Türkei: Zerbricht die AKP?

AKP-Mitgründer Ali Babacan verlässt die Partei, Gerichte stellen sich gegen Erdogan

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Nach der Niederlage bei der Neuwahl in Istanbul ist die Stimmung schlecht in der türkischen Regierungspartei AKP. Schon länger rumort es mal mehr mal weniger offen nicht nur an der Basis, sondern auch unter langjährigen hochrangigen Parteisoldaten. Sie sehen sich mit einem Präsidenten konfrontiert, der die Erfolge der letzten Jahrzehnte zunichte zu machen droht und wenden sich langsam, aber sicher von ihm ab.

Schon vor Jahren erzählten Aussteiger in Interviews, wie sich Recep Tayyip Erdogan nur noch von Jasagern umgibt und parteiinterne Kritiker kaltstellt. Die AKP wird zum Spiegel der Verhältnisse im Land - einem Land, das nach Verfassungsreform und gnadenloser Verfolgung von Oppositionellen ganz auf die Person des Präsidenten zugeschnitten ist.

Und theoretisch hätte Erdogan sich seiner Sache relativ sicher sein können. Die nächsten Wahlen finden offiziell erst im Jahr 2023 statt, dem Jahr des hundertsten Republikjubiläums. Und schon heute ist Erdogans Konterfei in der Öffentlichkeit ähnlich präsent wie das des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk. Dass dessen Partei, die CHP, nun wieder das Bürgermeisteramt von Istanbul übernommen hat, ist die größte Niederlage für Erdogan, seit er 1994 selbst dorthin gewählt wurde und seitdem nur einen Trend kannte: aufwärts.

Desolate Wirtschaftslage

Doch die repressive Politik der letzten Jahre hat nicht nur dem internationalen Ansehen der Türkei geschadet und Erdogans Ruf als Reformer, den er sich im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der EU erarbeitet hatte, zerstört, sondern auch die türkische Wirtschaft in eine desolate Lage gebracht.

Dass Erdogan nun auch noch den Chef der Notenbank gefeuert hat, macht die Lage keineswegs besser - im Gegenteil: Anleger, Investoren und internationale Unternehmen dürfte der radikale Schritt zusätzlich verschrecken. Gut möglich, dass der ohnehin schwachen türkischen Lira eine weitere Talfahrt bevorsteht.

Vielleicht war es dieser Tropfen, der für Ali Babacan das Fass zum Überlaufen brachte. Der Politiker, der in Ankara und den USA studiert hat, gehört zu den Gründungsmitgliedern der AKP. Er war Wirtschafts- und Außenminister. Und er hat in den vergangenen Monaten mehr als einmal deutlich gemacht, wie sehr ihn Erdogans Kurs ärgert.

Die Reihen zusammenzuhalten, wird schwieriger

Nun macht er ernst: Er ist aus der AKP ausgetreten. Seinen Plänen, eine neue Partei zu gründen, dürfte jetzt nichts mehr im Weg stehen, zumal er mit Ex-Präsident Abdullah Gül auf einen mächtigen Unterstützer zählen kann. Auch Gül hatte sich längst zurückgezogen und immer wieder öffentlich Kritik an Erdogan geübt ebenso wie Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Auch er hat eine Parteineugründung angekündigt.

Ob er ein eigenes Projekt starten oder sich Babacan und Gül anschließen wird, ist noch offen. Alle drei können aber darauf zählen, dass sich ihnen viele frustrierte Noch- und Ex-Mitglieder der AKP anschließen werden.

Die Gefahr, dass die AKP zerbricht, ist real und greifbar. Es ist fraglich, ob es Erdogan gelingen kann, die verbleibenden Reihen zusammenzuhalten und erneut auf Erfolgskurs zu bringen, wenn ihm solch mächtige einstige Mitstreiter die Staatsführung streitig machen.

Am Ende könnte es einmal mehr zu vorgezogenen Neuwahlen kommen - bei denen Erdogan dann denkbar schlechte Karten hätte. Babacan stichelte, er wolle "zum parlamentarischen System zurückkehren" - womit er dem Präsidenten vorwirft, aus der Türkei eine präsidiale Autokratie gemacht zu haben. In einem Kommentar für den WDR sieht der im deutschen Exil lebende Journalist Can Dündar bereits den "Herbst des Patriarchen" angebrochen.

Gerichtsurteile nicht auf der Linie Erdogans

Auch an einer anderen Front droht Erdogan Ärger. Unmittelbar nach der Wahl in Istanbul erklärte das türkische Verfassungsgericht die Inhaftierung des deutschen Journalisten Deniz Yücel für unrechtmäßig und sprach ihm eine Entschädigung für rund ein Jahr Haft zu. Nun meutert auch das Oberste Berufungsgericht. Es hob die Haftstrafe des prominenten Journalisten Mehmet Altan ebenso auf wie das Lebenslang-Urteil gegen dessen Bruder, den Schriftsteller Ahmet Altan sowie die Anwältin Nazli Ilicak.

Die Gerichte, die zuletzt gänzlich auf Erdogans Linie gewesen waren, scheinen auszutesten, wie angeschlagen der Autokrat in Ankara wirklich ist. Für die rund 70.000 aus politischen Gründen inhaftierten Personen sowie die rund 100.000 aus ähnlichen Gründen Angeklagten, ist das zumindest ein Hoffnungsschimmer. Denn die Urteile könnten sich als Präzedenzfälle auch auf ihre Verfahren auswirken - vorausgesetzt, dass weitere Richter sich anschließen und dem Präsidenten den Gehorsam verweigern.

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Vom sinkenden Schiff abspringen

Ein Grund zum Aufatmen ist all das aber noch nicht. Denn selbst wenn die AKP-Abweichler mit einer neuen Partei Erfolg haben und Erdogans Regime beenden sollten, bedeutet das nicht, dass in der Türkei wieder demokratische Verhältnisse einkehren. Auch ein neuer Präsident könnte versuchen, die neue Verfassung als Machtabsicherung zu nutzen, anstatt einen neuen Reformprozess einzuleiten.

Diejenigen, die heute gegen Erdogan aufbegehren, haben teils mehr als fünfundzwanzig Jahre lang mit ihm kooperiert und seine Linie unterstützt. Man darf davon ausgehen, dass sie mehrheitlich ein ähnliches Politikverständnis pflegen - zumindest sind sie bislang nicht durch nennenswerten Einsatz für demokratische Werte aufgefallen. Es dürfte eher so sein, dass sie die Gelegenheit nutzen und vom sinkenden Schiff springen, in der Hoffnung, in Zukunft Erdogans Platz einnehmen zu können.

Und das Potential, dass ihnen das gelingt, ist enorm.

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