Türkei: Schauprozesse gegen Regimekritiker

Die ersten großen Prozesse haben begonnen: Gegen Journalisten ebenso wie gegen Militärs. Alle gelten der Anklage zufolge als Putschisten

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Am 7. Juni wurde in der Wiener Nationalbibliothek der Bruno-Kreisky-Preis für Menschenrechte verliehen. Doch die Preisträgerin, die türkische Autorin und Journalistin Asli Erdogan, fehlte. Gegen sie und acht weitere ehemalige Mitarbeiter der verbotenen kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem läuft in Istanbul ein Prozess wegen "Terrorpropaganda". Aufgrund einer Ausreisesperre durfte Erdogan, die 2016 mehrere Monate in Untersuchungshaft saß, nicht nach Österreich kommen.

Asli Erdogan habe sich "aktiv und vorbehaltslos für die Durchsetzung der Menschenrechte eingesetzt", heißt es in der Begründung zur Preisverleihung. Unter dem Titel "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch" ist unlängst im Knaus Verlag München eine Sammlung ihrer Essays erschienen, in denen sie unter anderem ihre Erfahrungen in der Nacht des Putschversuches vom 15. Juli 2016 sowie das Massaker an kurdischen Zivilisten in Cizre durch die türkische Armee im Jahr zuvor thematisiert. Bei ihrer Festnahme im Sommer 2016 habe die Polizei ihre Bibliothek durchwühlt und sechs Bücher zur kurdischen Geschichte als "Beweismaterial" mitgenommen, erzählte sie unlängst dem New Yorker.

Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslänglich für die international renommierte Autorin, die mehrere Jahre in Brasilien und der Schweiz gelebt hat. Zum Prozesstermin am 22. Juni wurden die Auflagen allerdings gelockert: Erdogan und die ebenfalls angeklagte Linguistin Necmiye Alpay dürfen nun offiziell wieder reisen. Es heißt aber, es gebe Probleme mit den Reisepässen, diese müssten erst neu ausgestellt werden. Ob Erdogan das Land nun tatsächlich verlassen kann, ist unklar. Der Prozess soll Ende Oktober fortgesetzt werden.

Wenige Tage zuvor, am 19. Juni, wurde außerdem der Prozess gegen siebzehn Journalisten eröffnet, denen Beteiligung am Putschversuch vorgeworfen wird. Unter ihnen sind auch die Brüder Ahmet und Mehmet Altan. Ähnlich wie Asli Erdogan sind beide prominente Akteure der türkischen Kultur- und Medienlandschaft und genießen weltweites Ansehen.

Die von Ahmet Altan gegründete Tageszeitung Taraf wurde im Zuge der Notstandsdekrete verboten. Die Vorwürfe sind ähnlich absurd und substanzlos wie bei Asli Erdogan. Wie schon beim Prozess gegen den ehemaligen Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar, der inzwischen in Berlin lebt, begründet die Staatsanwaltschaft ihre Vorwürfe mit Zitaten aus Artikeln und Büchern der Angeklagten. Altan, der wie auch sein Kollege Ahmet Sik als Kritiker der Gülen-Bewegung gilt, soll nun selbst Unterstützer der Bewegung sein, die von der türkischen Regierung für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird.

In seiner Verteidigungsrede vor Gericht, die der Tagesspiegel dokumentiert, übt Altan scharfe Kritik an Richter und Anklägern. Die Massenverhaftungen seit vergangenem Sommer bezeichnet er demnach als "Massaker des Rechts" und sagt weiter: "Was wirft mir die Staatsanwaltschaft vor? Abgesehen von einigen Zeitungsartikeln, die ich geschrieben habe, und einem einzigen Fernsehauftritt, basiert der Putschvorwurf gegen mich auf folgendem Satz: Ich würde Leute kennen, die angeblich Leute kennen, die angeblich den Putsch vom 15. Juli 2016 begangen haben."

Altan demontiert mit dem Plädoyer die Anklage und offenbart die innere Struktur der Schauprozesse, mit denen Kritiker der Regierung von Recep Tayyip Erdogan eingeschüchtert werden sollen. Anstelle von Beweisen basiere die Anklage auf "demagogischen Lügen" und verweist darauf, dass die Artikel, auf die sie sich bezieht, bereits vor fünf Jahren erschienen seien.

Zur Zeit befinden sich in der Türkei mehr als 160 Journalisten in Haft - mehr als in jedem anderen Land der Welt. Unter ihnen sind auch die deutschen Staatsbürger Deniz Yücel und Mesale Tolu. Der französische Journalist Mathias Depardon war Anfang Juni auf Druck des französischen Präsidenten Macron freigelassen worden. Kollegen und Journalistenverbände hatten danach ihre Kritik, die Bundesregierung setze sich nicht genug für Yücel und Tolu ein, intensiviert.

Ebenfalls begonnen hat in einem eigens hierfür nahe Ankara gebauten Gerichtssaal der Mammutprozess gegen 221 Angeklagte, denen vorgeworfen wird, den Putschversuch organisiert und realisiert zu haben. Der ehemalige Luftwaffenchef Akin Öztürk gilt als Drahtzieher. Doch Öztürk bestreitet das vehement - wie auch alle anderen Angeklagten.

Während schon im vergangenen Jahr zahlreiche junge Rekruten, die unter anderem auf der Bosporusbrücke in Istanbul eingesetzt waren, gesagt hatten, man habe sie zu einer Übung beordert, sprachen inzwischen auch weitere der Angeklagten davon, dass sie nicht gewusst haben wollen, an einem Putsch beteiligt gewesen zu sein. Eine Nähe zur Gülen-Bewegung weisen viele ebenfalls von sich. Bislang scheint es, als gehe es auch in dieser Verhandlung keineswegs um Aufklärung - sondern eher darum, das Narrativ der AKP zu stützen. Das allerdings könnte nach hinten losgehen, wenn sich herausstellt, dass die Argumentation der Anklage auf wackeligen Füßen steht.