US-Kriegsmaschine: Viele wussten es, nur er hat widersprochen

Daniel Ellsberg (1931-2023). Bild: Christopher Michel, CC BY 2.0

Zum Tod von Daniel Ellsberg: Seit 1971 warnte der Whistleblower vor den Gefahren des Militarismus. Wie Medien und Establishment seine Botschaft zu blockieren versuchten.

Mit dem Tod von Daniel Ellsberg am Freitag im Alter von 92 Jahren hat die Welt einen Menschen verloren, der durch seine Empathie und seine Entschlossenheit bestach. Ellsbergs Ruhm als Whistleblower geht auf den 23. Juni 1971 zurück. An diesem Tag, zehn Tage nach der Veröffentlichung der Pentagon Papers, die er Journalisten zur Verfügung gestellt hatte, trat er in den CBS Evening News auf und stellte die Mentalität des Militarismus offen in Frage.

Ellsberg sollte Recht behalten, als er sagte, er glaube nicht, dass es in den 7.000 Seiten der streng geheimen Dokumente auch nur eine Zeile gebe, "die eine Schätzung der wahrscheinlichen Auswirkungen unserer Politik auf die Gesamtzahl der Opfer unter den Vietnamesen oder auf die zu erwartenden Flüchtlinge enthält", ebenso wenig wie die ökologischen Folgen der Entlaubung. Und er fügte hinzu:

Die Dokumente spiegeln nur die internen Bedenken unserer Beamten wider. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass sich unsere Offiziellen nie Gedanken über die Auswirkungen unserer Politik auf die Vietnamesen gemacht haben.

Gegenüber dem Moderator Walter Cronkite betonte Ellsberg: "Ich glaube aber auch nicht, dass wir uns von Regierungsbeamten vorschreiben lassen sollten, was die Öffentlichkeit über die Qualität und die Art und Weise, wie sie ihre Arbeit machen, wissen sollte".

Die Überwachung des Kriegsverlaufs war für Ellsberg als Insider zu einer immer größeren Belastung geworden. Viele andere Regierungsbeamte und hochrangige Berater mit Sicherheitsfreigaben hatten ebenfalls Zugang zu Dokumenten, die zeigten, wie verlogen vier Regierungen handelten, als die USA sich immer mehr in Vietnam einmischten und dann ein regelrechtes Gemetzel veranstalteten.

Im Gegensatz zu den anderen aber brach er mit seiner Rolle und gab die Pentagon Papers an die Medien weiter. In dem CBS-Interview sagte er: "Tatsache ist, dass Geheimnisse von Männern in der Regierung bewahrt werden können, die im Laufe ihrer Karriere gelernt haben, den Mund zu halten. Ich war einer von ihnen."

Ellsbergs Mund – und sein Herz – verschlossen sich von da an nie wieder. In den 52 Jahren nach der Veröffentlichung der Pentagon-Papiere widmete er sich ganz dem Reden, Schreiben und Protestieren.

Als der Vietnamkrieg endlich vorbei war, kehrte Ellsberg vor allem zu seinem alten Anliegen zurück: dem Kampf gegen den Atomkrieg.

In diesem Frühjahr, drei Monate nach der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs, machte Ellsberg das Beste aus jedem Tag, verbrachte Zeit mit seinen Lieben und sprach immer wieder über die nur allzu realen Gefahren der nuklearen Vernichtung.

Er hinterließ zwei brillante, monumentale Bücher, die in diesem Jahrhundert veröffentlicht wurden - "Secrets: A Memoir of Vietnam and the Pentagon Papers" (2002) und "The Doomsday Machine: Confessions of a Nuclear War Planner" (2017).

Sie werfen ein grelles und erschreckendes Licht auf die Muster offizieller Lügen und Geheimhaltung in militärischen Angelegenheiten und auf das letztlich vorhersehbare Ergebnis - den nuklearen Holocaust.

Ständige Warnung vor nuklearer Gefahr

Ellsberg war fest entschlossen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um diesen Massenmord zu verhindern. Wie er in einem Interview anlässlich des Erscheinens von "The Doomsday Machine" sagte, sei die wissenschaftliche Forschung zu dem Schluss gekommen, dass ein Atomkrieg "viele Millionen Tonnen Ruß und schwarzen Rauch aus den brennenden Städten in die Stratosphäre schleudern" würde. Ellsberg weiter:

Der Rauch würde sich nicht in der Stratosphäre verflüchtigen. Er würde sehr schnell um den Globus wandern, das Sonnenlicht um bis zu 70 Prozent reduzieren, Temperaturen wie in der Kleinen Eiszeit verursachen, weltweit Ernten vernichten und fast alle Menschen auf der Erde verhungern lassen. Es würde wahrscheinlich nicht zum Aussterben führen. Wir sind so anpassungsfähig. Vielleicht würde ein Prozent unserer heutigen Bevölkerung von 7,4 Milliarden Menschen überleben, aber 98 oder 99 Prozent nicht.

In den zahlreichen Interviews, die Ellsberg in den letzten Monaten gab, ging es ihm nie um sein eigenes Schicksal, sondern um das Schicksal der Menschen auf der Erde.

Er wusste, dass die Bewunderung für mutige Whistleblower oft überbordend ist, dass es aber kaum Nachahmer gibt. Ellsberg hörte oft, dass er inspirierend sei, aber er war immer viel mehr daran interessiert, was die Menschen in einer Welt des Krieges und angesichts einer unvorstellbaren nuklearen Katastrophe wirklich zum Handeln inspirieren könnte.

In den letzten Jahrzehnten seines Lebens versuchten die Mainstream-Medien und das politische Establishment, Ellsberg in die Ära des Vietnamkriegs zu verbannen.

In Wirklichkeit hat Daniel "Dan" Ellsberg viele von uns immer wieder dazu inspiriert, mehr als nur inspiriert zu sein. Wir liebten ihn nicht nur für das, was er getan hatte, sondern auch für das, was er weiterhin tat, für das, was er war, leuchtend und beständig. Die Kraft seines leuchtenden Beispiels spornte uns an, besser zu werden, als wir waren.

Auch in einer Reihe von Kurzporträts der Filmemacherin Judith Ehrlich, die unter anderem den Dokumentarfilm "The Most Dangerous Man in America: Daniel Ellsberg and the Pentagon Papers" gedreht hat, spricht Ellsberg von der wachsenden Gefahr einer globalen Apokalypse. Die Strategen des Atomkrieges hätten "Pläne entworfen, um Milliarden von Menschen zu töten" und Vorbereitungen getroffen, die einer "Verschwörung zum Massenmord" gleichkämen.

"Kann die Menschheit das Atomzeitalter überleben?", fragte er und fügte hinzu: "Wir wissen es nicht. Aber ich habe beschlossen, so zu tun, als hätten wir eine Chance."

Norman Solomon ist der nationale Direktor von RootsAction.org und geschäftsführender Direktor des Institute for Public Accuracy. Dieser Text erschien zuerst auf commondreams.org