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Verkehrspolitik: Die Kompetenz der Vielen

Fahrrad-Demos werden als Aktionsform immer beliebter. Hohe Kaufprämien gibt es aber für Elektroautos. Foto: System Change not Climate Change / CC-BY-SA-2.0

Mehr Demokratie wagen? Doch, das geht auch, wenn der Planet bewohnbar bleiben soll. Vielleicht stehen die Chancen dann sogar besser. Ein Plädoyer für betriebliche Demokratisierung, Transformations- und Bürgerräte

Die Klimakrise erfordert eine grundlegende Mobilitätswende. Für die meisten Menschen würde diese mehr Lebensqualität bedeuten. Und trotzdem gibt es im Bundestag und in den Landesparlamenten heute keine Mehrheiten für das notwendige Umsteuern. Festgefahrene Strukturen, Gesetze und eine Rechtsprechung, die sich am Bestehenden orientiert, reagieren nicht auf die Dringlichkeit. Ein demokratischer Schub ist erforderlich, um den notwendigen Wandel unserer Produktions- und Lebensweise voranzubringen.

Der von Sabine Leidig [1] herausgegebene Sammelband „Linksverkehr - Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung“ [2] ist am 6. Mai im oekom-Verlag [3] erschienen. „Die Kompetenz der Vielen“ ist ein Auszug aus diesem Buch. Zusammengetragen wurden darin konkrete Erfahrungen, theoretische Überlegungen sowie praktisches Wissen, Kritik an den herrschenden Verkehrsverhältnissen und Ideen, die über dieses System hinausreichen.

Alte Strukturen aufbrechen: gestalten statt reagieren

In der herrschenden Verkehrspolitik wird ein Verkehrssystem als nahezu unveränderbar angesehen, das erst in den letzten 70 Jahren zur Normalität wurde. Mächtige Interessengruppen, besonders die Auto-, Bau- und Mineralölindustrie, halten das Bild aufrecht, dass eine Verkehrswende Verzicht und Verlust bedeuten würde. Unter diesem Einfluss, gehen die Parlamente und Regierungen einen grundlegenden sozialökologischen Umbau gar nicht erst an.

Die kleinen Schritte in Richtung Verkehrswende waren Reaktionen: auf Proteste und Volksinitiativen, auf Skandale (Dieselgate), auf Gerichtsurteile (zu Stickoxidgrenzwerten) und auf eine sich ändernde Medienberichterstattung. Bei dem reaktiven Handeln geht es vor allem um Profilierung und den Anschein guter Politik. Dahinter steht letztlich die Angst vor dem Verlust von Macht und Ansehen. Wie in kaum einem anderen Politikfeld fehlt in der Verkehrspolitik - zumindest auf Bundesebene - der Mut zur (Um-)Gestaltung. Um die Verkrustung aufzubrechen, ist dreierlei erforderlich: Erstens das aufrichtige Nachdenken: Wohin hat uns die bisherige Verkehrspolitik geführt?

Sind die bisherigen Planungsgrundlagen noch sinnvoll? Welche (Macht-)Strukturen blockieren und welche fördern die Suche nach Lösungen im Sinne sozialer und ökologischer Ziele? Zweitens die Suche nach guten, kreativen Lösungen mit allen Betroffenen: Statt politischer Kämpfe, in denen es um Rechthaben und Mehrheiten geht, brauchen wir neue Formen des politischen Austauschs. Statt von Strategien und Programmen auszugehen, muss das Verständnis der verschiedenen (Mobilitäts-)Bedürfnisse der Menschen zum Ausgangspunkt werden. Auf dieser Grundlage können kollektive Intelligenz und Kreativität für neue Konzepte genutzt werden.

Drittens benötigen wir ein neues Verständnis von Führung, gerade bei Berufspolitiker:innen. Es geht um inspirierende Ideen, aber auch darum, gemeinsam erarbeitete Entwicklungsziele engagiert in die Tat umzusetzen. Ein allgemeines Verständnis dafür, dass auch Fehler gemacht werden, muss mit der Offenheit für Kritik und mit Lernbereitschaft einhergehen. Die Projekte sollen zum Wohle aller gelingen und nicht der Profilierung einzelner dienen. Mit Blick auf den heutigen Politikbetrieb klingt das utopisch. Die Frage ist, welche Strukturen, Instrumente und Methoden Demokratie in diese Richtung fördern.

Das Potenzial von Bürgerräten

Ein vielversprechender Ansatz sind Bürgerräte. Für jeden Bürgerrat werden zwischen 50 und 200 Einwohner:innen per Zufall ausgelost, aber so, dass die Zusammensetzung einem Abbild der Gesamtbevölkerung entspricht - nach Bildungsgrad, Alter, Geschlecht, Stadt-Land, Migrationshintergrund und so weiter.In Irland, England, Frankreich und anderen Ländern wurden schon vielfältige Erfahrungen gesammelt.

In Deutschland hat "Mehr Demokratie e.V." den ersten bundesweiten Bürgerrat 2019/20 zu mehr Demokratie organisiert. Auf lokaler Ebene gibt es inzwischen eine Handvoll Bürgerräte, weitere sind geplant. Ein Beispiel ist der Klimaneustart Berlin. Der maßgebliche Unterschied zu Parlamenten oder auch Expertenkommissionen ist, dass in Bürgerräten Menschen als solche zusammen-kommen. Sie sind nicht Vertreter:in einer Fraktion oder einer Interessengruppe mit klarer Positionierung. Es gibt keine Gegner:innen, die überzeugt oder überstimmt werden müssen.

Hier kann ein konstruktives Potenzial freigesetzt werden, das in Machtkämpfen zwischen oder auch innerhalb der Parteien meist untergeht. Über ein Beispiel berichtete die Schweizer Internetzeitung Infosperber im Juli 2020: "Tempo runter - Steuern rauf: Der französische Bürgerrat legt weitreichende Vorschläge zum Klimaschutz vor. Er möchte für das Klima sogar die Verfassung ändern. Wenn Bürgerinnen und Bürger selbst über den Kurs der Regierung entscheiden, sind ihre Vorschläge überraschend radikal. Das Tempo runter auf maximal 110 Kilometer pro Stunde, keine Inlandsflüge mehr, und in Kantinen soll künftig immer Veggie-Day sein.

Diese Aufzählung ist keine Wunschliste einer Umweltorganisation, sondern der Wille des französischen Volkes." Bürgerräte sind eine Chance, gesamtgesellschaftlich tragfähige und sozialökologisch ausgewogene Lösungsvorschläge zu finden. Sie können den Parlamentarier:innen Mut machen, auch gravierende Veränderungen anzugehen.

Volksentscheide: Einfallstor für Populismus?

Volksentscheide galten lange als das Mittel der Wahl für mehr Bürgerbeteiligung. Sie sind ein gutes und sinnvolles Korrektiv: Wenn Parlamente und Regierungen Entscheidungen treffen oder sich vor Entscheidungen drücken, können die Bürger:innen diese korrigieren. In der Verkehrspolitik wurde da-mit schon einiges ins Rollen gebracht - vor allem für Fahrräder. Durch das Referendum zum Brexit ist das Instrument jedoch in die Kritik geraten. Der Fall hat aber vor allem gezeigt: Von oben verordnet und ohne eine gute öffentliche Diskussion im Vorfeld, führen Abstimmungen zu Polarisierung. Mit der Zuspitzung auf die Ja-Nein-Frage wird das Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse oder gute Kompromisse nicht gefördert - genauso wenig wie durch Werbung oder Wahlkampf.

So, wie vor Volksentscheiden eine breite Debatte wichtig ist, die in Bürgerräten stattfindet und von ihnen geführt werden kann, ist es für Bürgerräte wichtig, dass ihre Empfehlungen nicht einfach ignoriert werden können, sondern die Umsetzung auch durch einen Volksentscheid erzwungen werden kann.

Partizipation als Lernprozess

Neben Bürgerräten gibt es viele weitere Formate, bei denen Bürger:innen von Anfang an mitwirken. Dazu zählen Runde Tische, Planungszellen, Bürgerforen und Bürgerhaushalte. Hier zeigt sich immer wieder, dass die Beteiligten mit großer Ernsthaftigkeit an einer für alle guten Lösung arbeiten, wenn es sich nicht um Alibi-Veranstaltungen handelt.In einer lebendigen Demokratie werden ergänzende Beteiligungsformen nicht als Angriff auf etablierte Verbände und Institutionen, auf Parlamente und Regierungen gewertet. Ihre Ergebnisse und Erfahrungen werden als Bereicherung aufgenommen - inhaltlich, aber auch in der Haltung und den Methoden, wie miteinander kommuniziert und nach besseren Regelungen gesucht wird. Davon sind wir leider noch weit entfernt.

Für echte Mitgestaltungsmöglichkeiten in Kommune und Betrieb. Gleich, ob über Bürgerräte, Volksentscheide oder andere Formen der Partizipation: Die Motivation, sich einzubringen, wird umso größer, je mehr die Menschen ihr Lebensumfeld aktiv mitgestalten können und merken, dass sie tatsächlich etwas bewirken. Gerade Verkehrspolitik kann und muss vor Ort gestaltet werden. Es ist wichtig, dass neue Ansätze in den Kommunen ausprobiert und weiterentwickelt werden. Das ist aber schwierig, wenn beispielsweise Verordnungen die Einrichtung von verkehrsberuhigten Zonen oder Zebrastreifen stark einschränken. Hier braucht es einen erweiterten rechtlichen Spielraum für Kommunen - und selbstverständlich auch Geld, um Projekte umsetzen zu können.

So, wie die kommunale Selbstverwaltung heute stark eingeschränkt ist, sieht es auch im Bereich der Wirtschaft aus. Wo Renditeziele und Marktgesetze herrschen, ist für Mitgestaltung nur am Rande Platz. Demokratisierung heißt daher auch, den politischen Gestaltungsbereich auszuweiten. Dafür muss kooperatives Handeln wieder in Bereichen möglich werden, in denen heute der Wettbewerb vorherrscht. Auch die Wirtschaft bedarf einer umfassenden Demokratisierung.

Kooperationen stärken gegen Markt und Konzernmacht

Zur gesellschaftlichen Daseinsvorsorge gehören nicht nur Gesundheit, Pflege, Bildung, Wasser- und Energieversorgung. Auch Wohnen, Infrastruktur und Verkehr müssten zum Wohle der Allgemeinheit gestaltet werden. Im Zuge neoliberaler Politik wurde fast überall marktwirtschaftlicher Wettbewerb durchgesetzt. Der verhindert, was Kooperation ermöglichen können. So kann beispielsweise der Lieferverkehr auf der letzten Meile effizienter und umweltfreundlicher werden, wenn er aus einer (öffentlichen) Hand gesteuert wird.

Der Verkehrssektor benötigt gesellschaftlich ausgehandelte Reduktions- und Umbauziele. Dafür ist nicht nur die öffentliche Infrastruktur umzubauen, sondern auch die private Wirtschaft beherzt zu regulieren. Förderung und Subventionierung müssen mit politischer Mitsprache einhergehen. Wenn Autokonzerne Hilfen wie Forschungsförderung oder E-Auto-Prämien bekommen, dann soll die öffentliche Hand auch bei der Produktentwicklung mitreden.

Die Stärkung der öffentlichen Dienste muss auch mit der Aufwertung von Arbeitsplätzen in diesem Bereich verbunden sein. Das Ansehen und vor allem die Entlohnung der Kernbelegschaften in transnationalen Konzernen sind immer noch deutlich höher als in der Daseinsvorsorge. Das ist (geschlechter-)ungerecht und produziert Fachkräftemangel. Nicht nur beim öffentlichen Verkehr, auch in Kontrollbehörden oder für Stadtentwicklung. Was allen nützt, ist oft auf Kante genäht. Das ist auch ein Problem für die Demokratie.

Demokratisierung der Wirtschaft

Solange die Bilanzziele von Konzernen auf steigende Dividenden ausgerichtet sind, werden Geld und Einfluss immer wieder dafür genutzt, gemeinwohlorientierte Ziele zu unterlaufen. Eine echte Transformationsstrategie spielt in den Konzernen keine Rolle. Sollte das Geschäftsmodell scheitern, sind die Beschäftigten und nicht die tonangebenden Großaktionäre die Verlierer.Schon deshalb sind mehr Mitbestimmungsrechte erforderlich. Zum Beispiel ein Vetorecht der Belegschaft gegen Standortverlagerung, da-mit das Erpressungspotenzial gemildert wird. Genauso nötig ist ein Initiativrecht der Betriebsräte für Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen sowie Produktkonversion. So könnten die Kompetenz und die Zukunftsinteressen der Beschäftigten bei der Unternehmensentwicklung eine größere Rolle spielen. Die Perspektiven der Beschäftigten sind langfristiger und umfassender als die des Managements, das oft gar nicht in der Region verankert ist.

Vorbild dafür sind die konkreten Zukunftskonzepte, die Betriebsräte von Bombardier für jeden einzelnen ihrer Standorte in Deutschland entwickelt haben - unterstützt von der IG Metall. Es geht um die Produktion von Schienenfahrzeugen und digitale Technik dafür. Aber weil das Mitbestimmungsrecht fehlt, kann die kanadische Konzernleitung Personalabbau und Werksschließungen durchsetzen. Sie will Verluste beim Flugzeugbau auf Kosten der Bahntechnik-Sparte ausgleichen.

Das Kapitalinteresse kann ohne Rücksicht auf den gesellschaftlichen Bedarf exekutiert werden.In den letzten Jahrzehnten sind neue Organisationsformen und betriebliche Entscheidungsmodelle entstanden sowie alte weiterentwickelt worden, in denen es mehr Mitsprache der Belegschaft und anderer Stakeholder wie Verbraucher:nnen oder Kommunen gibt. Oftmals geht es dabei auch um die Frage nach dem übergeordneten Sinn der Organisation und der hergestellten Produkte.

Um solche Ansätze zu fördern, müssten Gesetze geändert werden, welche die Rechtsformen für Unter-nehmen regeln. Neben der Politik ist auch die Wissenschaft gefragt, Modellprojekte zu begleiten. Die Betriebswirtschaftslehre an den Hochschulen muss in diesem Sinne erweitert oder sogar auf eine ganz neue Basis gestellt werden. Öffentliche Aufträge und Förderung sollten an Mindestkriterien für betriebliche Demokratie geknüpft werden.

Transformation demokratisch gestalten

Manche Regionen in Deutschland sind regelrecht abhängig von der Autoindustrie. Dort steht ein grundlegender Wandel an, der eine große demokratische Herausforderung darstellt. Damit nicht Angst vor Verlust und Veränderung um sich greift, müssen schnellstens Transformationskonzepte entwickelt werden - mit allen Betroffenen.

Dafür gibt es konkrete Ideen und auch schon erprobte Modelle: Sozial- und Wirtschaftsräte, Transformationsräte oder der "Fonds Zivilgesellschaft" für die Lausitz. Dabei ist die gute Beteiligung von Gewerkschaften, Umweltverbänden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Hochschulen, Unternehmen, Kommunen und Landesvertretungen zentral. Die Zukunft der Verkehrswirtschaft darf nicht in den Chefetagen von VW, Daimler, BMW & Co entschieden werden.

Für den Wandel kämpfen und Menschen zusammenbringen. Es ist wichtig und richtig, dass Bürger:innen für eine Verkehrswende kämpfen, sich gegen mächtige Interessen zusammenschließen und sich zerstörerischen Plänen in den Weg stellen. Gleichzeitig ist es notwendig, demokratische Prozesse weiterzuentwickeln und Milieus zusammen zubringen. Dazu gehört das Vertrauen in die Kreativität der Vielen und in den Prozess, in dem sich Menschen offen und vorbehaltlos begegnen und sozial ausgewogene ökologische Lösungen finden können. Wir brauchen eine Bildung, die uns alle zum verantwortungsvollen Mitgestalten ermächtigt. Es geht um die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse jenseits von manipulativer Werbung und (gesellschaftlichen) Glaubenssätzen zu erkennen, die Bedürfnisse der anderen zu verstehen und mit Konflikten konstruktiv umzugehen.

Und wir brauchen viele Persönlichkeiten, die in der Lage und willens sind, solche Prozesse zu gestalten. Leider gibt es sie in der etablierten Politik,die von Profilierung und dem Kampf um Mehrheiten dominiert wird, kaum.In neuen sozialen Bewegungen wie Fridays for Future, Ende Gelände oder Sand im Getriebe weht bereits ein anderer Wind. Im Kampf gegen das alte fossile System werden hier ganz bewusst Erfahrungen gesammelt, wie möglichst hierarchiefrei und kooperativ zusammengearbeitet werden kann, wie alle nach ihren Möglichkeiten einbezogen werden. Es ist ein Lernprozess.

An manchen Orten gibt es Nachbarschaftsinitiativen, die zum Beispiel beratschlagen, wie das Lebensumfeld von Autos entlastet werden kann. Und auch in manchen Unternehmen existieren partizipative Ansätze. Aber das reicht nicht. Erforderlich sind gesetzliche Spielräume, Geld für Modellprojekte, für wissenschaftliche Begleitung und für die Ausbildung von Prozessbegleiter:innen. Entscheidend ist, dass das demokratische Potenzial, das achtsame Miteinander und die Wirksamkeit von allen Einwohner:innen systematisch gestärkt werden.


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[2] https://www.oekom.de/buch/linksverkehr-9783962383046
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