Vergessen und verdrängt

Die Soldaten und Zivilisten aus den früheren Kolonien kamen bei den Feiern zum Kriegsende kaum vor

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In den Geschichtsbüchern hierzulande ist von ihnen kaum die Rede, in den zahlreichen Fernsehsendungen über den Zweiten Weltkrieg kamen sie nicht vor: die Soldaten, Piloten, Lastenträger, Küstenwächter, Funker und Kundschafter aus den ehemaligen Kolonien. Im Zweiten Weltkrieg kämpften sie auf Seiten der Alliierten, zum Teil aber auch in den Armeen Deutschlands, Italiens und Japans. Wenig beachtet sind auch die Opfer von Zivilisten in vielen Regionen der Dritten Welt, die Rohstofflieferungen für die Kriegsproduktion und die Zerstörung von Städten durch Bombenangriffe, etwa an der indischen Ostküste.

Silberne und goldene Medaillen schaukeln vor der Brust hin und her, bunte Abzeichen reihen sich dicht an dicht aneinander. Die Veteranen der Royal British Legion hatten sich zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in Europa fein heraus geputzt. Nicht nur in London, auch in Paris verfolgen alljährlich ehemaligen Soldaten die Militärparaden, die zur Feier des Sieges über Hitler abgehalten werden. Kämpfer aus den ehemaligen Kolonien sind auf diesen Versammlungen kaum zu sehen. Auch auf den Titelblättern präsentieren viele Zeitungen nur Fotos von Befreiern mit weißer Hautfarbe.

Als Joseph Issoufo Conombo, früherer Premierminister in Burkina Faso, 1974 nach einem schweren Autounfall in einem Pariser Krankenhaus lag, fanden gerade die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Landung alliierter Truppen in der Normandie statt. Conombo, der selbst für die Befreiung Frankreichs gekämpft hatte, verfolgte vom Krankenbett aus die Fernsehbilder. Er sah die Parade auf den Champs-Elysées, die der frühere Kommandant der Truppen des Freien Frankreichs, General Charles de Gaulle, abnahm, erkannte einige Offiziere, die er in der Kolonialtruppe kennen gelernt hatte. Aber die schwarzen Soldaten wurden in den Medienberichten mit keinem Wort erwähnt. Deshalb begann er, seine Kriegserlebnisse aufzuschreiben. Er widmete sein Buch "Die Erinnerungen des Tirailleur Sénégalais" seinen Kameraden, schrieb es aber auch ausdrücklich für die Franzosen. Das Buch erschien in Frankreich allerdings erst 15 Jahre später.

"Wer die Macht hat, der hat auch das Sagen, auch in der modernen Geschichtsschreibung. Deshalb zählen weder die Taten noch die Opfer der unterdrückten und kolonialisierten Menschen", sagt Professor Kum'a Ndumbe III von der Universität Jaunde in Kamerun. Die Soldaten, Zwangsarbeiter und Hilfskräfte aus den früheren Kolonien dagegen seien "als unnütze leere Schale auf den Müllhaufen der Geschichte" geworfen worden, kritisiert der Wissenschaftler.

Nach Informationen der Royal Commonwealth Ex-Services League (RCEL), einer britischen Wohlfahrtsorganisation, die Veteranen aus dem Commonwealth unterstützt, haben neben den sechs Millionen britischen Soldaten auch fünf Millionen aus dem Commonwealth am Zweiten Weltkrieg teilgenommen. Davon stammten rund 2,5 Millionen aus Indien, Afrika, Australien und dem Nahen Osten. In der französischen Armee kämpften Soldaten aus Nord- und Westafrika. In der US-Army marschierten Afroamerikaner und Native-Americans.

In der Gegend des heutigen Äthiopien standen sich über 200.000 afrikanische Soldaten auf beiden Seiten der Front gegenüber, in Burma kämpften rund hunderttausend Soldaten aus West- und Südafrika gegen die japanischen Streitkräfte, in Frankreich zehntausende Inder gegen die Wehrmacht. Soldaten aus Brasilien kamen in Italien zum Einsatz, koreanische Truppen im Südpazifik. Von China über Vietnam bis nach Indonesien und den Philippinen operierten einheimische Guerillatruppen gegen die alten Kolonialmächte und die neuen japanischen Besatzer.

Es ist schwierig, genaue Zahlen zu nennen: Die Soldaten aus den ehemaligen Kolonien seien in den offiziellen Statistiken der Kriegsteilnehmer und Gefallenen oft nicht mitgezählt worden, schreiben die Autoren des Buchs "Unsere Opfer zählen nicht". Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, das vor kurzem erschienen ist.

Das Rheinische JournalistInnenbüro Köln legen erstmals umfangreiche Ergebnisse zu diesem Thema. Das Redaktionskollektiv und einige weitere Autoren haben zehn Jahre lang Mitglieder von Veteranenverbänden und andere Zeitzeugen interviewt, ehemalige Schlachtfelder besucht und in Archiven geforscht. Die Herausgeber kommen zu dem Schluss:

Ohne den Beitrag der Kolonialisierten hätte der Zweite Weltkrieg einen anderen Verlauf genommen und die Befreiung der Welt vom deutschen und italienischen Faschismus sowie vom japanischen Großmachtwahn wäre noch schwieriger und langwieriger gewesen.

Die Dritte Welt war jedoch keineswegs nur Opfer. Auch darauf weisen die Autoren hin: Einige antikoloniale Zusammenschlüsse haben mit den Nationalsozialisten kollaboriert, etwa im Nahen Osten. In Asien, von Indien und Burma bis Thailand und Indonesien, sympathisierten Hunderttausende mit den faschistischen Mächten und meldeten sich freiwillig für den Krieg. Und ein anderes Beispiel: 3.000 Rekruten der "Indischen Legion" innerhalb der Wehrmacht ließen sich 1944 in die Waffen-SS eingliedern und verübte Massaker an der französischen Zivilbevölkerung.

"Für die Deutschen war ich nicht besser als ein Affe"

Die Kolonialsoldaten in den alliierten Armeen waren keine ebenbürtigen "Kameraden" ihrer weißen Mitkämpfer, weder in der Militärhierarchie, noch Kleidung, Verpflegung, Besoldung und Unterbringung. Kamen sie in deutsche Kriegsgefangenschaft hatten sie zudem unter der grausamen Behandlung der Nationalsozialisten zu leiden. Offensichtlich war, dass man Schwarze auf deutschem Boden nicht dulden wollte bzw. dass sie zumindest nicht öffentlich präsent sein sollten.

So schreibt das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) 1941 in einem Brief von einem "Führerbebefehl", wonach "im Prinzip keine Schwarzen auf deutschem Boden verbleiben und die wenigen für Sonderzwecke genehmigten Farbigen unter keinen Umständen mit dem zivilen Leben in Berührung kommen sollen". Nach dem OKW befanden sich im Januar 1941 500 Schwarze im Stammlager Luckenwalde "für tropenmedizinische Studienzwecke". Außerdem sei die "Hauptmasse" der afrikanischen Kriegsgefangenen (80.000) auf Befehl des Führers nach Südfrankreich abgeschoben worden. Peter Martin, Herausgeber des Buches Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus erwähnt zudem Befehle einzelner SS-Offiziere, Schwarze bei der Gefangennahme sofort zu erschießen.

Edouard Kouka Quédrogo aus dem damaligen Obervolta, der 1939 Unteroffizier des Sechsten Bataillons der Tirailleurs Sénégalais war, wie die Franzosen die Kolonialsoldaten aus Westafrika nannten, schildert seine Erlebnisse in dem Buch "Unsere Opfer zählen nicht". Nach Kämpfen an der Somme in Frankreich geriet er 1940 in deutsche Gefangenschaft.

Meine Gefangenname durch die boches habe ich bis heute nicht vergessen. Ich hatte schon in Quagadougou Mein Kampf gelesen und wusste, dass ich für die Deutschen nicht besser war als ein Affe. Die boches hatten wirklich eine merkwürdige Art sich zu vergnügen. Wenn wir irgendwo anhielten, wussten sie genau, dass wir Schwarzen vor Durst fast umkamen. Trotzdem ließen sie uns vor einem Springbrunnen antreten. Das machte den brennenden Durst noch schlimmer. Ein Deutscher ging mit einem automatischen Gewehr neben dem Brunnen in Stellung, und dann ließen sie uns allein. Getrieben vom unerträglichen Durst und in der Hoffnung, der Wärter möge nichts bemerken, stürzten wir uns im Pulk auf den Brunnen. Schon spukte das Maschinengewehr Feuer. Die als Erste das Wasser erreicht hatten, brachen unter den Kugeln zusammen, die anderen schreckten zurück, und die deutschen Schweinehunde bogen sich vor Lachen.

Nach knapp zwei Jahren Zwangsarbeit gelingt es ihm zu fliehen, dann schließt er sich der Résistance an und gehörte 1944 zu den Befreiern von Paris.

Die Ungleichbehandlung setzte sich auch nach dem Krieg fort

Wie viele andere zurückgekehrte Kriegsteilnehmer auch - zum Beispiel Léopold Sédar Senghor und Franz Fanon -, spielte er eine wichtige Rolle in den entstehenden antikolonialen Bewegungen. Die Ungleichbehandlung setzte sich auch nach dem Krieg fort. Nicht nur die versprochene Freiheit und Unabhängigkeit blieb aus. Veteranen erzählen, dass sie in ihr Land zurückkehrten und dort mit einer kleinen Abfindung, einem Fahrrad zum Beispiel oder zwei Wolldecken, abgespeist worden seien. Bis heute kämpfen sie für Kriegsrenten.

In den vergangen zwei Jahrzehnten fanden in vielen Ländern der Dritten Welt Ausstellungen, Paraden und Konferenzen zu diesem in Europa unterbelichteten Thema statt. Regisseure aus dem Senegal, Ghana und Gabun drehten Spielfilme und Dokumentationen, Veteranenverbände forderten Entschädigung. Danach ist es für die ehemaligen Kolonialmächte schwierig geworden, den Einsatz der Kolonialsoldaten im Zweiten Weltkrieg länger zu verschweigen. Die britische Regierung etwa weihte in London 57 Jahre nach Kriegsende ein erstes Denkmal ein, das an die Soldaten aus Indien, Nepal, Pakistan, Sri Lankas, Afrika, der Karibik und dem Königreich Nepal erinnert. Und Frankreich lud erstmals zum 60 Jahrestag der alliierten Landung in der Provence im August 2004 zwanzig Staatschefs und Regierungsvertreter sowie Hunderte Kriegsveteranen aus Afrika ein.

Einer der Autoren des Buches "Unsere Opfer zählen nicht", Karl Rössel, sprach auf einer Veranstaltung der diesjährigen Tagung der Bundeskoordination Internationalismus (Buko), die Anfang Mai in der Universität Hamburg stattfand, die Situation in Deutschland an. Hier seien den Historikern und Publizisten die Kolonialisierten weiterhin nicht der Rede wert. Das soll sich ändern: Er möchte eine Debatte vorantreiben, die nicht nur damalige Kolonialmächte wie Frankreich und Großbritannien in die Pflicht nimmt, sondern die das Augenmerk auf Deutschland - als Hauptverursacher des Krieges - richtet. Denn für die Schäden, die es (neben Italien und Japan) in den Ländern Nordafrikas, Asiens, Ozeaniens und an der Küste Lateinamerikas anrichtete, hat es nie angemessene Reparationen zahlen müssen.

Recherche International e.V. (Hg.): "Unsere Opfer zählen nicht". Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg, 2005. 444 Seiten, 400 Fotos und 10 Karten, 29,50 Euro

Peter Martin und Christine Alonzo (Hg.): Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus. Dölling und Galitz Verlag, München/Hamburg 2004. 790 Seiten, 480 Schwarz-Weiß- und Farbabbildungen, 29,80 Euro

Joseph Issoufou Conombo: Souvenirs de guerre d'un Tirailleur Sénégalais. L'Harmattan (Mémoires africaines), 1989. 200 Seiten, 16,80 Euro