Verlorene Unschuld in Istanbul

Orhan Pamuk im Museum. Bild: Pressefoto Masumiyet Müzesi

Zur Gentrifizierung in einer sich rasant entwickelnden Stadt, die ihre Vergangenheit abstreift

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Mitten im Istanbuler In-Stadtteil Beyoglu, unweit von Galataturm und Goldenem Horn, steht ein tiefrot angestrichenes Eckhaus, das ins Auge sticht. Es will so gar nicht passen zu den verfallenden Fassaden in der Straße, den verfilzten Hunden und Katzen, zum fünfmal täglich erschallenden Ruf der Muezzine. Es wirkt wie etwas aus einem Traum oder Alptraum, etwas, das aus der Realität fällt. In dem Haus ist Orhan Pamuks "Museum der Unschuld" (Masumiyet Müzesi) untergebracht, das der Literaturnobelpreisträger zusammen mit seinem gleichnamigen Roman konzipierte. Es beherbergt eine kleine Geschichte Istanbuls in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - ein Istanbul, das nach und nach verschwindet…

Istanbuler Stadtteil Beyoglu von Eminönü aus gesehen. Bild: Gerrit Wustmann

Pamuk selbst hatte Roman und Museum stets als Einheit gesehen, etwas, das zusammengehört, ein Gesamtkunstwerk. Tatsächlich ist das "Museum der Unschuld" eine begehbare Version des Buches um die Liebesgeschichte von Kemal und Füsün. Während er das Buch schrieb sammelte Pamuk bereits all die kleinen Gegenstände, die er auf Märkten, in Antiquariaten und bei Straßenhändlern erstand, und nicht selten gab ein Gegenstand Anlass für eine Szene im Roman, in dem Kemal akribisch alles sammelt, was ihm eine Verbindung zu seiner Geliebten gibt.

Es beginnt mit Zigarettenkippen - über 4100 davon sind in der Eingangshalle an eine Wand gepinnt. Es sind Füsüns Zigaretten, und unter jeder ist handschriftlich eine kleine Notiz geschrieben, die Aufschluss darüber gibt, wann und wo sie geraucht wurde, in welchem Zusammenhang, stichworthaft. Diese Notizen hat Pamuk selbst an die Wand geschrieben, ebenso wie er die meisten der 83 Schaukästen (analog zu den 83 Kapiteln des Romans) selbst bestückt hat - mit alten Fotos, Ausweisen, Tee- und Kaffeetassen, Rakiflaschen, Spielzeugen, Uhren, Tinnef, Kleidungsstücken, Filmausschnitten, Notizbüchern etc. Jeder Gegenstand erzählt eine, erzählt tausend Geschichten. Über sich, über seinen realen und seinen fiktiven Vorbesitzer, über Istanbul. Der Charme des Vergangenen entfaltet sich, Erinnerung wird lebendig. Pamuks Museum bündelt das, was man in den Straßen und Gassen Istanbuls hier und dort noch wahrnehmen kann, was aber immer weniger wird: Der Charme einer Stadt, eines Lebensgefühls, der zunehmend der Gentrifizierung geopfert wird.

Trotzdem ist die Existenz des Museums keine Selbstverständlichkeit. Spätestens seit Pamuks Freund, der armenische Journalist Hrant Dink, im Januar 2007 auf offener Straße erschossen wurde und Pamuk sich offensiv in die Öffentlichkeit stellte, Dialog forderte um ein Bewusstsein zu schaffen für die Probleme, die von radikalen Nationalisten ausgehen, wurde er angefeindet und bedroht. "Ich bin mir bewusst, dass ich in der Türkei nicht sicher bin", sagte Pamuk in der Dokumentation "Insan Manzaralari", in der der deutsch-türkische Filmemacher Osman Okkan Pamuk nebst weiteren türkischen Literaten portraitierte - von denen fast jeder seine Erfahrungen mit der türkischen Justiz gemacht hat. Pamuk und einige andere profitieren von ihrer internationalen Popularität, während andere - Schriftsteller und Journalisten - im Gefängnis landen für allzu kritische Äußerungen zu nationalen Themen, Kritik an der Regierung oder am Umgang mit der eigenen Geschichte, insbesondere des Völkermords an den Armeniern, der die Gemüter bis heute aufbrausen lässt. Trotz des Engagements von Menschen wie Pamuk, Dink, Yasar Kemal, Günter Grass und weiteren ist eine neutrale Aufarbeitung der eigenen Geschichte in der Türkei noch fern, gibt es Redeverbote und rote Linien, die man allenfalls überschreiten darf, wenn man die Weltöffentlichkeit hinter sich hat.

Blick vom Galata-Turm: In der klaffenden Lücke stand ein Wohnhaus, auch hier soll wieder gebaut werden. Bild: Gerrit Wustmann

Auch im weltoffenen Istanbul brodelt es an allen Ecken und Enden. Während die einen die Zustände kritisieren, verweisen die anderen auf die Geschichte der Stadt, die immer vom Wandel geprägt war, wo das Alte regelmäßig immer wieder dem Neuen weichen musste. Die Gegend um Karaköy, Tophane, Cihangir und Tarlabasi verändert sich so schnell, dass man kaum mithalten kann. Ein Haus, das am einen Abend noch stand kann am nächsten Morgen schon fort sein. Verfallene Ruinen stehen zwischen komplett sanierten Altbauten, wo vor wenigen Wochen oder Monaten noch Familien in x-ter Generation lebten, leben heute Neureiche aus aller Welt. Viele Luxuswohnungen samt Dachterrasse mit Bosporusblick werden kaum zwei Wochen im Jahr genutzt. Istanbul ist hip, wer Geld hat, kauft sich hier Wohneigentum, es zu nutzen scheint erstmal zweitrangig.

Sanierter Bau mit Luxusappartments. Bild: Gerrit Wustmann

Die Werbeschilder von Real-Estate-Haien begegnen dem Besucher in Cihangir inzwischen an jeder Ecke, die europäischen und amerikanischen Anzugträger und Smartphone-Dauernutzer, die Gebäude von der Straße aus emotionslos abschätzen werden von den Einheimischen argwöhnisch beäugt, denn sie wissen: Wenn die Stadt ihr Haus verkaufen will, dann wird sie es verkaufen, und kein Gericht der Welt wird etwas daran ändern. Als Immobilienstandort steht Istanbul heute höher in der Gunst der Heuschrecken als München. Reihenweise werden Häuser abgerissen und durch neumodische architektonische Geschmacklosigkeiten ersetzt, ganze Straßenzüge werden planiert, auf der traditionsreichen Istiklal Caddesi in Beyoglu musste erst kürzlich trotz massiver Proteste ein altes Kultkino weichen - hinter der klassischen Fassade steckt jetzt ein Konsumtempel samt dreistöckigem Elektronikmarkt.

Neu hochgezogenes Design-Haus mit Luxusappartments in der Tatar Beyi Sokak, Beyoglu. Bild: Gerrit Wustmann

Wo früher alteingesessene Händler ihre Waren verkauften sprießen nun fast täglich neue Galerien mit hauptsächlich ausländischen Künstlern aus dem Boden - dass vor jeder Eröffnung lautstark auf der Straße gefeiert wird stößt bei den teils konservativen Einheimischen verständlicherweise auf Unmut. Der Stadtverwaltung sind deren Beschwerden und Sorgen allerdings herzlich egal. In Tophane nahmen die Anwohner im letzten Jahr selbst die Zügel in die Hand - und gingen mit gefrorenen Früchten als Wurfgeschosse bewaffnet auf die Feiernden los. Auch das eine Form von Culture Clash, allerdings eine höchst vermeidbare, wenn statt Geld hin und wieder auch mal die Vernunft regieren würde.

Links eine Galerie neben einer Ruine in Beyoglu. Bild: Gerrit Wustmann

Tut sie aber nicht - im Gegenteil. Erst kürzlich ließ die Stadtverwaltung mit rabiaten Methoden ohne große Vorwarnung Tische und Stühle unzähliger Gastronomen in Beyoglu von den Straßen entfernen. Das Mobiliar derer, die es nicht schnell genug wegräumten, soll zu Bruch gegangen sein. Offiziell eine Sicherheitsmaßnahme, damit die Feuerwehr bei den nicht selten vorkommenden Bränden besseren Zugang hat. Inoffiziell kursiert die Geschichte, Reccep Tayip Erdogan und sein Limousinentross sei Ende 2011 nicht durch die engen Gassen gekommen und die Weisung zur Räumung unmittelbar danach von ganz oben. Ein weiteres Gerücht besagt, den islamistisch-konservativ geprägten Politikern in der Stadt gefalle es nicht, dass junge Menschen unterschiedlichen Geschlechts in Feierlaune hier so einfach und unkompliziert miteinander anbändeln können (als würden weniger Tische unter freiem Himmel daran etwas ändern).

Orhan Pamuk vor seinem Museum in Beyoglu. Bild: Pressefoto Masumiyet Müzesi

Von all dem ist im "Museum der Unschuld" wenig zu spüren. Hier herrscht nostalgisches "hüzün", dieses Gefühl zwischen Glück und Melancholie, das einen befällt, wenn man all das sieht, was noch sein könnte, nun aber im Museum konserviert werden muss - und so wird das Haus mit der tiefroten Fassade ein Museum der verlorenen Unschuld einer Stadt, die nicht zu sich selbst steht. Obwohl sie jeden Grund dazu hätte…