Verlust der Geschichte?

Amerikanische Behörden haben Probleme mit der Archivierung von digitalen Dokumente

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Behörden produzieren eine Menge Dokumente, die über lange Zeit aufbewahrt werden müssen. Solange die Dokumente nur auf Papier vorlagen, waren sie an den Ort der Archive gebunden und nur schwer zugänglich, aber sie hatten den Vorteil, daß man sie, wenn sie gut gelagert waren, ohne Probleme noch Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später lesen konnte. Im elektronischen Zeitalter ist das anders. Mehr und mehr Daten werden in elektronischen Dateien und Datenspeichern abgelegt - und sie können dann auch von jedem Befugten zu jeder Zeit und an jedem Ort abgerufen werden. Man geht davon aus, daß bereits in einigen Jahren in den USA 90 Prozent der Schriftstücke elektronisch verarbeitet und gespeichert werden.

Wunderbar, könnte man sagen, schließlich verfallen digitale Daten auch nicht wie Papier und können jederzeit fehlerlos kopiert werden. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Schon vor über 10 Jahren wurde von einem amerikanischen Kommitee mit der Durchsetzung der Computer die Befürchtung geäußert, daß für das Land "die Gefahr droht, sein Gedächtnis zu verlieren." Anders als Papiere, an deren Archivierung man gewohnt ist, werden die Millionen von digitalen Dokumenten von den Behörden mit unterschiedlicher Hardware und Software verarbeitet und gespeichert. Und mit jedem Jahr, das ins Land geht, gibt es neue Formate und Computer und werden alte ausrangiert. Welche es in der Zukunft geben wird, ist natürlich unbekannt. Und die Rückwärtskompatibilität ist nicht endlos. Ohne entsprechende Software und Hardware aber können die digitalen Dokumente nicht mehr abgerufen werden, überdies verstopft die schiere Menge die Speicherkapazitäten.

Der Leiter des amerikanischen Bundesarchives John Carlin hatte wegen der sich auftürmenden Schwierigkeiten 1996 angeordnet, daß die Behörden E-Mails und andere elektronische Aufzeichnungen löschen können, falls davon Kopien auf Papier vorliegen. Ansonsten würden die Computersysteme irgendwann ausgeschöpft sein oder gar zusammenbrechen. Eine Reihe von Organisationen, darunter Public Citizen, die American Library Association und die American Historical Association, haben gegen diese Anweisung geklagt, weil sie fordern, daß die digital vorhandenen Dokumente auch entsprechend der technischen Möglichkeiten besser zugänglich und durchsuchbar sein sollten als Dokumente auf Papier. Das Gericht gab dem Einspruch im Oktober 1997 Recht, erklärte Carlins Anordnung für null und nichtig, weil er seine Verantwortung nicht erfüllt habe, "die Dokumente, die für die Verwaltung, die Justiz, die Wissenschaft und anderswo von Bedeutung sind", sicher zu archivieren, und forderte diesen dazu auf, bis zum 30.9.98 neue Regeln zu erstellen.

Carlin hat jetzt gesagt, daß er noch keine neue Regeln formulieren könne, welche digitalen Daten gespeichert werden müssen und welche gelöscht werden können. Zudem habe zunächst die Umstellung der Behördensysteme wegen des Jahr-2000-Problems Vorrang, die keinen Aufschub zulasse. Eine von ihm eingesetzte Arbeitsgruppe aber habe erste Empfehlungen zu dem Problem gegeben, das dringend gelöst werden müsse, denn die elektronischen Aufzeichnungen würden das bislang größte Problem der Archivierung für die Regierung darstellen: "Wie identifizieren, verwalten, bewahren und stellen wir einen fortlaufenden Zugang zu E-Mail, mit Textverarbeitung erstellten Dokumenten und anderen Arten elektronischen Aufzeichnungen sicher, die in vielen Formaten vorliegen, sich in ihrer Quantität explosiv vermehren und schneller Zerstörung, Medieninstabilität und dem Veralten von Systemen ausgesetzt sind? Es gibt keine andere Möglichkeit, als darauf Antworten zu finden, weil die Alternative unwiederherstellbare Information, verminderte Verantwortlichkeit der Regierung und verlorene Geschichte wäre."

Zwar habe man bisher zumindest geleistet, daß die breite Öffentlichkeit sich der Größe und des Ernstes des Problems der Archivierung von elektronischen Dokumenten bewußt geworden ist, doch seien die Möglichkeit der Behörden, diese zu verwalten, bestenfalls begrenzt. Und solange die elektronischen Dokumente noch nicht die Verläßlichkeit und Integrität der üblichen archivierten Dokumente besitzen, könnten sie nicht als gespeicherte Kopien dienen - was heißt, daß Carlin sie weiterhin ausgedruckt sehen möchte. Man sei gegenwärtig nur in der Lage, Kopien von Dateien zu machen, um Datenverlust zu vermeiden, aber man könne sie noch nicht archivarisch verarbeiten, beschreiben und zugänglich machen. Viele der Archivierungsprinzipien, die für Papiere gelten, müssen im elektronischen Zeitalter überarbeitet werden. Um der Herausforderung gerecht zu werden, brauche man mehr Geld, mehr Personal, neue, teure Technik und vor allem mehr Zeit.

Kritiker werfen der National Archives and Records Administration vor, geschlafen zu haben. Doch vermutlich stehen viele Länder vor einem ähnlichen ungelösten Problem. Das digitale Zeitalter ist bei aller Speicherwut vergeßlich.

Siehe auch: Das Netz hat (noch) kein Gedächtnis.