Vergesst Baudrillard (nicht)

Ein Symposium am Zentrum für Kunst und Medientechnologie würdigte Jean Baudrillard zu seinem 75. Geburtstag und zeigte, wie einflussreich sein Denken noch immer ist

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Die Toiletten im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe sind videoüberwacht. Draußen vor dem Eingang hängt ein Monitor, auf dem sich Kabinen und Pissoirs einsehen lassen. Seltsam nur, dass niemand je darauf zu sehen ist. Denn in Echtzeit abgefilmt werden kleine Modelle der stillen Örtchen, die sich innerhalb der Toiletten befinden. Für den Direktor des ZKM, Peter Weibel, hat diese "Simulation einer Überwachungssituation" den Vorzug, das Reale nicht zu tangieren. Sie ist eine reine Repräsentation, die für real gehalten wird - somit eine "echte" Simulation. Auf diese Weise lässt sich ein Missverständnis umgehen, von dem ein großer Teil der Medienkunst geprägt ist, die sich auf die Simulationstheorie Jean Baudrillards bezieht und das Reale mit seiner Darstellung verwechselt.

Jean Baudrillard

In den achtziger Jahren war Baudrillard besonders von amerikanischen Künstlern vereinnahmt worden, die sich mit der Bezugnahme auf seine Simulationstheorie auf der Höhe der Zeit wähnten. "Die Simulationstheorie wurde als intellektuelle Währung und als Referent benutzt", konstatierte Baudrillard auf einem anlässlich seine 75. Geburtstags am Wochenende im ZKM ausgerichteten Symposiums. Dabei definiere sich die Simulationstheorie gerade dadurch, "dass es keine Referenten mehr gibt". Denn das Reale ist durch Zeichen des Realen ersetzt worden und von diesem phänomenologisch nicht zu unterscheiden, wohl aber analytisch. "Also", frozzelte der Meister in Anspielung auf seine Publikation über Michel Foucault, "vergesst Baudrillard!"

Das allerdings steht nicht zu befürchten. Jean Baudrillard liegt immer noch gut im Rennen. Sein inzwischen 34 Publikationen zählendes Werk ist in viele Sprachen übersetzt worden. Allein in Deutschland liegen 24 Titel vor, die meisten davon sind im kleinen Berliner Merve-Verlag erschienen. An den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Unis gehört Baudrillard längst zur Standardlektüre, mit der sich nicht nur zeitgenössische Phänomene gut interpretieren lassen, sondern auch intellektuelles Potenzial überprüfen. Selbst angewandte Künste, etwa die Architektur, lassen sich gerne inspirieren, wie Colin Fournier auf dem Symposium zeigte, als er ein von ihm im österreichischen Graz errichtetes Kunstmuseum vorstellte, dessen amöbenhafte, auf Ambiguität abzielende Form gleichzeitig die Schwierigkeit der praktischen Umsetzung von theoretischen Gedankengebäuden vorführte. Nicht zuletzt für die Cyberkultur und die Phänomene, die von neuen Medientechnologien hervorgebracht wurden, haben sich viele der Einsichten und Vorhersagen Baudrillards als außerordentlich wirkmächtig erwiesen. "Baudrillards Wirkung ist so enorm", fasste Peter Weibel zusammen, "weil er nicht nur Philosoph, sondern auch Schriftsteller und Künstler ist."

Das starke Ereignis

Wie intellektuell herausfordernd das Werk des französischen Meisterdenkers ist, davon legte das dreitägige Symposium beredtes Zeugnis ab. Baudrillard hat ja nicht nur mit seiner Simulationstheorie Furore gemacht, sondern auch mit weiteren analytischen Stichwörtern, die zumindest in die Alltagssprache der Feuilletons eingekehrt sind: Simulakra, Präzession, Ekstase, Obszönität, Viralität, Transpolitik, Transökonomie, Promiskuität, Exorzismus, usw.

Auch mit den vielen, stets pointiert formulierten Invektiven zum Zustand der Zeit machte er auf sich aufmerksam. Beispielsweise als er sich im Nachklang auf die Ereignisse des 11. September 2001 in New York mit einer Arbeit über Terrorismus auf die Theoriebühne zurückmeldete. Die von ihm frühzeitig beklagte "Agonie des Realen", welches sich nur noch durch "schwache Ereignisse" oder Simulationen auszeichne, war durch ein wahrhaft "starkes Ereignis", nämlich den Angriff auf die Twin Tower, mit einem Mal vorbei. In einem in "Le Monde" erschienenen Artikel und kurz darauf in seinem Buch "Der Geist des Terrorismus: Ein Requiem für die Twin Tower" beschreibt Baudrillard auf provozierende Weise, wie sich die Terroristen die Technologien des Westens zu eigen gemacht hatten, um ein "Spektakel des Terrors" zu inszenieren und so die Anfälligkeit des Westens für Anschläge dieser Art zu demonstrieren. Seitdem herrsche eine "posttraumatische Abreaktion sowohl auf das Ereignis selbst als auch auf die Faszination, die es ausübt".

Was Baudrillard dabei angreifbar gemacht und ihm den Vorwurf des Antiamerikanismus eintragen hatte, war seine damalige Hypothese, dass die Welt voll terroristischer Fantasien sei und sich jeder die "Zerstörung des Hegemons" USA als Antwort auf die Globalisierung insgeheim gewünscht habe. Noch heute scheint der amerikanische Kulturwissenschaftler Douglas Kellner, der diese Ideen auf dem Symposium vorstellte, seine Schwierigkeiten zu haben, Baudrillards Radikalität folgen zu können. Dessen schlichte Gleichsetzung von Globalisierung als dem Gegenteil von Demokratie lehnte Kellner für sich ab:

Baudrillards Darstellung von Menschenrechten, Demokratisierung und Gerechtigkeit, die einer obsoleten Universalisierung zugehören, welche von der Globalisierung ausgeschaltet werde, ist theoretisch und politisch problematisch.

Der Kunstwissenschaftler Boris Groys hingegen nahm den Faden wieder auf, als er dem Westen ein Unvermögen bescheinigte, mit dem terroristischen Freitod umzugehen. Weil Tod im Westen generell tabuiert, eliminiert und von der Doktrin des (möglichst langen) Weiterlebens ersetzt worden sei, ist die Idee des Opfertodes schwer nachvollziehbar: "Der Terrorist ist bereit zu sterben, aber nie seine Würde zu verlieren." Umgekehrt sei die westliche Kunst und Kultur gerade beseelt von dem Wunsch nach einer restlosen Demontage ihrer eigenen Würde. Angefangen bei George Batailles' Selbstverlust bis zum projektierten Scheitern als Programmatik aller historischen Avantgarden. Selbst populäre Phänomene, wie der Big-Brother-Container und die "Holt mich hier raus! Ich bin ein Star"-Show, basieren auf dem inneren Verlangen nach Desavouierung und Selbstbeschmutzung - sowie freilich auf dem Voyeurismus des Publikums. In diesem Licht betrachtet, stellen für Groys die öffentlich gewordenen Folterszenarien aus dem Abu-Graib Gefängnis quasi Selbstreflexionen des Westens dar, weil darin die Ikonografien der Subkultur der sechziger und siebziger Jahre zu erkennen sei: "Das Gezeigte ist die Wahrheit unserer Kultur".

Nun mag man lange darüber streiten, wie geläufig amerikanischen Soldaten die europäische Subkultur der sechziger Jahre ist, ob diese wirklich - bewusst oder unbewusst - bis dorthin diffundieren konnte.(Vielleicht darf man das Militär einfach nicht unterschätzen?) Die kunstimmanenten Betrachtung von Groys zeigte zumindest, dass sich die beabsichtigte Entwürdigung der Opfer gegen die Täter gewendet hatte: "Das schlechte Gewissen des gesamten Westens konkretisiert sich in den Bildern", stellte bereits Baudrillards fest, der diese "Parodie von Gewalt" als "pornografisches Antlitz des Krieges" geißelte.

Auch Florian Rötzer kam auf den neuzeitlichen Terrorismus zu sprechen, der sich für ihn durch den Verzicht auf jegliche Tausch- und Diskursbeziehung auszeichnet. Wollten früherer Generationen von Terroristen mit einer Tat noch etwas Unmittelbares bewirken, beispielsweise die Freipressung von Kombattanten, stellen sich die heutigen Attacken als singuläre Ereignisse dar. Eine mögliche Absicht, so Rötzer, sei allein im Ringen um Aufmerksamkeit und Medienpräsenz zu erkennen. Eine Strategie, die offenkundig aufgeht: Der terroristischen, aufmerksamkeitsheischenden Bilderproduktion wird durch die virale Verbreitung von Bildern des Folterns und Sterbens in Internet und Fernsehen freimütig Folge geleistet. Selbst auf Kritiker, die sich darüber moralisch empören, haben diese Bilder noch einen so großen Einfluss, dass sie als Illustration der Empörung jeweils mitgeliefert werden, wie Rötzer anhand der ARD-Website zeigte, wo man sich über eine öffentliche Enthauptung im Irak entrüstete, auf die Fotos allerdings nicht verzichten wollte.

Die Dominanz des Bildes

Diese Dominanz des Bildes hat bei Jean Baudrillard stets etwas Zweischneidiges. Als Bestandteil seiner Simulationstheorie kann das Bild ein Ereignis überlagern, ihm sogar vorausgehen (so wie die Ursachen für den Irakkrieg erst im Nachhinein mühevoll konstruiert wurden, d.h. den Wirkungen folgten). Andererseits vermag das Bild eine Ästhetik des Verschwindens zu begründen, die im Zentrum der Arbeiten von Jean Baudrillard steht. Fotografie ist für Baudrillard ein Medium der Absenz: sie bringt hervor, was längst verschwunden ist. Weil die Objekte jedoch nicht zu retten sind, verbleibt nur ihre Spur der Zeichen im Bild.

Ganz in diesem Sinn verstand sich eine parallel zum Symposium von Peter Gente (Merve-Verlag) organisierte Ausstellung, die neben einer Werkschau auch Fotografien von Jean Baudrillard beinhaltete. Eigentlich müsste man Schnappschüsse sagen; weit von einer Komposition entfernt, beharren diese Bilder auf ihrer Zufälligkeit: Baustellen, verfallene Häuser, Gras im Fensterrahmen. Eine Öllampe, die Lichtreflexe auf ein Mauerwerk wirft, wird der französischen Corbières zugeordnet, ein Wolkenhimmel samt inmitten einer Siedlung liegenden Kirche ist mit "Chicago" untertitelt. Welche Faszination und Verführung hatten bloß diese Objekte in Jean Baudrillard wachgerufen, so dass er sie ablichtete?

Andere Fotografien zeigen den nackten Baudrillard, der sich im Spiegel mit der Kamera vor dem Gesicht beim Fotografieren fotografiert. Es drängt sich die Idee auf, dass Baudrillard nicht bloß in der Tradition von Nietzsche, Adorno, Marx und Freud steht, sondern auch in der einer Romantik, die den unaufhaltbaren Lauf der Welt beklagt.