Umgangssprache im Alltagsweb

Microsoft und Realnames versprechen vereinfachte Webnavigation, doch die Vereinheitlichung des korporativen Namensraums im Web birgt auch Gefahren.

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IETF: A resolution protocol for Common Name Namespaces

Auf der Messe PC Forum 2000 kündigte Microsoft-CEO Steve Ballmer die Zusammenarbeit mit dem Unternehmen RealNames an. Deren "Internet Keywords Solution" soll in MSIE und MSN-Search eingebaut werden. Zugleich übernimmt MS 20% der Firmenanteile von RealNames.

Die "RealNames Internet Keywords" ermöglichen Unternehmen die bessere Auffindbarkeit ihres Domainnamens im Web. Kunden von Realnames wird versprochen, dass User bloß den umgangssprachlich bekannten Namen des Unternehmens im Browser eingeben müssen - ganz ohne http und www -, um "sicher" zur relevanten Site der Firma geleitet zu werden. Menschen seien an die Kommunikation mit natürlichsprachlichen Ausdrücken gewohnt, heisst es in der Presseerklärung. Wie solle man z.B. wissen, dass die Adresse der Fluglinie United Airlines www.ual.com ist und nicht einfach united.com? Mit RealNames und Internet Explorer genügt die Eingabe umgangssprachlicher Begriffe, um zu der "richtigen" Site zu gelangen. Darüber hinaus kommt man, je nach Formulierung der Eingabe nicht nur zur Homepage sondern auch gleich in die Tiefe einer Site. Und die Eingabe ist nicht nur in den 66 Zeichen des römischen Alphabets möglich sondern auch in kyrillischen, hebräischen, arabischen oder chinesischen Zeichen.

Die Lösung für Internet Keywords von RealNames beruht auf dem Protokoll für "Common Names Namespaces" der Internet Engineering Task Force. HTTP funktioniert dabei als Transportmechanismus. Die Anfrage für die Auflösung eines natürlichsprachlichen Begriffes wird in RDF (Resource Description Framework) ausgedrückt, in XML (Extensible Markup Language) enkodiert und bei der Anwtort wieder als RDF-Dokument ausgedrückt, das an den Client innerhalb der HTTP-Antwort zurückgegeben wird. Der wichtigste Punkt daran ist die Beschaffenheit des RDF-Schemas, das die Eigenschaften des jeweiligen Namensraums beschreibt. Die IETF gibt hier bloß Empfehlungen aus, die Implementierung obliegt den freien Kräften der Marktwirtschaft.

Microsoft und RealNames sprechen mit Bezug auf die IETF von einem "offenem und wohldokumentiertem Standard für die Zuordnung von Namen zur Erhaltung der Nutzererfahrung und der Markennameneignerschaft". Hauptsächlich geht es dabei aber wohl um letzteres, denn wiederholt wird Konzernen die "nahtlose Ausbreitung ihrer Marke ins Internet" versprochen, natürlich immer gekoppelt mit dem Versprechen eines einfachen "Alltagswebs" für die Nutzerschaft.

Wenn das Microsoft/RealNames-Schema flächendeckend zur Anwendung kommt, wird es für internationale Konzerne bald nicht mehr so wichtig sein, dafür Sorge zu tragen, ihren Markennamen nicht nur als .com, .org, .net und in allen Länderdomains der Erde einzutragen. Denn Internet Keywords von RealNames "basiert auf einer großen, skalierbaren, technologischen Plattform, zusammengesetzt aus Routern, Datenbanken und Management-Werkzeugen, welche integrierte Berichte für den wirtschaftlichen Wert einer Marke erzeugen...." (Hervorhebung durch die Redaktion). Mit anderen Worten, Internet Keywords nivellieren den Namensraum zugunsten der Großen. Die Entscheidung darüber, wohin der Browser geleitet wird, wenn statt einer kompletten URL ein umgangssprachlicher Begriff eingegeben wird, fällt innerhalb des Datenbanken- und Routersystems von RealNames und Microsoft.

Damit, meinen Microsoft-Kritiker, spart sich MS den ganzen Ärger mit ICANN, neuen Domainnamensendungen und komplizierten Streitlösungsverfahren. MS und RealNames schaffen einen vereinheitlichten, flachen Namensraum, in dem z.B. das umkämpfte Domainnamenssuffix (.com oder .org) nur mehr eine Metainformation unter vielen ist. Mit weiterhin ansteigendem Anteil am Browsermarkt des IE, Einbindung in IE und MSN und Kooperationen mit Suchmaschinen - bereits jetzt u.a. Altavista, Google, Inktomi - wird das Problem der Kategorisierung nicht gelöst sondern einfach umgangen. Anstatt mit den anderen bei ICANN um die richtige Kategorisierung und Strukturierung des Namensraums kämpfen zu müssen, wird ein flacher Namensraum geschaffen, in dem die zahlenden Großkunden von vorneherein die Gewinner sein werden.