Verteidigung des Dünkels

Bis heute ist "Demokratiedefizit" einer der Hauptkritikpunkte am europäischen Einigungsprojekt, aber es war ein unerhörtes Friedens- und Wohlstandsprojekt

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Paris, 1968. Ein Trupp von revoltierenden Studenten, angeführt von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und einigen anderen Starintellektuellen der Zeit, rollt durch die Straßen der französischen Hauptstadt. Gegen die Bourgeoisie, gegen den Kapitalismus, gegen die Eliten. Vor einem Gebäude macht die Menge plötzlich halt. Was da steht, ist kein gewöhnliches Wohnhaus. Im obersten Stock, umgeben von gewaltigen Regalen, aus denen die Buchrücken panoptisch auf ihn herabblicken, sitzt Michel Foucault an seinem Schreibtisch und arbeitet. Den holen wir herunter, entscheiden Sartre und Beauvoir und klingeln an der Haustür. Schließlich richtet sich ihr Protest gegen dasselbe oppressive System, wogegen auch Foucault anschreibt.

Wenige Augenblicke darauf erhalten sie eine Abfuhr. Sie könnten gerne protestieren gehen, soll Foucault gesagt haben. Das sei etwas, was die Massen gut können. Er hingegen bleibe lieber am Schreibtisch. Denn das, was er dort leistet, das könne nur er.

Der Schriftsteller Robert Menasse, der diese Anekdote während eines Podiumsgesprächs zum Besten gibt, nennt es "Dünkel". Michel Foucault, der Intellektuelle, der seine Schützlinge, die Unterprivilegierten des Systems, verraten hat. Doch noch am selben Abend stimmt Menasse ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die direkte Demokratie an: "Wenn das gemeine Volk entscheiden könnte, dann würde es noch morgen die Todesstrafe wieder einführen. Wollen wir das?" Wer Robert Menasse kennt, weiß, dass der Schriftsteller in Wirklichkeit ein Sympathisant elitären Denkens ist, mal offener, mal verkappter. Genauso gilt auch sein politisches Engagement einem Elitenprojekt schlechthin: der Europäischen Union.

Schon die älteste europäische Einigungsbewegung, die "Paneuropa-Union" von 1924, geht auf einen Herrn zurück, der nicht gerade für sich beanspruchen konnte, den kleinen Mann zu repräsentieren. Richard Coudenhove-Calergi, der bis zum Adelsaufhebungsgesetz von 1919 als Graf geführt wurde, war ein erstes Kind der Globalisierung. Sein Vater war österreichischer Diplomat, seine Mutter japanische Kauffrau. Die aristokratische Herkunft kommt dem Idealisten, der nach dem Trauma des Ersten Weltkriegs einen neuen "europäischen Bürgerkrieg" unbedingt verhindern wollte, bis heute nicht zugute. Vor allem rechte Verschwörungstheoretiker erkennen in ihm einen abgehobenen Lanzenbrecher des Globalismus, einen Vordenker der neuen Weltordnung, in der mächtige Eliten die Souveränität einzelner Nationalstaaten untergraben.

Nicht weniger elitär verlief auch die Gründung der EU selbst. Bis heute ist "Demokratiedefizit" einer der Hauptkritikpunkte am europäischen Einigungsprojekt. Doch eigentlich zeugt schon die Tatsache, dass dieses Demokratiedefizit öffentlich debattiert wird, von einer Demokratisierung der EU.

In ihren Anfängen wäre das nicht möglich gewesen. Zu abgeschottet waren die Gespräche, die Europas Zukunft verhandelten. Die Einsicht, dass interstaatliche Bündnisse, von der Heiligen Allianz bis zum Völkerbund, bislang immer gescheitert waren, erwuchs aus dem privaten Dialog einiger weniger Visionäre. Stattdessen, so war man sich bald einig, soll ein supranationaler Zusammenschluss von Staaten entstehen, die wirtschaftlich so eng miteinander verstrickt sind, dass kein Staat mehr dem andern einen Nachteil bereiten kann, ohne sich selbst zu schaden. Nur so könne man im Vielvölkerkontinent Europa den ewigen Frieden sicherstellen. Treibende Kraft hinter dieser Idee war bekanntlich ein Unternehmer, der zeitlebens kein Träger offizieller politischer Mandate war: Jean Monnet. Er wurde nie demokratisch gewählt.

So sehr die aktuelle Demokratisierung der EU begrüßenswert ist, so eindringlich muss auch daran erinnert werden, warum die entscheidenden Entstehungsmomente der EU - etwa der Schumann-Plan oder die Römischen Verträge - historische Hinterzimmer-Ereignisse waren, von denen die Bevölkerung möglichst wenig erfahren sollte. Die Gründerväter der EU wussten, dass ihre Einsichten zum damaligen Zeitpunkt nicht mehrheitsfähig waren. Viel zu tief saßen nationalistische Ressentiments noch im Herzen einer französischen Mutter, die ihre Söhne an die deutschen Invasoren verloren hatte; zu tief im Gedächtnis eines Deutschen, dessen Vater von italienischen Partisanen erschossen wurde. Der Frieden war aber als politisches Anliegen so dringend, dass man nicht darauf warten konnte, bis der Wille zur Völkerverständigung zur breiten Masse durchsickerte.

Wie ist es heute: Wäre ein Jean Monnet noch möglich? Die neueren Versuche der politischen Eliten, sich in diskreter Abgeschiedenheit zu unterreden, stoßen bei der Bevölkerung auf immer heftigeren Argwohn. Wer an bestimmten, von der Öffentlichkeit abgeriegelten Konferenzen teilgenommen hat, trägt in den Augen vieler Bürger schon eine Art Stigma. Politiker, die gewählt werden wollen, halten sich von solchen Veranstaltungen deshalb fern. Sie verzichten bestenfalls auch auf die Arroganz von Charterflügen und optieren für volksnähere Linienflüge, so wie Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz es zu tun pflegt. Dass er dann womöglich übermüdet zur nächsten Konferenz antritt, ist Nebensache. Das Image muss passen. Und zwar so, dass der kleine Mann, die kleine Frau sich damit identifizieren können. Denn: Nur weil man Kanzler ist, muss man noch lange nicht zur Elite gehören. "Elite", das klingt im heutigen Sprachgebrauch allzu sehr nach Volksfeind, nach Arroganz, nach Dünkel. Es klingt nach dem ewigen Klugscheißer, der alles besser weiß.

Der Haken ist bloß: Die Gründerväter der EU wussten es tatsächlich besser. Die EU entpuppte sich, trotz aller Baustellen, an denen noch gearbeitet werden muss, als unerhörtes Friedens- und Wohlstandsprojekt. Auch Michel Foucault wusste es besser: Sein "Dünkel" bestand in der Einsicht, dass er am Schreibtisch mehr für seine Sache leisten konnte als auf der Straße. Und Politiker? Wünschenswert wären nicht Politiker, mit denen sich jeder identifizieren kann, sondern solche, die es tatsächlich ein Stück weit besser wissen.