Turbulenter Beginn von Bulgariens EU-Ratspräsidentschaft

Proteste wie hier in Sofia gegen die Regierung. Bild: F. Stier

Zwei spektakuläre Mordfälle, Streit über die vermeintliche Propagierung des "Dritten Geschlechts" und Demonstrationen gegen die Regierung

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Europa zu Gast in Bulgarien - und alles möge zum Besten bestellt sein; diese hoffnungsfrohe Erwartung hegten viele Bulgaren an die erste Präsidentschaft ihres Landes beim Rat der Europäischen Union (EU). Das Balkanland hat den EU-Ratsvorsitz seit Jahresbeginn inne, bis Anfang Juli 2018 Österreich übernimmt. Ministerpräsident Boiko Borissov sieht in ihm die Chance, sein Land vom schlechten Image des "ärmsten und korruptesten EU-Lands" zu befreien und als nützliches EU-Mitglied zu profilieren, das die krisengeschüttelte europäische Staatengemeinschaft auf einen positiven Entwicklungspfad führt. Entsprechend ambitioniert lauten seine erklärten Prioritäten: "Zukunft für Europa und seine jungen Leute", "Sicherheit und Stabilität", "Europäische Integration der Westbalkanländer" und "Digitalisierung".

Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Zwei spektakuläre Mordfälle in der ersten Kalenderwoche des Jahres, Streit in der konservativ-nationalistischen Koalitionsregierung um die vermeintliche Propagierung des "Dritten Geschlechts" durch die Istanbuler Konvention gegen Gewalt gegen Frauen und schließlich tausende Demonstranten in mehreren Städten des Landes, die "Ostavka, Ostavka" (Rücktritt) skandieren und "Mafia, Mafia". Bulgariens erste Woche seiner EU-Ratspräsidentschaft verlief nach einem Szenario, wie es sich Borissovs ärgste Feinde kaum hätten perfider ausmalen können.

Noch in der Silvesternacht löschte ein kaltblütiger Killer in der Balkanstadt Novi Iskar in der Nähe der bulgarischen Hauptstadt Sofia eine sechsköpfige Familie samt deutschem Schäferhund aus. Verdächtig schnell überführten die Ermittlungsbehörden den 56-jährigen Sexualstraftäter Rossen Angelov "zweifelsfrei" der Tat aus "Eifersucht". Nach mehrtägiger Hatz fanden sie den zum "Waldmenschen" erklärten Angelov "selbstgetötet".

Ob der Fall damit tatsächlich aufgeklärt ist oder nicht nur als gelöst abgehakt werden soll, bevor sich am Abend des 11. Januar 2018 die europäischen Gäste im Nationaltheater Ivan Vasov in Sofia zur feierlichen Eröffnungszeremonie der EU-Ratspräsidentschaft einfinden? Zumindest ergaben die kriminalistischen Ermittlungen zahlreiche Ungereimtheiten. So bestritten Experten, dass die als Beweismittel für Angelovs Schuld behauptete DNA-Analyse in der Kürze der Zeit überhaupt erstellt werden kann.

Die öffentliche Erregung über eines der grausamsten Verbrechen von Bulgariens jüngster Vergangenheit hatte sich noch gar nicht legen können, da streckten am Morgen des 8. Januar 2018 Schüsse den 49-jährige Unternehmer Petar Hristov auf offener Straße in Sofia nieder. Der als "Chef von Veliko Tarnovo" geltende Hristov, Herr über ein Konglomerat aus achtzig Firmen, steht Borissovs Regierungspartei Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens (GERB) nahe.

Kaum Fortschritte bei der Bekämpfung von Korruption und Organisierter Kriminalität

"Einigkeit macht stark", diese über dem Portal von Bulgariens Volksversammlung in Stein gemeißelte Maxime ist auch das Motto der bulgarischen EU-Ratspräsidentschaft. Nicht nur die aktuellen Kriminalfälle lassen den Sinnspruch fragwürdig erscheinen. Bereits zuvor hatte Regierungschef Borissov mit seiner Bitte an die oppositionelle Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) auf Granit gebissen, sie möge im nationalen Interesse für das erste Halbjahr 2018 einer Art Burgfrieden zustimmen, um das Heimatland vor seinen europäischen Gästen nicht bloßzustellen.

Parlamentsgebäude in Sofia. Bild: Лорд Бъмбъри/CC BY-SA-4.0

Stattdessen brachte die BSP zusammen mit der Partei der bulgarischen Türken Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) für den 17. Januar 2018 ein Misstrauensvotum gegen die Koalition ins Parlament ein. Die Regierung aus GERB und dem nationalistischen Parteienbündnis Vereinigte Patrioten (VP) versage im Kampf gegen die Korruption, lautet ihre Begründung. Der von den Sozialisten ins Amt gehobene Staatspräsident Rumen Radev hat zudem sein Veto gegen das von der Regierungsmehrheit verabschiedete neue Anti-Korruptionsgesetz eingelegt.

Der Mord an Petar Hristov könnte Bulgariens europäischen Partnern ins Bewusstsein rufen, dass von rund einhundertfünfzig sogenannten öffentlichen Auftragsmorden in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren fast keine zweifelsfrei aufgeklärt sind. Auch deswegen hat die Europäische Kommission Bulgarien nach seinem EU-Beitritt zum Jahr 2007 unter besondere Beobachtung gestellt.

Seitdem haben die regelmäßigen EU-Evaluierungsberichte zum Bereich "Inneres" aber keine wesentlichen Fortschritte beim Kampf gegen Korruption und Organisiertes Verbrechen festgestellt. Beim Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International rangiert das Balkanland unter 176 Staaten dauerhaft am schlechtesten von allen EU-Mitgliedern, liegt aktuell mit Rang 75 sechs Plätze hinter Griechenland und acht hinter Rumänien. Auch bei der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen hat Bulgarien traditionell die Rote Laterne aller EU-Länder inne und kommt auf Platz 109 zwischen Gabun und Paraguay.

Noch rechtzeitig vor dem Antritt seines EU-Ratsvorsitzes, hat die GERB/VP-Parlamentsmehrheit kurz vor Weihnachten ein neues Anti-Korruptionsgesetz verabschiedet. Da sich die mit Korruptionsprävention und -sanktion befassten staatlichen Institutionen in den vergangenen Jahren als wirkungslos erwiesen haben, sieht das neue Gesetz ihre Zusammenführung in einem einzigen Anti-Korruptionsorgan vor. Die Gesetzesinitiatoren erhoffen sich davon eine effektivere, schnellere und gerechtere institutionelle Ordnung im Kampf gegen Korruption und für den Entzug unrechtmäßig erworbenen Eigentums.

Kritische Beobachter sehen in dem neuen Anti-Korruptionsgesetz aber keinen Fortschritt. Sie bemängeln vor allem, dass es keine Möglichkeit anonymer Korruptionsanzeigen vorsieht. "Wer wird schon einen Korruptionsverdacht signalisieren, wenn er dazu seine vollständigen Kontaktdaten preisgeben muss und sich damit möglicherweise ernsthafte Schwierigkeiten einhandelt", gibt der Journalist Nikolay Staykov zu Bedenken. Er hat in einer Art Selbsthilfe mit Gleichgesinnten und finanzieller Unterstützung der Stiftung "America for Bulgaria" (AfB) einen "Antikorruptions-Fonds" (AF) gegründet, über dessen Webportal Korruptionshinweise auch anonym übermittelt werden können. AF-Mitarbeiter recherchieren diese nach und übergeben gegebenenfalls gewonnene Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft. "Wir haben niemanden anderes, dem wir unsere Hinweise übergeben können", deutet Staykov aber sein Misstrauen gegen die staatliche Anklage an.

Gespaltene Gesellschaft

Wie gespalten die bulgarische Gesellschaft politisch ist, zeigt sich nicht nur in der Diskussion um die richtigen Strategie zur Erhöhung der Rechtssicherheit im Land. Auch in der öffentlichen Auseinandersetzung um das Dilemma von Ökonomie und Ökologie sind die Fronten verhärtet, ist wenig zu spüren von der stärkenden Kraft der Einigkeit.

Alle fünf in der Bulgarischen Volksversammlung vertretenen Parteien GERB, BSP, DPS, VP und die populistische Volja (Willen) können auf die eine oder andere Weise dem oligarchischen Erbe des politischen Totalitarismus zugerechnet werden. Das kleine, aber aktive Häuflein der für demokratische Werte streitenden Bürgerrechtler verfügt über keine parlamentarische Vertretung und ist allein auf die Aktionsmöglichkeiten der außerparlamentarischen Opposition angewiesen.

Zwei- bis dreitausend zumeist jüngere Menschen zogen am Abend des 4. Januar 2018 über Sofias Boulevard Vitoscha und protestierten gegen die kurz nach Weihnachten getroffene Entscheidung der Regierung, dem Skiliftbetreiber von Bankso im Piringebirge die Ausweitung seiner Liftanlagen zu erlauben. Aufgrund seiner einzigartigen Flora und Fauna gehört der Nationalpark Pirin zum Weltnaturerbe.

Seit Jahren kämpfen Umweltschützer dafür, ihn vor dem Schicksal der bulgarischen Schwarzmeerküste zu bewahren, die zum großen Teil mit hässlichen Betonklötzen verbaut ist. Viele Einheimische von Bansko drängen aber auf den Bau einer zweiten Kabinengondel zur Entwicklung des Skitourismus'. Sie wissen die Mehrheit der bulgarischen Medien auf ihrer Seite.

Bulgariens traditionsreichste Tageszeitung Trud (Arbeit) diffamiert die Öko-Aktivisten regelmäßig als vom Ausland bezahlte Söldner, die zugunsten der Alpenrepubliken den bulgarischen Wintertourismus sabotieren. "Wegen Schweizer Interessen spielt sich eine Bande als Ökologen auf und kreischt auf den Straßen", schreibt etwa Trud-Herausgeber Petar Blaskov.

EU-Integration der Westbalkanländer

Regierungschef Borissov muss befürchten, die schockierenden Kriminalfälle der vergangenen Tage, der parlamentarische Streit um das Anti-Korruptionsgesetz und die Demonstrationen für den Schutz des Piringebirges könnten die Hauptpriorität seiner EU-Ratspräsidentschaft überschatten. Er will sich in den kommenden sechs Monaten vor allem für die Beschleunigung der EU-Integration der Westbalkanländer einsetzen. Er hat sein außenpolitisches Profil bereits im vergangenen Jahr darauf ausgerichtet. Präsentierte er sich in seinen beiden ersten Amtszeiten vor allem als großzügiger Landesvater bei der Einweihung von Infrastrukturprojekten, so entwickelte Borissov III zuletzt eine ausgeprägte Reisediplomatie in Südosteuropa.

Mit seinem mazedonischen Amtskollegen Zoran Zaev unterzeichnete Borissov im August 2017 ein lange überfälliges Nachbarschaftsabkommen. Danach beschwor er bei Gipfeltreffen in Varna, Thessaloniki und Belgrad die Staats- und Regierungschefs von Serbien und Griechenland, historische Animositäten hinter sich zu lassen, um die EU-Integration der Balkanhalbinsel voranzutreiben.

Konferenzsaal des Nationalen Kulturpalasts (NDK) in Sofia. Bild: F. Stier

Und zuletzt versprach er dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayir Erdogan bei einem Besuch in Istanbul, zwischen der Türkei und der EU zu vermitteln. Die EU-Außenbeauftragte Federica Morghini hat Borissov Unterstützung für seine Mission signalisiert: Das Jahr 2018 werde entscheidend werden für die EU-Integration der Westbalkanländer, erklärte sie zum Jahresbeginn.

Über dreihundert Veranstaltungen sind im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft geplant, viele davon in Brüssel und Luxemburg, wichtige aber auch im neu hergerichteten Konferenzsaal des Nationalen Kulturpalasts (NDK) in Sofia. In ihm wird Mitte Mai 2018 ein Gipfeltreffen der EU mit den Westbalkanländern stattfinden.

Wie viele seiner Vorgänger dürfte Bulgarien aber zum Abschluss seiner EU-Ratspräsidentschaft im Sommer 2018 die ernüchternde Bilanz ziehen, dass der Vorsitz beim Rat der Europäischen Union eher protokollarische Pflichten zur Organisation des politischen Geschehens der EU mit sich bringt als die Chance zur Umsetzung erklärter Prioritäten. Sollten nicht hausgemachte Probleme wie Korruption und Kriminalität Bulgariens gute Vorsätze überschatten, so dürften dies europäische Megaprobleme wie Brexit, Polen und Katalonien tun. Es wird sich zeigen, ob es den Bulgaren gelingen wird, im ersten Halbjahr 2018 eine größere und positivere Beachtung durch ihre europäischen Partner zu finden, als dies im bisherigen guten Jahrzehnt ihrer EU-Mitgliedschaft der Fall war.