Ultimativ artige Arterhaltung

Russian Ark: Alexander Sokurows Konterrevolution

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Alexander Sokurows Filmwerk Russian Ark, eine Gemeinschaftsproduktion West- und Osteuropas zum Jubiläum von Petersburg, wird als Renommierstück auch des ARTE-Senders und als kühnes Filmprojekt (Die Zeit) gelobt. Vor allem geht es um den Regie-Zauber Sokurows und das beeindruckende Durchhaltevermögen des Steady-Cam-Operators Tilmann Büttner (Lola rennt). Zusammen mit Hunderten von Musikern, Mimen und Statisten haben sie ein Filmwerk in nur zwei Tagen Hauptproduktionszeit zustande gebracht, in dem das Auge des Beobachters in 96 schnittfreien Minuten, in kompletter Kontinuität sich an den endlosen Foyers, leeren Gängen und plötzlich überfüllten Sälen des Winterpalastes und der Eremitage weidet. Doch zu welchem filmästhetischen Zweck?

Der Film führt uns im oft mühsamen Tempo in den labyrinthischen Bau des Petersburger Palais zu einer unbestimmten Zeit, in der in jedem Flügel, jedem Zimmer, jeder Etage alles gleichermaßen möglich erscheint. So sehen wir Alexander den Großen, der sich als Bühnendarsteller im eng bestückten Unterboden einer Theatermaschinerie zur Zeit der Aufklärung entpuppt. Sogleich wird er seinen glorreichen Aufstieg in einer Händel-Generalprobe, vor den Augen der Zarin, Katharina der Großen, erleben. Diese eilt lachend, im Anschluss an die Einstimmung der höfischen Claqueure, dem soeben aufgeführten Stück gefälligst Applaus zu spenden, aus hochnotpeinlicher Bedrängnis auf die Toilette zum fürstlichen Pinkeln. Doch nicht immer erscheint alles so prall und opulent ineinander verwickelt wie in diesem audiovisuellen Geburtskanal mit seinen zahllosen Prospekten und Ebenen.

Theater, überall nichts als Theater und Repräsentation. In einer weiträumigen feudalen Residenz, in der russische Kultur zunächst vor allem die Orientierung an mitteleuropäischer Architektur, Malerei, Literatur und Musik, im Kraftfeld von Frankreich, Preußen und Österreich meinte. Die Entfaltung einer malerisch photogenen Pracht von Zimmerfluchten, Archiven und Spielwiesen einer in sich abgezirkelten Hochkultur, mehr sozial zweckdienlich outriert als künstlerisch verspielt, wie sie damals nur auf der Basis einer horrenden Ausbeutung stabilisieren und heute nur noch als geisterhaftes Schattenbild einer Nostalgie wieder beleben lässt, deren aktueller kulturpolitischer Zweck mehr als fraglich ist.

Ein virtueller Guide Michelin

Die vermeintliche Exklusivität der kontinuierlichen Kamerafahrt treibt einen anachronistisch nörgelnden Zeitzeugen wider Willen vor sich her, den französischen Marquis de Custine, der mit seinen despektierlichen Nuancierungen über die Unarten des russischen Hofes die Kamera und den aus dem Off mystische Kommentare murmelnden Autorenfilmer Sokurow eher aufhält als bereichert. Der Marquis wirkt wie der Prototyp einer schlecht funktionierenden Computermaus für ein 3-D-Schloß-Programm eines virtuellen Guide Michelin. Und mit ihm streifen wir an den Gestalten der vollendeten und unvollendeten Vergangenheit vorbei, seit Zar Peter dem Großen; treffen wir in der Eremitage vor den Gemälden El Grecos und Rembrandts auch die Zeitzeugen der Jubiläumsgegenwart, Museumshüter, Besucher und Kulturkenner als schlecht gekleidete postkommunistische Normalbürger, wundern uns über allerlei historische Genreszenen, Skandälchen und Intrigen, die sich in spärlich oder blendend ausgeleuchteten Seitentrakten abspielen, und stolpern schließlich hinein in den letzten großen Ball von Zar Nikolaus am Vorabend der Revolution, vorbei an den nicht immer völlig unbeteiligt ins Objektiv oder an der Kamera vorbei schauenden Pagen, Damen, Offizieren und Diplomaten.

Noch ein Cocktail für eine Leiche?

Der konservative Touch dieser gar nicht so unendlich ausgefeilten Inszenierung beruht auf einer panoramischen, zeitversetzten Inszenierung auf mehreren Teilbühnen, welche sich auf die langsam prozessierende Kamera mit ihren Stilleben und sorgsam abgemessenen Bewegungen bereithalten. Vor allem basiert der Film auf der digitalen High-Definition-Technologie, die uns heute erlaubt, mit kleinster Apparatur und extremer Hard-Disk-Datenkomprimierung die Zeiteinheiten von Kinoeinstellungen über die zehnminütigen Filmrollen in Hitchcocks kondensierter Studioproduktion Cocktail für eine Leiche (1948) hinaus auf über 90 Minuten Speicherlänge in ein realweltliches Ambiente zu strecken. Doch der digitalen Kondensation entspricht keine ästhetische Verdichtung. Denn zunächst wird in kindlicher Spielfreude nichts anderes neu belebt als die uralte Funktion der Kinematographie, die statische Aufzeichnungstechnik, die sich vor der Entwicklung einer genuinen Filmkunst an den Strukturen des Theaters anlehnte.

Im Zeitalter der frühen Kinematographie war es vor allem der unbewegte bzw. distanzierte Kamerastandpunkt, der jede Filmszene im Studio oder im Freien zur konstanten Einstellung einer objektiven Filmbühne erstarren ließ, zum unbeweglichen Gefäß für Bewegungen und Handlungen. Ein von außen einsehbares visuelles Kontinuum, in dem die Diskretion von Groß- oder Detail-Aufnahmen und die Konstruktion eines später zunehmend filmkünstlerisch dynamisierten Raumes durch Aufnahmemontagen mit verschiedenen Einstellungsgrößen und Perspektiven noch unbekannt war.

Ontologie eines Kulturpalastes und Mystik für digitale Anfänger

Büttners Steadycam bleibt natürlich nicht, wie der alte Kinematograph stehen, sondern rollt das alte Verfahren in die Tiefe des architektonischen Raums ab: Aber er reproduziert den barocken Effekt der ontologischen Vorgabe eines Theatergefäßes nun jenseits der Trennung von Publikumssaal, Orchestergraben und Bühne, Ausstellungsraum und Gemälden in ihrer materialen Gegenständlichkeit ohne jeglichen modernen Ansatz einer dialektisch-dynamischen Konstruktion durch das wahrnehmende oder praktisch-handelnde Subjekt. Schon Lola rennt erwies sich als ein formal beeindruckendes, aber reichlich artifizielles und inhaltsleeres Konstrukt von raumzeitlichen Handlungsverästelungen eines romantisch-didaktischen Postmodernismus. In Russian Ark mag sich die rein materiale Bewegung am stärksten in der Begegnung mit näher kommenden Personen, Artefakten und architektonischen Elementen ausdrücken, doch jeweils in der leeren Saalmitte ist die räumliche Vorherrschaft des frühen Kulturpalastes" ungebrochen. Seine Dimensionen werden so vollständig abgeschritten, dass jede besondere Aktion über weite Strecken einfrieren muss. Auch der verwitterte französische Marquis ist nur eine zeitlose Notlösung an der Bugwelle der Filmarche, die kaum beschwingt durch den Raum gleitet, sondern sich meist müde wie ein Kahn durch das weit gestreckte architektonische Universum und seine darin fast verlorenen Spielfiguren schiebt.

Die Erweckung purer filmischer Langsamkeit durch den immer wieder sich selbst ver(un)sichernden Panoramaschwenk ohne greifbare Handlung bietet kaum die beabsichtigte Garantie von Authentizität, Präsenz und Welthaltigkeit, bzw. Spannung und Verfremdung, auf der gelungen visualisierte Kinogeschichten beruhen. Hier liegt ein naturalistischer Fehlschluss vor: Der pure mechanistische Dauereinsatz der neuen Technologie - die "kontinuierliche" Filmeinstellung, der "Passepartout" ziellos schweifender Fahrten und Schwenks - führt eben nicht automatisch zum Raum-Zeit-Erleben der besonderen Art, höchstens zur Mystik für digitale Anfänger. Die parasitäre Ästhetik dieses Archi-Take-Films widerlegt die Absicht. In Wahrheit koaliert Sokurow visuelle Einheits-Ontologie mit der Motivnivellierung der inzwischen fad gewordenen Hollywood- und TV-Musik-Clip-Ästhetik, jenem optischen Brei, den der so demonstrativ verachtet. Hinter der Ideologie der einen Einheits-Einstellung stecken uralte postkommunistische Dogmen der Uniformität und Gleichschaltung, die mit militärischem Dekor und Jungmädchen-Tänzchen kaum verschleiert werden können.

Menschengruppen und Bilderwelten werden konzept- und teilnahmslos durchwandert und stasimorph beschnüffelt, die intermedialen Metaphern des Filmgemäldes und der inszenierten Filmbühne bleiben dabei aussagearme und austauschbare Staffage. Selbst ‹Ginger und Fred", in dem Fellinis Filmepik vor dem Moloch TV tragikkomisch kapitulierte, enthält noch mehr Spannnungsmomente durch eine groteske Geschichte alternder Showstars im Massenbetrieb. Sokurow liefert einen blicklos naturalisierten Euromedienzarismus für ohnmächtige Kulturintendanten. Die detaillierte Übervölkerung der Haupttreppen im Eingangsbereich zur Ballmusik von Glinka erinnert an eine frühkapitalistische Weltausstellungsfeier - an jenem endlosen Ende, nachdem der in edler Pose erstarrte blütenweiße Operetten-Zar langbärtige iranische Diplomaten empfangen hat, um das peinlich unterwürfige Entschuldigungszeremoniell anlässlich eines Terroranschlages auf die russische Botschaft in Teheran mit fürstlich-imperialer Gnade huldvoll als Bestandteil eines schlechten Makartbuketts entgegenzunehmen.

Die Idee ist so alt wie die Filmgeschichte. Selbst Hitchcock war dem Problem bereits näher an den Fersen als Sokurow. Gegenüber Truffaut erklärte der Altmeister, das Projekt, einen Film zu drehen, der auf einer einzigen Einstellung besteht, sei eine "irre Idee" gewesen. In Rope (Cocktail für eine Leiche) sei die Verleugnung von Schnitt und Montage nur durch eine Drehtechnik aufzufangen gewesen, bei der der Film sofort "so gedreht" worden sei, wie frühere Werke geschnitten waren. Nur auf diese Weise konnte das bereits erarbeitete kompositorische Niveau einigermaßen gehalten werden. "Die Kamerabewegungen und die Bewegungen der Schauspieler entsprechen genau meiner üblichen Schnittmethode. Das heißt, ich hielt mich weiter an das Prinzip, die Proportionen der Bilder zu verändern im Verhältnis zur emotionellen Wichtigkeit der einzelnen Momente. " Der Schauplatz wurde durch die Wechselwirkung von Kameraführung und Schauspiel weiterhin derart dynamisiert, als ob der Ort durch Schnitte und Montagen zum visuellen Ereignisraum neu konstruiert würde.

In Hitchcocks klassischem Statement liegt auch die Problematik des Kinos der Zukunft. Inwieweit lässt sich der dreidimensional oder multiangular erfassbare Raum filmähnlich, schnittartig modulieren und die interaktive Erlebnisästhetik äußerer Events und innerer psychologischer Spannung jenseits einer reinen holografischen Phänomenologie simulieren?

Sokurows konservativer Ehrgeiz trachtet dagegen nach der ultimativ artigen Arterhaltung. Aber gerade durch diese archäoptische Pose der matten, hofgerechten Fürsten-Schauspiel-Bespiegelung gibt es eigentlich keinen motivisch-musikalisch aufgeladenen Eindruck, keine Spurenlegung, die zu einer ernsthaften Ikone und Imago führt, die die reinen Äußerlichkeit des theatralisch abblätternden Pathos überlebte. Der Film rückt ab vom modernen Montagekino, das im russischen Revolutionsfilm seinen Ausgang nahm, die im Zittern der Prachtleuchter des Winterpalais, mit ihren tausend Kristallen, als Gleichnis der wankenden Herrscherherrlichkeit (Béla Balász) ihren Ausgang nahm. Allenfalls ist er selbst das, worin er sich bewegt: ein allegorisches euro-russisches Museum einer noch in sich befangenen Petersburger Seele.