VIVA Islam

Zwischen dem islamischen Werten und westlicher Kultur bleibt in Algerien immer weniger Platz

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Brian Adams? "Kein Problem", sagt Rachid, sucht auf seiner Gitarre ein paar Akkorde und fängt an zu spielen. Der Sprachenstudent an der nach dem ersten algerischen Präsidenten nach der Unabhängigkeit benannten Boumedienne-Universität in Algier erstaunt uns mit einem enormen Repertoire an Pop- und Rockmusik. Ein Repertoire, das bis in die aktuellen deutschen Charts hineinreicht. Die Frage, wo er die Stücke und Texte gelernt haben, bekommen wir mit einem Lächeln quittiert. "VIVA, VIVA 2 und MTV", sagt er. Und aus dem Internet. Besonders unter den Jugendlichen in Algerien haben Fernsehen und Internet in den vergangenen Jahren massiv an Bedeutung gewonnen. Und über sie deutet sich ein langsamer Wandel der Gesellschaft an, der bislang nicht ohne Konflikte blieb und bleiben wird.

Algerien, das erst 1962 nach einem verlustreichen Krieg gegen Frankreich seine offizielle Unabhängigkeit erreicht hat, blickt auf schwere Jahre zurück. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes versuchten vor allem religiös motivierte Gruppen auch in dem nordafrikanischen Land die politischen Claims neu abzustecken. Als sich 1992 der sichere Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS) abzeichnete, erhoben sich jedoch Teile des Militärs und gaben so im wahrsten Sinne des Wortes den Startschuss für einen blutigen Bürgerkrieg, der bis heute Schätzungen von amnesty international zufolge "mehr als 100.000 Menschen bei Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften, Attentaten und Gewalttaten bewaffneter islamistischer Gruppen, darunter besonders die GIA (Groupe Islamique Armé) oder durch Einwirkung der staatlich ausgerüsteten Selbstverteidigungsmilizen" das Leben kostete.

Wenn sich die ungefähren Eckpunkte des Konfliktes definieren lassen, so bleiben die konkreten Hintergründe im Dunkeln. Dass auf Regierungsseite die Absicherung der eigenen Machtelite im Vordergrund steht, lassen die bis heute nebulösen Bedingungen eines Waffenstillstandes mit der "Armee des Islamischen Heils" (AIS) vom Oktober 1993 vermuten. Doch den radikaleren religiösen Gruppen, die das Land nach wie vor terrorisieren, geht es um ideologischen Einfluss. Damit streuen sie Salz in eine offene Wunde, denn die kulturelle Kluft hat sich in Algerien nach der Unabhängigkeit besonders zwischen der arabischen Bevölkerung und der kabylischen Minderheit vertieft. Die Kabylen, eine der vier großen ethnischen Minderheiten, stellen mit über 30 Prozent nicht nur die bedeutendste dieser Gruppen, sie gelten zudem als frankophil und bilden so ein Gegengewicht zu der arabischen Kultur, auf der islamische Fundamentalisten ihren Gottesstaat aufbauen wollen.

Einhergehend mit der sozialen Krise Algeriens, deren katastrophale Auswirkungen vor allem in der enormen Jugendarbeitslosigkeit zu beobachten sind, verschwimmen diese historisch gewachsenen Grenzen aber zunehmend. Als im Frühjahr diesen Jahres in der ostalgerischen Kabylei Großdemonstrationen gegen die seit April 1999 amtierende und vom Militär geduldete Regierung unter Abdelaziz Bouteflika organisiert wurden, schlossen sich den Protesten auch Jugendliche aus den arabischen Landesteilen an. Nach der Unabhängigkeit etablierte kulturelle Konstrukte verlieren mit der sozialen Krise zunehmend an Boden; Algerien, das bislang in der Gesamtheit als ein für westliche Einflüsse aufgeschlossener islamischer Staat galt, droht das kulturelle Gleichgewicht zu verlieren.

Besonders auffällig wird dieser Wettstreit der Ideen in den urbanen Zentren. Selbst die Armenviertel Algiers gehen in einem Meer von Parabolantennen unter - und alle sind in den nördlichen Himmel gerichtet. Trotz hoher Arbeitslosigkeit bleiben die Anlagen inklusive gängigem Receiver mit einem Preis von etwa 1200 Dinar (knapp 40 DM) durchaus erschwinglich. Größter Beliebtheit erfreut sich, der Sprache geschuldet, das Programm der einstigen Kolonialherren. Jugendliche finden ihre Idole, wenn nicht in der religiösen Welt, im Programm der gängigen Musiksender. Die gesellschaftliche Relevanz dessen wird bei einem Blick auf die Statistik deutlich: Über die Hälfte der Bevölkerung des nordafrikanischen Landes ist jünger als 17 Jahre, die Arbeitslosigkeit ist beinahe total.

Für den Vormarsch der (west-) europäischen Programme haben indes auch die Machthaber selber verantwortlich zu zeichnen. Als die Armee im Oktober 1988 bewaffnet gegen Schüler- und Studentenproteste vorging, wurden auch die staatlichen Medienzentren Ziel der Auseinandersetzungen. Zwar richtete man fortan ein Mehrparteiensystem ein, geschickt wurde die Zäsur von Regierungsseite aber dazu genutzt, die Fernsehstationen fortan - besser kontrollierbar - auf einen Sender zu beschränken: ENTV. Die schier unüberschaubare Flut an Programmen aus dem nördlichen Ausland, über die Satellitenschüssel sind es über 500, wirkt umso attraktiver.

Als wir in einem Armenviertel, im Grunde Hochburgen der islamischen Fundamentalisten, anhalten, um die Installationen an den Balkonen zu fotografieren, reagieren die Bewohner misstrauisch. Nach wenigen erklärenden Worten, beruhigt man sich. " C'est la mondialisation!", so der Kommentar eines alten Mannes, ohne vom Dominospiel aufzuschauen. "Das ist die Globalisierung."

Gleiches gilt für das Internet. Nach dem Putsch 1992 geriet das Land innerhalb weniger Monate in die politische Isolierung, verstärkt wurde die Entwicklung durch den fast vollständigen Zusammenbruch des Tourismus. "Seit Mitte der Neunziger Jahre", erklärt der junge Unternehmer Rachid Iabbadene, "sprießen überall im Land Internetcafés aus dem Boden". Die Firmengründungen beschränkten sich aber nicht nur auf die Städte, auch in Iabbadenes Dorf im Westen gebe es "zwei, drei dieser Läden". Der Chef der "New Technology Company", einer mittelständischen Firma, die sich der Förderung des Internets verschrieben hat, beobachtet die Entwicklung mit Misstrauen. "Die wissen doch gar nicht, mit was sie es zu tun haben", sagt er. Die meisten Besitzer solcher Internetcafés seien auf der Suche nach dem schnellen Geld. Kontrolle gebe es keine, die zuständigen Ministerien hielten sich aus dem Geschäft völlig heraus. Er beugt sich näher heran. Besonders beliebt seien pornografische Seiten, lässt er mich wissen, und das sei nicht gut für die Moral.

Doch auch Rachid Iabbadene will das Internet fördern. "Für die Wissenschaft", sagt er und kramt einen Vertrag mit der Boumedienne-Universität heraus. Es geht um einen Internetanschluss für den Direktor der Universität. Ein großes Problem sei, dass das Bildungssystem derart vernachlässigt werde, schließlich sei es in Europa gang und gäbe, den Studierenden einen solchen Anschluss zur Verfügung zu stellen. Erst Ende Juli habe ihm der Minister für Wissenschaft und Forschung versichert, den Ausbau des Internet an den Universitäten zu fördern, bewegen tut sich aber nur wenig. "Dabei liegen die Vorteile auf der Hand", sagt der junge Firmenchef. Anstatt kostspielig Bücher zu kaufen, könne eine virtuelle Bibliothek eingerichtet werden. Vorerst beherrschen aber die zahlreichen Internetcafés mit abenteuerlichen Namen wie "Cyberworld" und "Wild Horse" das Bild.

Anders sieht es bei den Anbietern aus, von denen es in dem nordafrikanischen Land nach wie vor wenige gibt. Federführend ist nach wie vor das Centre dŽEtude et de Recherche sur lŽInformation Scientifique et Technique, das einen von drei großen Providern stellt. Neben CERIST stechen die Unternehmen GECOS und EEPAD hervor. Schon als die Regierung in Algier 1998 den Markt freigab, wurden 18 Lizenzen erteilt, rund ein Dutzend weitere folgten seither, ohne dass sie genutzt werden.

Schon auf dem mehr als überschaubare Markt gibt es erst Fusionen: EEPAD wird sein Angebot in Algerien künftig in enger Kooperation mit dem Französischen Unternehmen Wanadoo zur Verfügung stellen. Das Hauptproblem für die stockende Entwicklung sind veraltete Leitungen, an Glasfasernetze ist vorerst nicht zu denken. Im Vergleich aber gehört Algerien noch zu den besser gestellten Ländern auf dem afrikanischen Kontinent, der noch immer nur unter fünf Prozent der weltweiten Telefonleitungen auf sich verbuchen kann. Rund die Hälfte der 54 afrikanischen Staaten verfügen inzwischen über einen Anschluss ans Internet, viele von ihnen aber nur über Satelliten. Das wirkt sich auf die Preise aus. Eine weitere durchaus genutzte Möglichkeit sind sogenannte store-and-forward Emails, bei denen ein Computer im reichen Norden als Verbindungsstelle dient. Die Station wird gegebenenfalls mehrmals täglich angewählt, um dort gespeicherte Daten zu laden. Die Unabhängigkeit der einstigen Kolonien lässt also auch in den neuen Medien noch auf sich warten.

Selten wird der vermeintlich gut gemeinte Förderwille in den Industriestaaten auch kritisch gesehen. Nach der Einschätzung des Internetexperten der SPD-Bundestagsfraktion, Jörg Tauss, könnten "(...) die Länder des Südens (...) zum ersten Mal unbegrenzten Zugang zu einem der Weltmärkte erhalten, um dort international um Aufträge zu konkurrieren." Bedeutend sei dabei vor allem die "Direktvermarktung von Arbeitsleistungen". Positiv bewertet, stellvertretend für die Gesamtpartei, auch der Arbeitskreis "Internet/ Neue Medien" der Nürnberger SPD den "Wissenstransfer von Nord nach Süd". Wie der in der Tat aussieht, lässt sich dann wiederum in den Armenviertel von Algier gegenprüfen.

Mit Vernetzung die Probleme der Welt zu lösen ist indes ein historischer Trugschluss. "Enlacer l'univers!", ein Ausdruck der alten Idee, das Universum mit Netzwerken zu durchflechten, um so für eine gerechte Verteilung des Besitzes zu sorgen. Schon 1830 gab der französische Sozialreformer Henry de Saint Simon die Parole aus, Kommunikation reduziere sich nicht nur auf den Abstand zwischen zwei Punkten, sondern auch zwischen Klassen. Sie zu verbessern, bedeute Gleichheit und Demokratie, prognostizierte sein Schüler Michel Chevalier. Einem verblüffend ähnlichen Zukunftsoptimismus hängen Befürworter des Ausbaus neuer Medien in der sogenannten Dritten Welt an. Warum aber sollten die Gesetze der Datenaustobahnen andere sein, als die der Eisenbahnverbindungen, der Dampfschiffstrecken und der Telegrafenleitungen? Alle diese Netzwerke haben die Welt in Abhängigkeit von den Zentren Europa und USA strukturiert, Bewegungs- und Meinungsfreiheit war immer nur zu deren Geschäftsbedingungen möglich.

Schon ein kurzer historischer Rückblick macht deutlich, dass die Diskussion mit jeder technischen Neuerung wieder aufflammt, sei es mit der Verbreitung der Verkehrsmittel im Neunzehnten Jahrhundert oder im Zwanzigsten Jahrhundert mit der Verbreitung des Telefon- und Fernsehnetzes. Der Traum von Wohlstand unserer Demokratie hält sich so offensichtlich, wie die Kritik an der Einseitigkeit der Information wächst. Die Verbindungen des neuen Mediums liefen "so sternförmig auf Kalifornien zu wie vordem nur noch koloniale Telegrafenkabel auf London", meint auch der Berliner Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler.

Das kritische Urteil teilt auch Werner Ruf, Professor an der Gesamthochschule Kassel und renommierter Algerienkenner: "In keinem Bereich wird das Nord-Süd-Gefälle deutlicher, als in der Kommunikationsbranche", so Ruf. Indiz dafür sei der einseitige Informationsfluss. Die Machthaber in Algerien aber hätten ein großes Interesse, eine Entwicklung des Internet aus politischen Gründen zu verhindern, denn "man muss sich von dem Gedanken trennen, dass Islamisten fortschrittsfeindlich sind". Auch ihre Inhalte fänden sich im Internet. Zu diesem ideologischen Krieg gesellen sich handfeste ökonomische Interessen: "Das In- und Exportgeschäft ist in Algerien in der Hand einiger weniger", erklärt der Experte. Für sie wäre ein direkter Handel über das Internet natürlich lästig. Fraglich aber ist, ob sie die Entwicklung aufhalten können, schließlich sitzen sie nur am Rand des Netzes. Dessen Mitte aber liegt im Norden. Und während der Ezan, der Gebetsruf des Muezzin, über Algier halt, knien sich Tausende Richtung Osten, nach Mekka, zum Gebet. Mindestens ebenso viele sitzen vor dem Fernseher. Und dessen Antennen zeigen in den Norden. Nach Europa.

Harald Neuber hat Ende August Algerien besucht. Die Veröffentlichung seines Berichts wurde wegen der Anschläge verschoben. Das Thema ist jedoch aktueller denn je.