Ungarn: "Kultur des Faschismus"

Seite 3: Die Stimmung ist viel militanter geworden

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Können Sie die Ideologie der ungarischen Rechtsextremen Partei Jobbik umreißen? Wo sind Anknüpfungspunkte und Kontinuitätslinien zu den Anschauungen der rechtskonservativen Fidesz zu finden, wo sind die Unterschiede zu verorten?

Magdalena Marsovszky: Der wichtigste Unterschied besteht in der Militanz. Jobbik hat diese ganzen militanten Gruppen, die im Umfeld der Partei tätig sind. Wobei zu berücksichtigen ist, dass Jobbik sich von manchen dieser Gruppen abgrenzt. Es ist auch nicht leicht zu überblicken, welche der unzähligen militanten Gruppen nun Jobbik nahe stehen, und welche nicht.

Dem äußeren Erscheinungsbild zufolge unterscheidet sich also Jobbik von Fidesz in dem Rückgriff auf offene Militanz. Auf der anderen Seite unterstützt aber auch Fidesz militante Strukturen, nur scheint das alles jetzt staatlich legitimiert, und es heißt dann immer, dies gehöre zur Demokratie. Die Stimmung ist viel militanter geworden in Ungarn im Verhältnis zu der früheren Regierung.

Die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gruppen lassen sich vielleicht am besten so formulieren, dass die Jobbik die Fortsetzung von Fidesz mit anderen Mitteln ist. Ihre Ideologie gleicht sich zum Beispiel darin, dass beide Parteien mit den Sozialisten und den Liberalen die gleichen verhassten Feindbilder teilen. Und diese Feindbilder sind bei beiden Parteien mit den gleichen antisemitischen Codes besetzt.

Jobbik spricht nur teilweise offen aus, dass dies "Zionisten", oder "verjudete" Kräfte seien, während Fidesz viel vorsichtiger, codierter, formuliert. Im Fidesz spricht man von "Libschi" (für Liberale) oder "Kommis" (für "Kommunisten"), und diese antisemitischen Codes versteht jeder in Ungarn. Es gibt aber auch Fidesz-Mitglieder, die ganz offen mit rechtextremen Gruppen zusammenarbeiten. So eine ist beispielsweise die 56er-Revolutionärin Mária Wittner, die eine absolut rechtsextreme Politik betreibt.

Die Hetze gegen die Minderheit der Roma bildete eines zentrales Moment der erfolgreichen Strategie der faschistischen Partei Jobbik. Wie entwickelt sich die soziale und ökonomische die Lage der Roma in Ungarn? Wie stellen sich die Beziehungen zwischen den Ungarn und den Roma dar?

Magdalena Marsovszky: Die Beziehungen zwischen den Ungarn und den Roma haben sich verschlechtert. Diese Entwicklung hat schon im real existierenden Sozialismus angefangen, wo die Roma eher als Arbeiter gebraucht wurden, ohne dass ihre Weiterbildung gefördert worden wäre. Die meisten Roma haben den großen Industriebetrieben gearbeitet, und als diese sozialistische Industrie nach der Wende zusammengebrochen ist, sind auch sehr viele der dort beschäftigten Roma arbeitslos geworden. Die meisten Roma leben deswegen jetzt in den Gebieten im südöstlichen und nordöstlichen Ungarn, wo früher diese sozialistischen Großbetriebe standen. Diese Regionen zählen nun zu den ärmsten des Landes.

Die wirtschaftliche Lage der Roma verschlechtert sich immer weiter, weil sie von der Gesellschaft immer stärker ausgegrenzt werden. Teilweise werden die Roma schon in Schulen, oder sogar schon im Kindergarten ausgegrenzt, indem sie gleich in Sonderklassen gesteckt werden.

Es soll ja inzwischen inoffizielle sogenannte Roma-Schulen geben.

Magdalena Marsovszky: Genau. Es gibt inzwischen Schulen, die von den sogenannten "Weißen" nicht mehr besucht werden. Die Ungarn gründen dann Stiftungsschulen, und deren Aufnahmekriterien werden dann so aufgestellt, dass sie nur von "Weißen" erfüllt werden können - und nicht von Romakindern. Dann bleiben in den öffentlichen Schulen nur die Romakinder übrig, die zu der ärmsten Bevölkerungsschicht gehören. Deren Eltern sind aufgrund der langen Arbeitslosigkeit manchmal alkoholabhängig, oder sie können sich aus anderen Gründen nicht um ihre Kinder kümmern. Man kann das aber nicht verallgemeinern, wie das in der rechten Propaganda geschieht. Auch in normalen Schulen werden die Roma oft systematisch ausgegrenzt, indem sie in so genannten C-Klassen konzentriert werden. Von Anfang an wird den Roma der weitere Lebensweg systematisch verbaut.

Ließe sich nicht sagen, dass der ungarische Antiziganismus sich seine eigenen Feindbilder und Stereotype erschafft? Die ausgegrenzten, marginalisierten und letztendlich verelendeten Roma entsprechen dann anscheinend den landläufigen romafeindlichen Klischees.

Magdalena Marsovszky: Die Mehrheitsgesellschaft grenzt diese Leute so stark aus, dass sie sich inzwischen in einer unhaltbaren sozialen und ökonomischen Lage befinden. Zum Teil leben die Roma in höhlenartigen Behausungen, ohne Wasser und ohne Strom. Viele sind dermaßen verarmt, da sie ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr decken, etwa ihre Rechnungen nicht mehr begleichen können. Es ist also sehr zynisch von der Regierung, wenn sie unter Bezugnahme auf die Roma sagt, dass nur Leute es zu etwas bringen würden, die auch arbeiteten - wenn gleichzeitig Generationen von Roma aufwachsen, die nicht mehr arbeiten können, weil die Mehrheitsgesellschaft ihnen jegliche Chancen verwehrt.

Mir scheint es, als ob die Krise der Arbeitsgesellschaft, die viele postsozialistische Gesellschaften Osteuropas nach der Wende erfasst hat, in Ungarn auf die Roma abgewälzt wurde. Die Arbeitslosenquote muss ja bei den Roma sehr hoch sein.

Magdalena Marsovszky: Ja, auf jeden Fall, weil sie schlicht nicht angestellt werden. Wenn sich zum Beispiel Roma schriftlich oder per Telefon bewerben und zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden, dann endet dieses Gespräch zumeist sehr schnell, da sie an ihrer dunklen Hautfarbe leicht zu erkennen sind. Da heißt es dann auf einmal, der Arbeitsplatz sei schon vergeben. Die Roma in Ungarn sind mit einer regelrechten Apartheidgesellschaft konfrontiert.

Mit der Wirtschaftskrise hat der Aufstieg der Rechten wenig zu tun

Die Weltwirtschaftskrise ließ Ungarn am Rand des Staatsbankrotts taumeln. Erst ein milliardenschweres Kreditpaket der EU und des IWF, das mit ausgreifenden Haushaltskürzungen erkauft wurde, konnte die Staatspleite verhindern. Dies führte in Ungarn zu einer schweren Rezession, die mit einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit einherging. Inwiefern stehen diese Krisendynamik und der Aufstieg der ungarischen Rechten in einem Zusammenhang? Handelt es sich bei den Phänomenen Fidez und Jobbik auch um - irrationale - Reaktionen auf die Krise, oder bestehen da kaum Zusammenhänge?

Magdalena Marsovszky: Mit der Krise hat diese Dynamik der ungarischen Rechten nicht sehr viel zu tun. Die Wirtschaftskrise mag diesen Kräften einen zusätzlichen Schub verliehen haben, aber die ganze Entwicklung hat schon viel früher eingesetzt. Ich habe Aufsätze über Antisemitismus und die völkische Bewegung in Ungarn bereits in 2006 geschrieben, da war von der Weltwirtschaftskrise überhaupt noch nichts zu spüren.

Diese ganze Entwicklung mit der Wirtschaftskrise in Zusammenhang bringen zu wollen, blendet die langfristige völkische Tradition in Ungarn aus. Diese völkischen Traditionslinien sind es, die Ungarn zu einer geschlossenen Gesellschaft gemacht haben, und nicht die Wirtschaftskrise. Die Krise und die Auflagen des IWF wurden teilweise so aufgefasst, als ob "diese Juden wieder nach Ungarn kommen und uns dirigieren wollen". Die Mitglieder des IWF wurden etwa mit antisemitischen Codes versehen, wie auch die Europäische Union, die auch mit antisemitischen Stereotypen belegt wird.

Ja, das meinte ich auch. Selbstverständlich wäre es falsch, den Aufstieg der ungarischen Rechten nur auf die Krise zurückzuführen. Die Krise hat eher die Funktion eines Beschleunigers dieser Rechtsentwicklung eingenommen.

Was mir bei diesem allgegenwärtigen Antiziganismus in Ungarn noch durch den Kopf geht, das ist die Frage, ob es sich hierbei nicht auch um eine Angstreaktion der "Weißen" handelt. Die verelendeten Roma halten den Ungarn vor Augen, wie schnell Marginalisierung und Verelendung im krisengeschüttelten Kapitalismus um sich greifen können. Die Roma spiegeln in ihrem Elend die Ängste der Ungarn vor dem sozialen Abstieg. Eigentlich gibt es zwei Hauptmomente der Verdinglichung und Personifizierung kapitalistischer Systemprozesse, die bei diesem schiefen völkischen Pseudo-Antikapitalismus zum Tragen kommen: Zum einen sind es die Juden, die als die Personifizierung und Verdinglichung des Finanzkapitals herhalten, wie du ja ausgeführt hasst. Dann scheinen aber auch die Roma als die Personifizierung der Verelendungstendenzen und der um sich greifenden Marginalisierung zu fungieren. Eine Krisentendenz des Kapitalismus wird dann zu einem - rassisch oder kulturalistisch definierten - Wesensmerkmal dieser Minderheit erklärt.

Magdalena Marsovszky: Ja, Ängste spielen bei dem Antiziganismus auf jeden Fall eine sehr wichtige Rolle. In der ungarischen Rechten ist auch tatsächlich ein sehr starker Antikapitalmus zu beobachten, aber nicht im Sinne eines etwaigen Klassenkampfes, sondern im Sinne dieser völkischen Kapitalismuskritik. Da heißt es dann, dass alle Kapitalisten Juden seien. Nur in dieser völkischen Perspektive wird der Kapitalismus kritisiert. Dann wird da zugleich die nationale Arbeit hochgehalten, und die Roma werden dann in die Rolle des Schmarotzers gedrängt.