Türkei: Die Zerschlagung der demokratischen Zivilgesellschaft

"Die Regierung hat uns verboten, weil wir mit den von der Ausgangssperre betroffenen Familien solidarisch waren. Wir werden weiter solidarisch sein / unsere Solidarität fortsetzen." Bild: Rojava Dernegi

Thomas Seibert, Menschenrechtsreferent bei der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international über die Verbote ihrer Partnerorganisationen

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Das deutsche Aktionsprogramm für verfolgte Journalisten, Wissenschaftler und Kulturschaffende sollte nun auch auf die zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgeweitet werden. Hunderte von Vereinen und NGOs wurden letzte Woche in der Türkei verboten. Darunter auch zwei Partnerorganisationen von medico international.

Mit diesen Verboten wird der letzte Rest von demokratischen Strukturen in der Türkei ausgelöscht. Die Leidtragenden sind Frauen, Kinder, religiöse Minderheiten, sowie tausende kurdische Familien, die durch die Zerstörung ihrer Städte ihr Hab und Gut verloren haben.

Überwiegend kurdische und türkische fortschrittliche Vereine betroffen

Es ist der größte Schlag gegen die Zivilgesellschaft. Das türkische Innenministerium verbot letzte Woche 370 Vereine wegen angeblicher Verbindungen zum Terrorismus, darunter Menschenrechtsstiftungen, Frauenvereine, Kinderschutzbünde. 8 der verbotenen Vereine sollen dem IS nahestehen, mehr als die Hälfte betrifft die kurdische und türkische oppositionelle Zivilgesellschaft. Alle Vereine wurden von der Polizei gestürmt, die Räumlichkeiten verwüstet, Bilder und Wände mit Beleidigungen beschmiert und dutzende Menschen festgenommen.

Von Schließung betroffen sind zum Beispiel auch die MEYA-DER-Vereine in Batman und Diyarbakir. MEYA-DER sind Hinterbliebenen-Organisationen von Getöteten und Gefallenen im wieder ausgebrochenen Bürgerkrieg. Sie organisieren vor allem die psychologische Betreuung der Hinterbliebenen. Betroffen sind auch kurdische Kindervereine sowie die Anwaltskammervereine (CHD) von fortschrittlichen demokratischen Anwälten. Die Verbote gehen quer durch alle gesellschaftlichen Bereiche. Hier nur einige der wichtigsten Vereine, die seit dem 11. November verboten und geschlossen wurden: In Istanbul wurden der Anwaltsverein (ÖHD), der Kadiköy Friedensverein‚ der Flüchtlingsverein GÖÇ-DER, ein Frauenverein, die Volksvereine Sarıgazi Halklar Derneği und Demokratik Halklar Derneği, sowie das Kulturzentrum Med Kültür Merkezi verboten.

In Bursa wurde ebenfalls ein Frauenverein, in Ankara der Anwaltsverein (ÖHD) geschlossen, in Mersin das Mezopotamische Kulturzentrum (MKM), in Adana der Verein der Demokratischen Studierenden der Universität Çukurova.

In Amed (Diyarbakır) wurde die größte Frauenorganisation, die Zentrale des Vereins der freien Frauen (KJA), der Mesopotamische Anwaltsverein(MHD), der Kurdische Schriftsteller Verein (KYD), der Verein zur Unterstützung von Flüchtlingen in den nicht-staatlichen Flüchtlingscamps (GÖÇ-DER), der Solidaritäts- und Unterstützungsverein für Menschen die Angehörige verloren haben(MEYA-DER), der Hilfsverein Sarmaşık, der obdachlose kurdische Familien mit Lebensmittel versorgte, das Dicle Firat Kultur Zentrum und der Rojava-Hilfsverein, der die Arbeit der deutschen NGO medico international in den kurdischen Gebieten der Türkei umsetzt, verboten.

Eine ausführliche Liste der geschlossenen Vereine ist auf der türkischen Internetzeitung gazeteduvar zu finden.

Telepolis sprach mit Dr. Thomas Seibert, Menschenrechtsreferent bei der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international über die Verbote ihrer Partnerorganisationen