Überschwemmung in Russland: Entlädt sich der Volkszorn auch gegen Putin?

Rettungskräfte fahren durch überflutetes Wohngebiet in der Stadt Orsk, Russland,

Rettungskräfte fahren durch überflutetes Wohngebiet in der Stadt Orsk, Russland, 6. April 2024. Bild: Screenshot Emercon, russisches Ministerium für Katastrophenschutz

Nach Flutkatastrophe im Ural protestieren Hunderte gegen Krisenmanagement und rufen nach Putin. Kreml versucht, zu beruhigen. Könnte sich die Wut ausweiten?

Die Orenburg-Region gehört normalerweise nicht zu den Nachrichten-Hotspots in Russland. Hier an der Grenze zu Kasachstan ist nicht das allmählich auslaufende Uralgebirge, sondern der gleichnamige Fluss die Kontinentalgrenze zwischen Europa und Asien.

Sirenenalarm zur Evakuierung in einer Großstadt

Aufgeschreckt wurden die Bewohner der Gebietshauptstadt Orenburg, mit knapp 550.000 Einwohnern etwa so groß wie Nürnberg, am gestrigen Vormittag durch Sirenenalarm, der eine beginnende Evakuierung flussnaher Stadtviertel einleiten sollte.

Überraschend kam dieser für die Einheimischen nicht. Bereits seit einigen Tagen, als flussaufwärts in der Großstadt Orsk ein Hochwasserdamm mehrfach gebrochen war, verfolgten die Orenburger aufmerksam regionale Medien und beobachteten den allmählichen Anstieg des Uralspiegels auf einen Rekordwert für die letzten 1980-Jahre.

Rund 10.550 Häuser in der Region liegen nun in der zentralen Überschwemmungszone, 6.500 Menschen wurden bereits evakuiert, vier Menschen starben. Von den regionalen Behörden wurde bereits kurz nach dem Dammbruch der Ausnahmezustand beschlossen, was auch ein generelles Verbot von Demonstrationen und Kundgebungen einschloss.

Dennoch versammelten sich schon am 8. April mehrere Hundert Bewohner von Orsk zu einer damit illegalen Kundgebung, von der sie auch das harte russische Antiprotest-Regime nicht abhalten konnte.

Wut trieb Betroffene trotz Verbot auf die Straße

Zu groß war die aufgestaute Wut der Menschen vor allem auf die regionale Führung. Noch am 4. April hatte der Bürgermeister von Orsk erklärt, der Damm werde halten. Nur einen Tag später brach er ein und setzte die Altstadt der Stadt komplett unter Wasser.

Der Unmut der Flutopfer war groß und so versammelten sie sich trotz aller persönlicher Gefahr bei einer Kundgebung. Auch nach der Aufforderung der Polizei, sich zu zerstreuen, blieben sie wütend vor Ort und riefen "Putin hilf uns" und in Richtung der regionalen Behörde "Schande".

Die anwesenden Polizisten wurden gefragt, warum sie sich am Ort der Kundgebung und nicht im Hochwassergebiet zur Verhinderung von Plünderungen befinden. Weiterhin forderte die Menge eine echte Untersuchung der Ursache des Dammbruchs.

Misstrauen gegenüber den Behörden

Nachdem der Bürgermeister erfolglos versucht hatte, die Bürger zu beruhigen, empfing schließlich der Gouverneur eine Delegation von ihnen in Orenburg. Diese bestand darauf, dass das Treffen gefilmt wurde, damit eventuell zur Beruhigung gegebene Zusagen auch dokumentiert würden. Hier zeigt sich das tiefe Misstrauen, dass auch diese an sich unpolitischen Russen gegenüber den eigenen Behörden haben.

Als Kompensation verkündeten die Behörden eine Entschädigung von umgerechnet 200 Euro pro Person an die Flutopfer, 500 Euro bei wesentlichem Eigentumsverlust und 1.000 Euro bei vollständigem Eigentumsverlust. Es ist zweifelhaft, ob Zahlungen in dieser Höhe angesichts des Geschehens zu einer echten Beruhigung der Bevölkerung ausreichend sind.

Beruhigung ist eine Maxime Moskaus

Doch eine solche Beruhigung ist das oberste Ziel der russischen Behörden, bei denen die Alarmglocken in der aktuellen Kriegszeit selten so laut schrillen, wie bei nicht genehmigten Straßenprotesten, die man sonst mit aller Macht der Ordnungsbehörden unterbindet. So schaltete sich auch Putin recht schnell persönlich in die Flutbekämpfung ein.

Der mächtigen Präsidialverwaltung ist bewusst, dass es nun vom Eindruck der Bürger vom Krisenmanagement abhängt, ob sich der Unmut über die örtlichen Lokalfürsten auch auf die Regierung im fernen Moskau ausweitet. Putin kann sich nun sowohl als "guter Zar" inszenieren, der das Versagen der Lokalbehörden kritisiert und schnelle, überregionale Hilfe vor Ort verspricht. Aber er kann auch durch zu geringe Reaktion Unmut auf sich ziehen.

Putin informiert sich bisher von Moskau aus

Bisher ist von einer deutlichen Reaktion oder gar Kritik an Regionalbehörden noch nichts zu spüren. Kremlsprecher Peskow bestritt naheliegende Reisepläne seines Chefs in das Überschwemmungsgebiet. Dieser sprach von Moskau aus mit dem örtlichen Gouverneur und entsandte lediglich seinen Minister für Notfallsituationen, Alexander Kurenkow, nach Orenburg.

Es ist zweifelhaft, ob in der aktuellen Situation kriegsbedingter Nervosität offene Kritik an den örtlichen Behörden oder eine ernsthafte Ursachensuche beim Dammbruch folgen wird. Der gebrochene Damm wurde erst 2010 gebaut und 2014 in Betrieb genommen, mit der Ankündigung, "das Problem der Gefahr bei Überschwemmungen für immer zu lösen", wie der damalige Bürgermeister von Orsk stolz verkündete.

Auszuschließen ist jedoch nicht, dass auf stille Weise der eine oder andere Provinzfürst im Überschwemmungsgebiet seinen Posten verlieren wird.

Konstruktions- oder Betriebsfehler als Ursache?

Offen mit den Ursachen des Dammbruchs beschäftigen sich aktuell angesichts der gefährlichen Lage der Presse im Land bisher nur oppositionelle russische Exilmedien. So fand die Onlinezeitung The Insider einen Fachmann für Wasserbau, der unter dem Siegel der Anonymität verriet, dass das schnell steigende Hochwasser Folge einer für Russland ungewöhnlich schnellen Schneeschmelze während massiver Regenfälle war.

Er kritisiert aber, dass die Behörden die Besiedlung von Gebieten zuließen, die für den Fall solcher Wettersituationen als Überschwemmungsraum benötigt würden. Weiterhin sei der Dammbruch nicht durch Überflutung, sondern durch eine Versickerung und Unterspülung des Damms geschehen, was auf einen Konstruktions- oder Betriebsfehler hinweise.

Findet eine solch offene Auseinandersetzung mit den Flutursachen in Russland selbst nicht statt, verstärkt sie auch über die Orenburg-Region hinaus das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber ihrem Staatsapparat. Ob der Kreml genügend Weitsicht besitzt, diesen Umstand zu erkennen, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen.


Redaktionelle Anmerkung: In einer früheren Version hieß es "Staudamm". Tatsächlich handelt es sich um einen Hochwasserdamm. Die Stelle wurde abgeändert.