Vermutlich bekomme ich Voten von denjenigen, die finden, dass Technik nicht ausschließlich in die Hände von Technikern gehört

Email-Interview mit Jeanette Hofmann, Bewerberin um einen Sitz im ICANN-Direktorium

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Das Internet ist von einem geschlossenen Kommunikationsmedium für Experten zu einer wichtigen Plattform des gesellschaftlichen Diskurses geworden. Das Internet hat begonnen, die Gesellschaft zu durchdringen. Es ist ein Politikum. Jeanette Hofmann ist Politikwissenschaftlerin und hat sich seit Beginn der 90er Jahre in Projekten wie Kulturraum Internet am Wissenschaftszentrum Berlin mit diesen politischen Fragen beschäftigt: "Die Schnittstelle zwischen Technik und Politik im Internet ist seit 1994 mein Forschungsthema", sagt sie. Deswegen war für sie auch schon früh die Internet-Regierung ein Thema. So untersuchte sie beispielsweise, ob die selbstregulierenden Prozesse in den Internet-Gremien wie der IETF auch für andere Bereiche der Gesellschaft beispielhaft sein können. Auch die sozialen Prozesse bei der Entstehung offener Standards (Der Erfolg offener Standards und seine Nebenwirkungen), die eng mit denen im Internet verknüpft sind, waren Gegenstand von Hofmanns Forschungsarbeit.

Jeanette Hofmann hat sich selbst für die Wahl zur europäischen ICANN-Direktorin nominiert. Nach Andy Müller-Maguhn vom CCC, mit dem vor kurzem Stefan Krempl für Telepolis ein Gespräch) führte, liegt sie mit 247 "Endorsements" (Stand: 20. August 23 Uhr 40) an zweiter Stelle der Bewerber auf der Liste. Mit den "Endorsements" sprechen die registrierten Wähler aus, wem sie ihr Vertrauen schenken. Hinter den beiden Deutschen sind die übrigen Kandidaten bislang weit abgeschlagen. Über die Kandidatur und die Wahl befragte Günter Hack in einem Email-Interview Jeannette Hofmann.

Im Gegensatz zu vielen anderen erfolgreichen ICANN-Kandidaten steht keine Industrielobby und kein Verein hinter Ihnen. Gelten im Internet nun doch dieselben Spielregeln wie in der Offline-Politik, dass unabhängige Kandidaten meistens chancenlos sind?

Jeanette Hofmann: Diese Frage impliziert, dass ich eine erfolglose Kandidatin bin, die, weil unabhängig, chancenlos ist. Schon ein Blick auf die bisherigen endorsements zeigt, dass erstens unabhängige Kandidaten durchaus Chancen haben, und dass ich zweitens auch ohne Verein im Rücken gar nicht so schlecht dastehe. Worauf also zielt die Frage ab? Und im übrigen möchte gar nicht zum Jammern eingeladen werden ;-)

Müller-Maguhn ist Pressesprecher des CCC, welchen man durchaus als Interessenvertretung bezeichnen könnte. Andererseits konnte beispielsweise Axel Zerdick, der von Interessengruppen mit höherem Organisationsgrad als dem CCC unterstützt wird, wesentlich weniger Stimmen auf sich vereinen als Sie. In der Offline-Politik wird unter dem Stichwort "Amerikanisierung" eine immer stärkere Konzentration der Wahlkampagnen auf einzelne Personen festgestellt und beklagt. Werden in dieser speziellen Internet-Wahl eher Personen oder Organisationen gewählt? Und: Welche Eigenschaften sehen Sie in den bisher erfolgreichen ICANN-Kandidaten?

Jeanette Hofmann: Da wir über die WählerInnen so wenig wissen, ist es entsprechend schwer, ihre Wahlkalküle zu beurteilen. Auch hat sich ja erst ein Bruchteil der registrierten Mitglieder bequemt, die Wahlberechtigung zu aktivieren und davon auch noch Gebrauch zu machen. Mein Eindruck ist, dass zum einen die (persönliche) Bekanntschaft - und das heißt auch die "Netzbiographie" - der KandidatInnen eine Rolle spielt. Zum anderen repräsentieren die KandidatInnen natürlich unterschiedliche Herangehensweisen an die Verwaltung der Namen und Nummern. Vermutlich bekomme ich Voten von denjenigen, die finden, dass Technik nicht ausschließlich in die Hände von Technikern gehört. Hinzu kommt wohl auch ein Selbstläufereffekt: Wer bereits viele Stimmen hat, zieht höhere Aufmerksamkeit auf sich und hat entsprechend größere Chancen, in die engere Wahl gezogen zu werden.

Die klassischen politischen Parteien stellen sich im Umgang mit dem Internet regelmäßig ungeschickt an. Worauf würden Sie das zurückführen?

Jeanette Hofmann: Ungeschickt? Ungeschickter als andere Organisationen oder Verbände verhalten sie sich vermutlich auch nicht. Ungeschickt kommt dem Netizen eventuell vor, dass sich die Unterschiede zwischen Internet und den alten Medien noch nicht bei allen rumgesprochen haben, die sich zum Netz äußern. Dies betrifft etwa die dezentrale Architektur des Netzes. Diese schließt aus, dass das Internet in ähnlicher Weise kontrolliert und reguliert wird wie die alten Medien. Die Ausbreitung rechtsradikalen Gedankenguts im Cyberspace verlangt daher andere Antworten als bei den Broadcastmedien.

Frühe Netzutopisten sahen das Internet als herrschaftsfreien neuen Kontinent. Pessimisten meinen, dass das Netz, wie alle anderen Lebensaspekte in den modernen Industriestaaten, überreguliert werden wird. Sehen Sie eine Chance, dem Netz seine Freiheitsgrade zu erhalten?

Jeanette Hofmann: Ein herrschaftsfreier Raum ist das Internet sicher nicht mehr. Wahrscheinlich war es das auch nie und wir verklären nur seine Kindertage. Aber die kulturelle und politische Vielfalt ist immer noch bedeutend größer als in den Broadcastmedien. Das finde ich ein verteidigungswertes Gut. Und ich bin der festen Überzeugung, dass es in den Weiten der digitalen Welt genug Leute gibt, die das nicht nur genauso sehen, sondern auch die Phantasie und Begabung mitbringen, sich praktisch dafür einzusetzen.

: Sie untersuchen seit langem die Willensbildungsprozesse im Internet. Konnte die Selbstregulierung nur so lange funktionieren, wie das Internet ein beschränktes Soziotop weniger Techniker und Wissenschaftler war?

Jeanette Hofmann: Der Begriff der Selbstregulierung scheint mir inzwischen irreführend. Wer oder was ist das ominöse Selbst, das das Internet regiert haben soll? Bestimmt nicht Nutzer wie Sie und ich. Das "Selbst" heißt nichts anderes, als dass sich bis etwa Mitte der 90er Jahre die meisten Regierungen in die Verwaltung des Netzes nicht eingemischt haben. Es waren die Ingenieure, die das Sagen im Netz hatten; darunter vor allem seine "Väter", die die Paketvermittlungstechnik in den späten 60 Jahren zur Anwendungsreife entwickelt haben.

Die, wenn man so will, charismatische Autorität der Väter, auch ihre informelle, rechtlich nicht abgesicherte Organisationsform entsprach irgendwann nicht mehr der ökonomischen Bedeutung ihrer Entscheidungen. Auch die Nicht-Techniker verlangten Mitspracherechte in der Verwaltung der Domainnamen. Das finde ich ein berechtigtes Ansinnen, wirft aber natürlich die Frage nach dem künftigen Kräfteverhältnis zwischen den unterschiedlichen Interessen auf.

An den Willensbildungsstrukturen innerhalb der IETF hat sich zwar in den 90er Jahren einiges geändert, die Grundprinzipien sind aber erhalten geblieben. Nach wie vor gilt, dass die IETF keine formellen Mitgliedschaftsregeln kennt, also offen für die Beteiligung Interessierter ist. Nach wie vor gilt auch, dass jeder nur mit seiner eigenen Stimme spricht, so dass sich die Marktmacht einzelner Unternehmen nicht eins zu eins in den Entscheidungsprozessen widerspiegelt.

Wird die Entwicklung im Internet eher von sozialen oder von technischen Prozessen determiniert?

Jeanette Hofmann: Meiner Meinung nach handelt es sich um ein Wechselverhältnis. Genauer betrachtet wird man sogar sagen können, dass die Grenzen zwischen technischen und sozialen Normen im Internet fließend sind. Der "Code" definiert Regeln, die das Verhalten von Maschinen definieren. Zugrundegelegt werden bei der Formulierung dieser Regeln moralische oder pragmatische Prinzipien, die in vielen Fällen ebenso gut für die Interaktion zwischen Menschen gelten könnten.

Ein Beispiel dafür ist ein Algorithmus namens "sliding window". Vereinfacht ausgedrückt bestimmt dieser das Tempo, in dem Datenpakete hintereinander durchs Netz geschickt werden. Ist etwa der Datenverkehr auf einer bestimmten Verbindung hoch, wird die Übertragungsrate vermindert, um dann langsam wieder anzusteigen. Auf diese Weise wird nicht nur eine effiziente Nutzung der Leitungskapazität erreicht, die Leitungsressourcen werden auch unter allen Nutzern relativ gleichmäßig aufgeteilt. Würden die Autofahrer die Regeln dieses Algorithmus beherzigen, gäbe es weniger Staus und Unfälle auf den Autobahnen. In diesem Sinne enthält die Netzarchitektur durchaus eine Moral, die sich auf Maschinen und Menschen gleichermaßen beziehen lässt. Solche in die Tiefen der Technik eingelassenen moralischen Prinzipien sind im übrigen der Grund, warum ich die strikte Trennung zwischen Politik und Technik für irreführend halte. Larry Lessig, einer der vom Nominierungskomitee vorgeschlagenen amerikanischen Kandidaten für ICANN, nähert sich diesem Zusammenhang aus der rechtlichen Perspektive und sagt: "Code is law!".

Sehen Sie die ICANN eher in der Nähe techniknaher Regulierungsinstanzen wie der ITU oder als NGO, als poltitischen Akteur?

Jeanette Hofmann: Die Verwaltung von Namen und Nummern ist inzwischen eine gleichermaßen technische wie auch politische und ökonomische Angelegenheit. Politisch ist sie mindestens insofern, als inzwischen private Besitzansprüche gegenüber Ressourcen behauptet werden, die bis vor wenigen Jahren als öffentlicher Kollektivbesitz aller Nutzer verstanden wurden. Die Diskussion über die Reform des Domainnamensystems ist durchzogen von Macht- und Verteilungskämpfen. Die Frage, wie groß der Namensraum werden darf und welche Organisationen beziehungsweise Prinzipien die Vergabe von Domainnamen künftig bestimmen, ist keine technische, sondern eine politische.

Der Umgang mit politischen und sexuellen Extremisten fordert die Netzgemeinde seit geraumer Zeit heraus, ohne dass auch nur ansatzweise eine Lösung für die damit verbundenen Probleme gefunden werden konnte. Könnte die ICANN in diesem Konflikt eine positive, klärende Rolle spielen?

Jeanette Hofmann: Bloß nicht. ICANN ist im wesentlichen für die Verwaltung von Domainnamen und IP-Adressen zuständig. Das ist auch gut so. Das Internet stellt inzwischen eine so komplexe Landschaft dar, dass jeder Versuch einer umfassenden zentralen Regulierung in einem Desaster enden würde. Auch ist kaum zu erwarten, dass ICANN jemals das Mandat für eine Regulierung von Inhalten bekommen würde. Oder kann sich jemand vorstellen, dass sich alle Kulturkreise dieser Erde tatsächlich auf eine gemeinsame Definition von Erlaubtem und Unerlaubtem verständigen können?

Das klingt, mit Verlaub, ein wenig nach einem Rückzug vor der Komplexität auf die Ebene der "neutralen Technik". Oben haben Sie bereits angeführt, dass im Internet die eingesetzte Technik immer auch eine soziale Dimension enthält. Fragen um Domains wie "heil-hitler.de" sind da noch harmlos. Aber was ist mit, sagen wir mal, "heil-hitler.tv"?

Jeanette Hofmann: Zum einen ist die Technik ja nicht neutral, sondern provoziert selbst schon jede Menge politischer Konflikte. Zum anderen hat die Strategie der Selbstbegrenzung Tradition im Internet. In der Netzarchitektur wie auch in dessen Verwaltung gilt das Prinzip, dass zentrale Kompetenzen auf ein Minimum beschränkt bleiben sollen. Und selbst bei diesem Minimum handelt es sich um umstrittene Größen. Man denke etwa an den "primary root server" und die verschiedenen Vorstöße, um sich dieser Zentralgewalt über den Namensraum zu entledigen.

Das Credo der Netzgemeinde lautet seit jeher, dass so viel Aufgaben wie möglich an die Endpunkte des Netzes zu delegieren sind. Dieses Prinzip sollte auch für die Regulierung von Inhalten gelten, auch wenn dies, zugegeben, den Internethandel nicht eben glücklich stimmt. Aber was wäre denn die Alternative? Soll Europa vielleicht mit China in Verhandlungen über die politisch korrekten Grenzen der Meinungsfreiheit treten?

Um auf die Frage nach den Gründen für den ungeschickten Umgang mit dem Internet zurückzukommen: Der Preis, der zu zahlen wäre, um ein globales Medium erfolgreich den nationalen Gesetzgebungen zu unterwerfen, ist so hoch, dass wir ebenso gut auch gleich zu BTX und Minitel zurückkehren könnten.

Wie könnte sich ICANN entwickeln, wenn es - für Ihre Begriffe - "gut ausgeht"?

Jeanette Hofmann: Wie das Internet selbst würde sich ICANN noch eine Weile selbst neu erfinden, das heißt, im Wege eines Suchprozesses Strukturen und Prozeduren für eine faire, transparente Willensbildung entwickeln.

Die große Herausforderung sehe ich hierbei vor allem darin, die Vielfalt der Nutzer angemessen zu repräsentieren und zu beteiligen. Es gibt ja kaum Erfahrungen im Bereich globaler Willensbildung jenseits nationalstaatlicher Repräsentanz. Erschwert wird diese Aufgabe durch die amorphe, sich ständig ändernde Zusammensetzung der Netizens. Wenn es also gut ausgeht, ist irgendwann ein neue Organisationsform entstanden, die flexibel genug ist, den Wandel in der Netzbevölkerung zu reflektieren und in ihren selbst gesetzten Regeln zugleich ausreichend pragmatisch, um trotzdem arbeits- und entscheidungsfähig zu sein. Im Ergebnis hätten wir dann erstmals eine globale Infrastruktur, die demokratisch verwaltet wird.

Welches sind die Gefahren auf dem Weg dorthin?

Jeanette Hofmann: Dass sich die gut organisierten Interessen aus Politik und Wirtschaft den mehrheitlich ehrenamtlich tätigen privaten Nutzern wie üblich als überlegen erweisen.

Was würden Sie tun, um die Lösung der anstehenden Probleme zu unterstützen? Haben Sie schon konkrete Ideen, wie die von Ihnen skizzierte positive Entwicklung der ICANN beeinflussen könnten?

Jeanette Hofmann: Die bevorstehende Wahl der At-Large-Direktoren beschleunigt und verbreitert einen vielleicht überfälligen Prozess: Die Nutzer beginnen sich international besser zu koordinieren. Mit der icann-europe@fitug Mailingliste entsteht derzeit eine Plattform, die nicht nur der Diskussion mit den KandidatInnen dient, sondern auch einen Austausch über die zukünftige Organisation der At-Large-Membership in Gang setzt. Die At-Large-Membership sollte sich nicht auf die Rolle eines Wahlvereins beschränken lassen, sondern sich, vergleichbar den bestehenden Unterorganisationen von ICANN, ihre eigene Satzung schaffen. Zusammen mit den At-Large-Direktoren können sie dann eine der tragenden "Säulen" von ICANN bilden.