Verbotene Musik

Das Bastard-Pop-Phänomen zeigt, wie sich die Musikindustrie selbst um Einnahmen bringt

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Sie heißen Freelance Hellraiser, Frenchbloke, Girls on Top, Cassette Boy, Osymyso oder Skkatter - und sie mixen TLC mit Human League, Kraftwerk mit Whitney Houston, Paula mit Missy Elliot, Vitalic mit Yazoo, die Sparks mit Divine, Destinys Child mit den Dead Kennedys und die Severed Heads mit Shannon.

In ihren Stücken stoßen New Order auf Joey Beltram, 808 State auf Will Smith, Madonna auf Telex, Front 242 auf Janet Jackson, Depeche Mode auf Eminem, le Hammond Inferno auf Busta Rhymes, Basement Jaxx auf The Clash. und die Titelmusik der Kinderserie Das Zauberkarussell auf den Spätachtziger-Clubhit "Boing!"

Nur wenige Bastard-Pop-Künstler geben mehr als ein Pseudonym von sich preis. Bei manchen Stücken stehen die Mixmaster sogar völlig im Dunkeln, etwa bei dem als "Uyaws" oder "Fucking Cunt" bekannten und für Bastard-Pop-Verhältnisse fast etwas zu groben musikalischen Scherz: Obwohl das Stück mittlerweile ein Hit ist, kommt es ohne "Urheber" aus. Auf Webseiten wird jedoch spekuliert, dass er von einem Popstar aus den 80ern produziert worden sein soll.

Feste Regeln, welche Stücke wie zu verwenden sind, gibt es nicht. Während Fun da Metal in ihrem Hit Dexy's Enemy nur jeweils ein Stück von den Dexy's Midnight Runners und Public Enemy verwenden, mixt Osymoso in Introspection gleich zwei Dutzend Stücke. Ein gewisser Schwerpunkt scheint sich im Verbinden von 80er-Jahre-Hits mit Charthits von Mädchenbands aus den letzten Jahren zu ergeben. Die wenigen Innovationen der jüngsten Musikgeschichte wie Missy Elliot werden ebenfalls gerne genutzt. Mit einem Rechner, ein wenig Software und einer guten Idee kann jeder selbst einen Bootleg herstellen. Der Acid-Hersteller Sonic Foundry wusste den Bootleg-Boom zu nutzen und veranstaltete einen Wettbewerb, dessen Ergebnisse hier zu hören sind.

Anders als in den Zeiten vor dem Web passiert der Bootleg-Trend relativ gleichzeitig in New York, Glasgow, Manchester, Hamburg oder München. Lediglich die Namensgebung variiert von "Bastard Pop" über "Bootleg" bis hin zu "Mixed Business." Treffpunkte sind hauptsächlich Webseiten wie Boom Selection. Der Ärger mit den Providern ist bei ihnen allein aufgrund des Transfervolumens vorprogrammiert, wodurch Links schnell veralten und Webseiten häufig ihren Standort wechseln.

Ein Zentrum der Produktion von Bastard-Pop ist das Künstlerkollektiv Cartel Communiqué, aus dessen Umfeld Künstler wie Osymyso, Kid606 und V/Vm kommen. Auch die freie visuelle Bearbeitung von Pophits auf Webseiten wie Rathergood und b3ta ist mit der Szene verbunden.

Die Methode der Bootleg-Künstler ist nicht ohne Vorbilder: Schon Ende der 1980er spielte Tim Westwood Public-Enemy-Raps über John-Coltrane-Stücken, die auch in Miniauflagen gepresst wurden. Künstler wie Negativland, John Oswald oder die Justified Ancients of MuMu wandten die Techniken der Verfremdung durch Zusammenfügung bereits in den 1980er und 1990er Jahren an und werden von den erheblich jüngeren Bootleg-Künstlern deshalb als ältere Ausprägung ihrer Bewegung gesehen.

Das Urheberverbotsrecht bzw. das Copyright, das die legale Entstehung dieser Stücke verhindert, wird - das verwundert kaum - innerhalb der Bastard-Pop-Bewegung als Relikt einer vergangenen Zeit betrachtet, das möglichst bald geändert werden sollte. Tatsächlich wird in Großbritannien mit seinem extrem repressiven Copyright, Designs and Patents Act (CDPA) spekuliert, ob die sich anderswo als extreme Verschärfung auswirkende Umsetzung der EU-Richtlinie zum Urheberrecht nicht sogar zu Erleichterungen führen kann. Auch in Deutschland fordern Verlagsvertreter wie Dr. Hanser-Strecker eine massive Lockerung des Urheberverbotsrechts, weil es sonst schon bald nicht mehr möglich sei, CDs mit Werken verschiedener Künstler zusammenzustellen.1

Seit Ende letzten Jahres bewegen sich die Bastard-Pop-Produkte aus dem Netz heraus in den Musikvertriebs-Mainstream. Sowohl der New Musical Express als auch The Face veröffentlichten Ende 2001 erstmals Bootleg-Jahrescharts. Ebenso tauchten im letzten Jahr Boot-Shows auf XFM, Radio 1 und dem Offenen Kanal Hamburg auf.

Einige der Bastard-Pop-Stücke wie "A Stroke of Genius" vom Freelance Hellraiser wurden als limitierte 7" Singles in gutsortierten Plattenläden wie Rough Trade verkauft. Aus den Vinylpressungen von Bootleghits für den DJ-Markt entwickelten sich schnell Clubhits. Mittlerweile gibt es sogar spezielle Veranstaltungen wie "King of the Boots." Eine für die Medienindustrie eigentlich paradoxe Situation: Was volle Tanzflächen bringt, kann nur auf dem grauen Markt in kleinen Auflagen gekauft werden.

In der Zeit der von ihr hervorgebrachten kulturellen Flaute ist die Plattenindustrie mittlerweile sogar darauf angewiesen, den "Nachwuchs" aus dem von ihr selbst illegalisierten Terrain zu rekrutieren: Richard X, Mastermind hinter dem Markennamen "Girls on Top", konnte seinen Bootleghit "We don't give a damn about our friends" (Adina Howard vs. Gary Numan) an den Universal-Konzern verkaufen und hat mittlerweile einen hochdotierten Vertrag über eine LP unterzeichnet - allerdings darf er dafür nur Stücke aus dem Universal-Pool verwenden.

Trotzdem ist die Verwertbarkeit eines Großteils des Bastard Pop der Willkür der Medienindustrie ausgeliefert: So versuchte etwa der Bertelsmann-Konzern zu verhindern, dass der Freelance-Hellraiser-Hit "A Stroke of Genie-Us" im Radio gespielt wurde, obwohl die verwendete Band The Strokes von dem Bootleg begeistert war. Die Angst vor der Macht der Medienindustrie hält sich allerdings alleine aufgrund der Tatsache in Grenzen, dass man - wie ein altes Sprichwort besagt - "einem nackten Mann nicht in die Taschen fassen kann": Cassette Boy etwa, der beim dezidiert discordianischen Label Spymania veröffentlicht, hat wenig Angst vor Copyright-Klagen: "Bisher haben ich und Si etwa 40 Pfund mit dem Album verdient. Wenn wir das zurückgeben müssten, würde es mich nicht wirklich jucken."

Im Bayerischen Rundfunk läuft heute von 17-18 Uhr eine Bastard-Pop-Sendung die auch als Real Audio Stream über das Netz gehört werden kann.