argumente, die dagegen sprechen. Aber ausgerechnet bei dieser Forderung seitens der Türkei im Rahmen des Flüchtlingsdeals stellt Deutschland sich quer - auch im EU-Parlament. Warum eigentlich?

Es ist der einzige Verhandlungspunkt, von dem nicht der türkische Staat und Despot Erdogan profitieren würde, sondern reale Menschen. Es ist ein Musterbeispiel dafür, dass es in der Politik um Letztere nicht geht. Sondern um Egoismen und Machtspielchen. Und die beherrscht Erdogan perfekt. Es war vielleicht der größte Fehler der Großen Koalition seit ihrem Bestehen, diesem Mann den kleinen Finger zu reichen. Aus den völlig falschen Gründen geschah es ohnehin.

72 von der EU festgelegte Kriterien muss die Türkei erfüllen, damit die Visafreiheit genehmigt wird. Diese Kriterien gelten nicht nur für die Türkei, sondern für alle. Vergangene Woche empfahl die EU-Kommission, die Visumspflicht aufzuheben - immerhin wird darüber schon seit Jahren verhandelt, und inzwischen erfüllt die Türkei fast alle Kriterien. Der wesentliche noch offene Streitpunkt sind die Antiterrorgesetze, mit deren Hilfe nicht nur kurdische Städte bombardiert, sondern auch Journalisten und Akademiker inhaftiert werden.

Als Erdogan wenige Tage vor dem letzten Flüchtlingsgipfel mit der EU die Redaktion der Tageszeitung Zaman von der Polizei stürmen ließ, schien das in der Bundesregierung aber niemanden zu interessieren. Es gab keine nennenswerte oder ernstzunehmende Kritik - ebensowenig bei der Verhaftung von Cumhurriyet-Chefredakteur Can Dündar und dessen Kollegen Erdem Gül.

Die neue Partnerschaft zwischen Berlin und Ankara ist ein Pakt mit dem Teufel. Die CDU ließ sich innenpolitisch von der AfD in die Ecke treibe. Statt selbstbewusst eine vernünftige Politik weiterzuverfolgen knickte man vor den Rechten ein, auch vor den Rechten aus Bayern und Horst Seehofers zutiefst albernen Klageandrohungen. Man zahlte der Türkei Unsummen, damit sie die Weiterreise syrischer Flüchtlinge nach Deutschland und in den Schengen-Raum verhindert. Man macht schmutzige Geschäfte mit einem Land, das an der Grenze auf wehrlose Menschen schießen lässt. Man predigt nach innen eine "Willkommenskultur" und tritt sie nach außen mit Füßen - weil eine neue Rechtspartei Wählerstimmen zieht und weil die Pegida-Pöbler und Asylheimanzünder ja auch potentielle Wähler sind. Die Große Koalition demontiert sich und ihre Ansprüche selbst - und spielt dem rechten Rand einmal mehr in die Hände, indem sie ihm nachgibt.

Zugleich festigt sie die Machtbasis von Recep Tayyip Erdogan, der sichtbar austestet, wie weit er gehen kann. Und man lässt ihn gewähren. Ein gefährliches Spiel.