Ukraine-Krieg: Zur Buße an die Front

Die russische Mobilisierung (hier Wehrminister Schoigu während der ersten Welle 2022) lief von Anfang an suboptimal. Foto: Verteidigungsministerium der Russischen Föderation / Savitskiy Vadim / CC BY 4.0

Wichtige russische Funktionäre beteiligen sich zumindest scheinbar am Feldzug. Das soll die Moral der Bevölkerung stärken. Neuerdings wollen korrupte Politiker damit der Verurteilung entgehen.

Als im September 2022 in Russland die erste Mobilisierungswelle an die Front im Donbass erfolgte, standen die Mächtigen aus dem Kreml-Umfeld unter verstärkter Beobachtung. Kriegsgegner nutzten die geringe Beteiligung der Söhne mächtiger Funktionäre, um den Unmut der breiten Bevölkerung zu fördern.

Phase 1: Kritik an Doppelmoral der Spitze

So fand ein Meme große Verbreitung, dass die erste Reihe der Zuhörer bei einer Putin-Rede zeigt. Darunter gab es nur eine Erläuterung, wo sich die Söhne und Töchter der Gezeigten gerade aufhalten – durchgehend im Ausland und meist im "unfreundlichen" Westen. So leben selbst die Söhne des russischen TV-Chefpropagandisten Wladimir Solowjow (34 und 21 Jahre) im sonst eher russophoben London.

Legendär wurde auch der Scheinanruf einer vorgeblichen Mobilisierungsbehörde beim Sohn des Kreml-Sprechers Dmitri Peskow, er möge sich doch bitte wegen eines möglichen Kriegseinsatzes dort einfinden. Programmgemäß antwortete der Politiker-Sprössling, man wisse wohl nicht, mit wem man gerade rede. Selbst hochrangige Funktionäre, wie Sergej Melikow, Republikchef von Dagestan, kritisierten öffentlich solch doppelzüngiges Verhalten, wenn auch ohne Namensnennung.

Phase 2: Demonstratives Engagement

Den Mächtigen in Russland war die Gefahr, die von solchen Berichten für die Kampfmoral der breiten Bevölkerung drohte, bewusst. Prompt tauchten in regierungsnahen Medien zahlreiche Berichte mit Fotos von Personen aus der Spitzenpolitik oder deren Familienmitgliedern beim freiwilligen Fronteinsatz auf. Selbst Parlamentarier meldeten sich freiwillig.

Wie immer setzte der tschetschenische Regionalfürst Ramsan Kadyrow allem die Krone auf, als er seine minderjährigen Teenager-Söhne im Alter von 14 und 16 Jahren mit Waffen im besetzten Mariupol posieren ließ.

Auch diese Aktion lief nicht wirklich gut. Dankbar nahmen westliche Medien die Information der oppositionellen russischen Blogger von VKCh-OGPU auf, dass die Politprominenz nicht etwa in normalen Fronttruppen Dienst tue.

Vielmehr gebe es eine spezielle Einheit namens "Kaskade", Dutzende Kilometer von der Front entfernt. Sie sei beschäftigt mit bequemeren Dingen wie Drohnensteuerung. Dort seien die prominenten Kriegsdienstleister zu finden und auch entsprechende Fotos entstanden.

Phase 3: Angeklagte Polit-Funktionäre melden sich freiwillig

Noch recht neu ist der Trend, dass sich prominente Beschuldigte aus dem Politikbereich in laufenden Strafsachen plötzlich entschließen, freiwillig in den Donbass zu gehen. Die Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta nennt drei Beispiele führender Funktionäre, die wegen Machtmissbrauchs, Millionenbetrugs, Bestechung oder Unterschlagung von Staatseigentum angeklagt wurden und nun den Weg in den Krieg wählen.

Sie wollten ihr offizielles Ansehen wiederherstellen. So tauchte kürzlich auch der wegen Betrugs gesuchte Bürgermeister von Bolschoi, Kamen Rustam Abushaev, wieder auf.

Inspiriert werden sie wohl von der Rekrutierung von PMC-Wagner-Söldnern in russischen Haftanstalten im vergangenen Jahr. Der rechtliche Rahmen ist jedoch ein anderer: Damals waren verurteilte Strafgefangene im extrem gefährlichen Fronteinsatz und wurden dafür vom Kreml begnadigt.

Die neuen prominenten Freiwilligen wollen sich jedoch durch einen Kriegseinsatz gleich vor der Verurteilung rehabilitieren, wofür es im russischen Strafrecht, wie die Nesawisimaja Gaseta feststellt, gar keine rechtliche Grundlage gibt.

Das Blatt zitiert jedoch offizielle Aussagen, nach denen Bürger die Möglichkeit bekommen sollten, ihre "Schuld gegenüber der Gesellschaft" durch freiwilligen Militärdienst im "Sondereinsatz", wie der Ukraine-Krieg in Russland noch immer offiziell genannt wird, abzudienen.

Die Zeitung sieht die militärischen Bußgänge dennoch kritisch und glaubt nicht, dass Kriegseinsätze Verbrecher von neuen Taten abhalten. Angesichts des knappen Militärpersonals und der Notwendigkeit prominenter Frontkämpfer stehen die Chancen für die Angeklagten aber vielleicht gar nicht zu schlecht, eine Genehmigung für einen Bußgang per Kriegseinsatz zu bekommen.