Vertical farming - Salat aus dem Hochhaus

Künstlerische Interpretation der Hängenden Gärten der Semiramis (vermutlich 19. Jahrhundert). Bild: Maarten van Heemskerck; gemeinfrei

Kann Pflanzenzucht ohne Erde Stadtbewohner ernähren?

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Nahrungsmittel für die Stadt werden normalerweise auf dem Lande produziert. Doch häufig sind die Produkte tausende Kilometer unterwegs, bis sie beim Verbraucher ankommen. Urban Farming könnte das Ernährungsproblem großer Städte lösen, sagen Ernährungsexperten - am besten in vertikalem Anbau.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in der Stadt, erklärt Dickson Despommier von der Columbia-University New York. Er fürchtet, dass das Versorgungssystem für die Städte zusammenbricht, wenn die Ressourcen irgendwann erschöpft sind. In einem Hochhaus ließe sich der Anbau komprimieren: Ein Hektar Fläche im Gebäude entspricht 10 Hektar im Freiland. So könne man auf 500 Quadratmetern jährlich 50 Tonnen Gemüse und Salate produzieren, glaubt der Mikrobiologe.

Die Idee, Pflanzen nur mit Wasser zu versorgen, ist gar nicht so neu. Die Hängenden Gärten von Babylon, die nach neuerer Forschung rund 690 Jahre vor Christus in Ninive existierten, funktionierten nach einem ähnlichen Prinzip.

Künstlerische Interpretation der Hängenden Gärten der Semiramis (vermutlich 19. Jahrhundert). Bild: Maarten van Heemskerck; gemeinfrei

Im New Yorker Stadtteil Brooklyn baute man bereits im 19. Jahrhundert Nahrungsmittel an, bevor Häuser und Industrie die Landwirtschaft verdrängten. Nun kehrt sie auf die Dächer von Hochhäusern und alten Fabriken zurück: Zwölf Millionen Quadratmeter Dachfläche stehen allein in New York zur Verfügung. Gwen Schanz und ihre drei Mitarbeiter kultivieren Gurken, Tomaten, Kürbisse und Radieschen auf dem Dach - in einem Substrat, das zur Hälfte aus dem Kompost einer Pilzfarm sowie aus einem leichten Gestein mit hoher Wasserhaltekapazität besteht. Gegen Blattläuse hilft Seifenlauge, das Unkraut wird mit der Hand entfernt. Dazu liefern vier Bienenstöcke Honig, der an Restaurants und auf Märkten verkauft wird.

Auch in Montreal/Kanada steht auf dem Dach einer alten Fabrik ein Gewächshaus zur Gemüseaufzucht. Es wird nur so viel gepflückt, wie am selben Tag verbraucht wird. Die Transportwege bis zum Kunden sind weniger als zehn Kilometer lang. Bewässert wird mit Regenwasser, Grünabfälle werden kompostiert. Das Unkraut wächst gar nicht erst, Schädlinge werden von ausgesetzten Käfern vertilgt. Wichtigstes Kriterium sei die Qualität des Produktes, nicht seine Haltbarkeit, betonen Mitarbeiter der Lufa-Farm.

Der Architekt Blake Kurasek ist der Überzeugung, Dachfarmen seien nur der erste Schritt hin zur lokalen Produktion. Der nächste müsse der vertikale Anbau sein. So verfügt der Gemüseturm, den er für die Stadt Chikago entworfen hat, über 120 Stockwerke auf einer Gesamthöhe von 150 Metern. Einziges Problem sind die Tonnen an Erde, in denen die Pflanzen normalerweise wachsen.

Auch die beste Konstruktion wird diese Massen nicht halten können. Die Hydroponik - Aufzucht von Pflanzen in Nährlösungen - kann dieses Problem lösen: Durch einen Schlauch wird Flüssigkeit hin zu den Pflanzen geleitet, die Wurzeln nehmen die Nährstoffe auf. So produzieren die Hochhaus-Gärtner von Skyvegetables lokales und pestizidfreies Gemüse, das sie an die New Yorker Stadtbevölkerung verkaufen.

Das Verfahren punktet mit sparsamem Wasserverbrauch. Um ein Kilo Gemüse zu erzeugen, seien nur 12 Liter Wasser nötig, statt der 400 in der herkömmlichen Landwirtschaft, so die Anhänger des Urban farming. Es könne 15 bis 20 mal mehr produziert werden als unter herkömmlichen Freilandbedingungen. Je nach Pflanzenart und pH-Wert im Wasser werden Nährstoffgehalte, Belüftung und integrierte Heizung an den Wurzeln eingestellt.

Die Pflanze saugt soviel an, wie sie braucht. Zur Bekämpfung von Blattläusen werden jede Woche 30.000 Marienkäfer ausgesetzt, welche die Läuse vertilgen. Was man oben anbaut und erntet, wird wenige Stunden später unten im Laden verkauft. Das unbehandelte Gemüse darf allerdings nicht als "Bio" verkauft werden, denn dieses Label ist Pflanzen vorbehalten, die in der Erde gewachsen sind.

Hydrokulturen - unabhängig von den Jahreszeiten?

In Metropolen in Südostasien, im Pazifik, Südamerika und Nordafrika, wo wenig Anbaufläche und wenig Wasser zur Verfügung steht, aber viel Sonne scheint, verspricht man sich vom Vertical farming mehr Ernährungssouveränität. Singapur zum Beispiel kann nur zwei Prozent seiner Fläche zur Produktion von Lebensmitteln nutzen. Um fünf Millionen Einwohner zu ernähren, werden die meisten Lebensmittel aus dem Ausland importiert. Während der Importware zunehmend misstraut wird, erfreuen sich die "Sky Greens" aus den vertikalen Gewächshäusern in Singapur wachsender Beliebtheit.

Nachdem der Inselstaat seit 30 Jahren in die urbane Landwirtschaft investierte, eröffnete im Oktober 2012 der Ingenieur Jack NG die erste vertikale Gemüsefarm der Welt. In engen Reihen hängen die Pflanzen bis zu sechs Meter hoch. Ein sechs mal eineinhalb Meter großes Gestell bietet Platz für 1650 Kräuter. Damit jede Pflanze einmal am Tag dieselbe Lichtmenge sieht, rotieren die Pflanzen im Laufe eines Tages. Die Ernte erfolgt auf Bestellung, innerhalb von sechs Stunden kann geliefert werden, wobei die Produktion dem Bedarf jeweils angepasst wird.

Auch in Afrika können Hydrokulturen Menschen ernähren. So wird in Kenia, wo Lebens- und Futtermittel auf Grund zunehmender Trockenheiten immer teurer werden, Kohl und Gemüse in Nährlösungen in nur 35 statt in 65 Tagen aufgezogen. Kirogo Mwangi, Geschäftsführer des Zentrums für Angepasste Technologien, ist der Überzeugung, Hydrokulturen könnten 9,5 Milliarden Menschen ernähren.

Während Länder auf der Südhalbkugel vom ganzjährigen Sonnenschein profitieren, gibt es in Nord- und Mitteleuropa im Winter viel weniger natürliches Licht. Glaubt man niederländischen Forschern, ist dieses Problem in den Gewächshäusern durch hoch effiziente LED-Lampen zu lösen. Eine moderne Lampe reiche mit 200 Lumen pro Kilowattstunde aus, um das Gemüse in den Nährlösungen effizient wachsen zu lassen, so dass sich die Produktion um 20 bis 25 Prozent steigern ließe. Die beleuchteten Tomaten bilden sogar mehr Vitamin C aus.

Der Geschmack kann durch farbliche Beleuchtung beeinflusst werden. Und der ist offenbar so gut, dass holländische LED-Tomaten bis nach Italien exportiert werden. Auch in der LED-Forschung des Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) geht es darum, wie man unter künstlichen Bedingungen Pflanzen züchten kann, die dieselben Eigenschaften liefern wie natürlich gewachsene Pflanzen.

Im Controlled Enviroment Agriculture (CEA) wird nichts dem Zufall überlassen: Ob Zusammensetzung der Nährstoffe, Sauerstoff- und Kohlendioxid-Gehalt, Luftfeuchtigkeit, Temperatur oder Lichtspektrum - alles wird kontrolliert. Die vertikale Farm des DLR produziert täglich 13 Tonnen frische Lebensmittel, die im ortsansässigen Supermarkt verkauft werden. Doch es gibt einen Wermutstropfen: Die Kosten für die Produktion von einem Kilo Gemüse liegen bei 12 € - und das ist nicht wirklich marktfähig.

Kombinierte Aufzucht von Fisch und Gemüse

Ein erweitertes Verfahren der künstlichen Gemüseaufzucht ist die Aquaponik. Hier wird die Aufzucht von Blattgemüse und Süßwasserfischen kombiniert, eine Wasser sparende Methode, die die Maya bereits 2000 Jahre vor Christus in ähnlicher Form praktizierten. Der Wissenschaftler Laurent Labbé bewässerte seine Nutzpflanzen mit verbrauchtem Wasser und reduzierte den Wasserbedarf in seinen 400 Fischzuchtbecken um mehr als das Zehnfache.

Normalerweise verbraucht man für die Aufzucht von einem Kilo Fisch 100 Kubikmeter Wasser, sein Umwälzsystem kommt mit nur sieben Kubikmeter aus, erklärt der Experte vom Zentrum für Experimentelle Fischzucht des Nationalen Forschungsinstituts INRA.

Auch bei den Urban Farmers in Basel gedeihen Tomaten, Paprika und Kresse in Gewächshäusern inmitten einer Industriezone. Nebenan stehen die Aufzuchtbecken - bis an den Rand gefüllt mit dem Tropenfisch Tilapia. Die Exkremente werden auf dem Grund des Beckens gesammelt und gefiltert. Die festen Partikel bilden sich zu einem Schlamm aus, der als Dünger verkauft wird.

Kleine Kunststoffteile verwandeln Ammoniak aus den Fisch-Exkrementen in Nitrat, der wiederum gefiltert und als Nährstoff den Pflanzen zugeführt wird. Diese nehmen die Nährstoffe auf, wobei sie das Wasser mit Hilfe ihrer Wurzeln reinigen, welches anschließend wieder den Fischbecken zugeführt wird. Gefüttert werden die Fische mit zugekauftem Futter wie Mais und Soja.

Das Wasser sparende Verfahren ermöglicht eine vier bis fünf Mal höhere Produktivität gegenüber anderen Anbauformen - ohne notwendige Beifügung von Chemikalien. Temperatur und Sauerstoffversorgung werden rund um die Uhr kontrolliert. Innerhalb eines Jahres wurden fünf Tonnen Gemüse geerntet und 800 kg Fisch gezüchtet.

Nach zwei Jahren hatte sich die Farm amortisiert. Ein Vorteil sei, dass Medikamente und Antibiotika für die Fische sowie Pestizide für die Pflanzen ausgeschlossen werden können, so Andreas Grabber von der Universität Zürich in einem Interview gegenüber ARTE. Das Gemüse, das am selben Tag geerntet wird, wird an Restaurants und Supermärkte mit dem Fahrrad angeliefert. Die Kunden sind mit Frische und Geschmack sehr zufrieden. Die Produkte, deren Wurzeln nie Erde gesehen haben, dürfen zwar kein Bio-Label tragen, dafür sind die Preise auf Bio-Niveau.

Die US-Firma Farmedhere züchtet Tilapia und Gemüse in großem Stil. In den kleinen Becken tummeln sich 300 bis 400 Fische, eine Dichte, die nicht gerade artgerecht ist. Das Gemüse wird mit verbrauchtem Fischwasser betropft. Zur Steigerung der Produktion leuchten rund um die Uhr LED-Lampen. Jährlich werden mehrere tausend Tonnen Fisch und 50 Tonnen Gemüse geerntet, und sie werden als Bio-Produkte verkauft. In den USA unterrichtet man das Verfahren bereits an den Schulen.

Auch in Deutschland ist die Aquaponik als eigenständiger Industriezweig angekommen. In Berlin-Schöneberg ziehen Nicolas Leschke und sein Partner in ausgedienten Containern Tomaten, Auberginen, Paprika, Gurken, Senfrauken, Kräuter und Salate unter Tröpfchenbewässerung auf. Nebenan schwimmen in schwarzen Plastikbecken Rosé-Barsche bei tropischen Temperaturen von 27° C. Die Fische werden mit Bio-Futter ernährt.

Das verbrauchte Wasser wird von Biofiltern aufbereitet und anschließend zu den Pflanzen geleitet. Die Jungunternehmer streben eine jährliche Produktion 25 Tonnen Fisch und bis zu 30 Tonnen Gemüse und Kräuter an.

Weniger Lebensmittel wegwerfen

Stück für Stück kommt uns die natürliche Umwelt abhanden, immer künstlicher werden unsere Lebensräume. Wir betonieren unser Wohnorte zu, bis wir merken, dass wir ganz ohne Natur nicht auskommen. Also holen wir uns die Natur in die Städte zurück, indem wir kleinen Pflänzchen unter Glas wohl dosierte Flüssignahrung zuführen.

Hydroponik und Aquaponik mögen Stadtbewohner ökologisch ernähren. Doch die Energiebilanz für die gläsernen Gemüsetürme sieht schlecht aus: Viel zu groß ist nicht nur der Verbrauch an Stahl und Glas, auch der Energieverbrauch zur Beleuchtung der Pflanzen ist zumindest in Nord- und Mitteleuropa nicht zu unterschätzen.

Außerdem hat sich rund um die Hydroponik eine ganze Industrie etabliert. So werden eine Menge Plastik und Düngemittel produziert, deren Herstellung sich ebenfalls negativ auf die Öko-Bilanz auswirkt: Substrate, Zusätze, pH-Regulatoren, Rohre, Leitungen, Gestänge, Gefäße, Filteranlagen, Pumpen...

Gemüse künstlich aufzuziehen, ist die eine Sache. Eine andere ist es, komplexe Ökosysteme aufrecht zu erhalten. So führt die natürliche Umwelt ein Eigenleben, in dem der Mensch selten einen primären Nutzen für sich erkennt. Dennoch ist sie unabdingbar für den Fortbestand des Lebens. So liefert sie Licht und Wasser umsonst. Anstatt mit zusätzlicher Energie künstliche Ersatzwelten zu schaffen - wäre es nicht klüger, die Ursachen für Versteppung und Klimawandel zu beheben, damit künftige Generationen auf der Erde überleben können?

Die Menge aller produzierten Nahrungsmittel reicht außerdem schon heute aus, um alle Menschen zu ernähren, würden nicht Unmengen an Lebensmitteln weggeworfen. So werden laut einer Studie der FAO von 2011 jährlich 1,3 Milliarden Tonnen Nahrungsmittel vernichtet.

Ein Drittel aller Agrarprodukte vergammelt auf dem Weg zum Endkunden. In den so genannten Entwicklungsländern liegen die Ursachen im unsachgemäßen Transport und falscher Lagerung. Und in den Industrieländern wandert ein Mega-Anteil an Lebensmitteln aus Supermarktregalen und Privathaushalten in die Müllcontainer.

Ein wirtschaftlicher Wandel hin zu konsequent nachhaltigem Produzieren und Konsumieren spart nicht nur Treibhausgase und Energie, sondern würde auch mehr Menschen ernähren, und das setzt ein Umdenken in Bezug auf die eigene Lebensweise und Konsumhaltung voraus.

Hinweis: Doku - Arte France: Städte der Zukunft - Die urbane Farm