"Unsere Arbeitswelten sind gesundheitsschädigend"

Gespräch mit dem Psychotherapeuten und Psychoanalytiker Valentin Z. Markser über die Frage, inwieweit die moderne Arbeitswelt die Menschen krank macht

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Immer mehr Menschen rutschen mit Hartz IV, Leiharbeit und Dumpinglöhnen in prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse ab. Die Weltwirtschaftskrise und die mit ihr zusammenhängenden Preissteigerungen, Insolvenzen und Entlassungswellen verschärfen die sich seit Jahren zuspitzenden Probleme. Immer wieder auftauchende Meldungen von massiven Zunahmen im Bereich der psychischen Erkrankungen werfen in diesem Zusammenhang Fragen auf. Was steckt dahinter? Leben wir tatsächlich in einer „depressiven Gesellschaft“? Oder verbirgt sich dahinter nur ein scheinbares Phänomen, gar ein Modetrend der Zeitgeschichte? Gehören tatsächlich der zunehmende Leistungsdruck und das Missverhältnis von Arbeit und Ertrag zu den Ursachen? Und bieten die Erklärungsmodelle der Psychologie und Psychoanalyse Lösungsmodelle?

Ein Interview mit dem Psychotherapeut und Psychoanalytiker Valentin Z. Markser, der seit 20 Jahren eine eigene Praxis in Köln betreibt, und mit diesen und ähnlichen Fragen tagtäglich konfrontiert ist. Markser hat Medizin, Philosophie, Soziologie und Geschichte studiert und hatte zeitweise einen Lehrauftrag für Sozialmedizin an der Kölner Fachhochschule für Sozialarbeit.

Die Zahl der psychischen Erkrankungen und der Menschen, die aufgrund von seelischen Störungen nicht mehr oder nur eingeschränkt am Leben teilnehmen können, nimmt – zumindest in der so genannten westlichen Welt – massiv zu. Woran liegt das?

Markser: Aus einem Gutachten des Instituts für Gesundheit und Sozialforschung geht hervor, dass die Zahl von Krankenhausaufenthalten wegen psychischer Erkrankungen in den letzten zehn Jahren in Deutschland um mehr als ein Drittel gestiegen ist. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund neuro-psychiatrischer Erkrankungen hat sogar um 64 Prozent zugenommen. Dem Grünbuch der Europäischen Union vom 2005 zufolge leidet etwa ein Viertel der Bevölkerung unter einer psychischen Erkrankung. Die Kosten für die Gesellschaft sind immens, zwischen 3 und 4 % des Bruttoinlandsprodukts.

Man kann auch sagen, die Gesellschaft zahlt für etwas, das sie selbst mit verursacht hat. Aber man kann nicht davon ausgehen, dass es früher weniger psychisch Kranke als heute gab. Sowohl die Definitionen als auch Untersuchungsmethoden haben sich geändert und ändern sich weiterhin ständig. Jahrhunderte lang wurden seelische Krankheiten verleugnet und seelisch kranke Menschen ausgegrenzt. Das gesellschaftliche und wissenschaftliche Interesse an den seelischen Erkrankungen gibt es in politisch erstzunehmendem Ausmaß erst seit ein paar Jahrzehnten. Noch vor vierzig Jahren gab es in Deutschland nur wenige Ärzte für psychosomatische oder psychotherapeutische Medizin, medizinische Psychologie wurde erst in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts Bestandteil des Medizinstudiums.

Obwohl die Auswirkungen der Lebens- und Arbeitsweisen auf die seelische Gesundheit nicht bezweifelt werden, lassen die Statistiken nicht eindeutig den Schluss zu, dass wir heute und in der sogennanten westlichen Welt mehr psychische Erkrankungen haben als früher und irgendwo anders auf der Welt. Natürlich sind unsere Arbeitswelten beklagenswert und oft gesundheitsschädigend. Aber in der Zeit der vorindustriellen Produktion, in der Zeit der Kinderarbeit und sechzig Stunden wöchentlicher Arbeitszeit, gab es vermutlich nicht weniger seelische Erkrankungen.

Unsere zunehmende Aufmerksamkeit für die seelischen Beschwerden, die Entwicklung der Untersuchungs- und Behandlungsverfahren, erlaubt es uns jetzt vielmehr, seelische Störungen zu erfassen, die aber schon vorher da waren. Natürlich produziert jedes Zeitalter seine eigenen seelischen Krankheiten. Aber dass es früher weniger seelische Störungen gab als heute ist eine häufige Behauptung, die sich nicht leicht beweisen lässt. Eindeutig ist aber, dass die Zunahme der seelischen Erkrankungen Folge unserer veränderten Wahrnehmung und Definition sind. Die Definition der Gesundheit als des Zustandes des körperlichen, sozialen und seelischen Wohlbefindens, ist ebenso jüngeren Datums wie die Schaffung des Fachgebietes der Psychotherapie und Psychosomatik, sowie die Aufnahme der seelischen Misshandlung von Kindern in den gesetzlichen Strafkatalog. Gerade wird im Bundeswehrkrankenhaus Berlin das erste Zentrum für die Behandlung von Soldaten mit posttraumatischen Störungen eröffnet, obwohl es schon seit Jahrhunderten seelisch schwer erkrankte Soldaten gibt.

Die psychischen Erkrankungen von Arbeitnehmern in Bürotätigkeiten haben seit 1996 um ca. 84% zugenommen, während das bei Arbeitnehmern in überwiegend körperlichen und handwerklichen Berufen nicht der Fall ist (siehe: Krankes Deutschland 2007: Psychische Leiden nehmen weiterhin zu). Wie lässt sich das erklären?

Markser: Diese Statistik ist mir nicht bekannt. Allerdings glaube ich, dass die im heutigen Wirtschaftssystem vorherrschenden und zunehmenden Tendenzen, die Arbeitnehmer auf Funktion und Wertschöpfung zu reduzieren, in hohem Maße gesundheitsschädigend sind. Einer neuen Studie der DAK zufolge nehmen immer mehr gesunde Menschen Psychopharmaka, um die geforderte Arbeitsleistung erbringen zu können. Den Arbeitnehmern werden dadurch zunehmend die Identifikations- und Gestaltungsmöglichkeiten genommen. Und diese Tendenzen wirken sich scheinbar weniger schädlich in den handwerklichen Berufen aus.

Die Psychoanalyse neigt dazu, die Ursachen in den frühkindlichen Erfahrungen und in Fehlentwicklungen der Persönlichkeitsinstanzen zu suchen – aber taugt dieses Erklärungsmodell wirklich? Immerhin ist das Verhältnis der Menschen, die frühkindliche Traumata wie Missbrauch erleben, nicht gestiegen, sondern unterliegt statistischen Schwankungen, die weltweit und seit langer Zeit gleich bleiben….

Markser: Dieses Modell taugt noch immer dazu, die gesellschaftliche Realität zu verstehen und ist aktueller denn je. Selbst wenn frühkindliche Traumatisierungen und sexueller Missbrauch abnehmen würden, ermöglicht uns dieses Modell, die entstandenen schädigenden gesellschaftlichen Strukturen besser zu erklären und zu verstehen. Wir beschäftigen uns systematisch erst seit dem Vietnamkrieg mit den seelischen Folgen der Traumatisierung obwohl es die schon immer im Übermaß gab. Und erst seit einigen Jahren wird auch die tägliche Erziehung als ein möglicher Rahmen der chronischen familiären Traumatisierung betrachtet und untersucht. Jede Erziehung bringt bis zu einem gewissen Grad Traumata hervor. Wichtig ist die Frage, wie seelisch gefestigt ein Mensch wird, um mit diesen Traumata umgehen zu können.

Sind die Gründe vielleicht gesellschaftlich-ökonomisch bedingt? In einem Unterstützungsantrag eines vermeintlich psychisch kranken Menschen ist der relevante und ausschlaggebende Punkt nicht das individuelle Wohlergehen, sondern die Frage, inwieweit derjenige zukünftig in der Lage sein wird, am ökonomischen Prozess teilzuhaben…

Markser: Zum einem hat die Solidargemeinschaft die Pflicht, die Kosten der Krankheitsbehandlung zu tragen, aber auch das Recht, von dem Kranken zu verlangen, alles zu tun um bald gesund und erwerbsfähig zu werden. Auf der anderen Seite sind seelische Erkrankungen immer auch die Folgen der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse. Man könnte sagen, dass man von den seelisch Erkrankten sehr früh lernen kann, was in der Gesellschaft und in der Wirtschaft vorsichgeht. Aber die die politischen und vor allem wirtschaftlichen Systeme haben vielfach ein Interesse, das nicht zu sehen. Weil es der tragenden Lebens- und Gesellschaftsphilosophie der Wertsteigerung und Profitmaximierung widerspricht und mit grundlegenden Veränderung der Gesellschaft und Verlust der Machtstrukturen einhergehen würde.

Unsere Gesellschaft entwickelt sich mehr und mehr in Richtung Leistung oder Nichtleistung – den Menschen wird, gerade multimedial, vorgelebt, wie ihr Leben auszusehen habe. Dabei demonstriert man ihnen Beispiele von Erfolg und Wohlstand, die mit der Lebenswirklichkeit der Mehrheit nichts zu tun haben. Seien es Arbeitsleben oder zwischenmenschliche Beziehungen – es wird suggeriert, dass nur noch der anerkannt wird, der stark und erfolgreich ist. Kann die Unerreichbarkeit gesellschaftlicher Idealbilder zu seelischen Störungen führen? Führen diese zweifelhaften Ideale nicht zu einer neuen Form des Sozialdarwinismus?

Markser: Es ist noch viel komplizierter. Die in ihrer politischen Auswirkung unterschätzte religiöse Überzeugung vom Sündenfall und die verbreiteten philosophischen Theorien von Menschen als Egoisten (siehe Hobbes) und einem Wesen mit dem Todestrieb (siehe Freud) haben unser soziales und ökonomisches Gesellschaftssystem maßgeblich mitbegründet und lenken nach wie vor die Aufmerksamkeit von der krankmachenden Umwelt ab.

Jede lebensphilosphische Haltung geht mit spezifischen Menschenbildern, Moralvorstellungen, Werten und Weltbildern einher. Die krankmachenden systemimmanenten Faktoren werden ideologisiert, ihre schädliche Wirkung verleugnet. In den schlimmsten Fällen werden sie kommerzialisiert und systemerhaltend integriert. Man kann sich in dem Zusammenhang die das Schicksal der Mülltrennung und des Dualen Systems, aber auch die jetzige Weltwirtschaftskrise, die politische Verantwortung der Regierungen und der Banken anschauen. Aber die ganzen Klagen helfen nicht. Wir beklagen uns an der falschen Stelle. Denn wir sind die verantwortlichen und souveränen Bürger und Konsumenten in einem demokratischen System. Nur wir nehmen unsere Rechte, Möglichkeiten und Verantwortungen halbherzig oder gar nicht wahr. Deshalb nutzen die Klagen und die Suche nach den Schuldigen größtenteils der Verdrängung der eigenen Verantwortungslosigkeit.