Virtuelle Pilotenagenten für echte Kampfjets

Von einem Spiel zur Wirklichkeit

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Unbemannte Flugzeuge haben den Nachteil, daß die Menschen, die sie fernsteuern, nicht wirklich in der Umgebung sind, in der sie das Fahrzeug bedienen. Die Softwarefirma CyberLife Technology hat den Auftrag vom britischen Verteidigungsministerium erhalten, zunächst ein simuliertes Militärflugzeug zu entwickeln, das von einem Organismus gesteuert wird, der mit Künstlicher Intelligenz ausgestattet ist, um später möglicherweise echte Kampfjets damit zu besetzen.

CyberLife ist mit dem Computerspiel Creatures bekannt geworden, bei dem der Benutzer virtuelle Wesen ausbrüten, in eine relativ komplexe Umgebung namens "Albia" versetzen, dort aufziehen, ihnen sogar das Sprechen beibringen kann - mit dem Ziel, daß sich die auch sexuell orientierten Norns miteinander anfreunden und sich schließlich fortpflanzen, bevor sie sterben. Diese zwar beeinflußbaren, aber auch autonom handelnden "Nornen" sind recht vorangeschrittene Exemplare der Forschungsrichtung des Künstlichen Lebens. Sie lernen mittels eines neuronalen Netzes aus 1000 künstlichen Neuronen und verändern sich durch die Interaktion mit ihrer Umwelt, die sie erkunden oder von der sie beeinflußt werden. Sie besitzen einen Gencode, den sie vererben und sich dadurch evolutionär entwickeln können, aber auch Sinnesorgane, Bedürfnisse, Wünsche, Individualität, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Gefühle und eine "biochemikalische" Ebene. Die künstliche Umgebung Albia soll nun auch zu einem dynamischen komplexen System ausgebaut werden, das sich entwickelt. Bislang gibt es digitale Pflanzen, die sich an unterschiedliche Lichtintensitäten oder Wasserversorgung anpassen, oder digitale Bienen, die nach Nektar suchen und Schwärme bilden.

Im Spiel Creatures ist die virtuelle Welt etwa zwölfmal so breit und dreimal so hoch wie der Bildschirm. In ihr gibt es an die vierzig unterschiedliche Dinge, die interaktiv sind: Fahrstühle, eine Seilbahn oder ein Unterseeboot, Bälle, Möhren, Käse und Honig zum Essen, um die Norns mit der notwendigen Energie auszustatten, sogar Kaffee oder ein Diaprojektor ist vorhanden - und eine Lernmaschine, mit der man ihnen mühsam das Sprechen beibringen kann. Der Benutzer greift von außen mit der Computermaus in die Welt, kann die Norns auf etwas aufmerksam machen, sie streicheln oder schlagen. Norns können sehen, hören, sprechen und riechen. Sie haben Hunger und Durst, empfinden Lust und Schmerz, werden müde, manchmal auch krank, brauchen Abwechslung, sind mitunter neugierig und verspielt - und auf der Suche nach dem anderen Geschlecht, wenn sie alt genug sind. Sie haben Instinkte, die sich aber durch Lernen verändern können. Wenn sie sich vermehren, findet ein crossing-over statt, können sich Fehler und Variationen ereignen.

Neben den bislang 300 Genen sind die wichtigsten Element eines Norns sein "Gehirn" und seine "Biochemie". Das Gehirn besteht aus 1000 Neuronen, die in neun Schichten oder Areale unterteilt sind. Das Aufmerksamkeitsareal etwa enthält ein Neuron für jedes Objekt in Albia. Die sensorischen Signale lösen je nach Frequenz und Stärke eine unterschiedliche "Erregung" aus. Die Aufmerksamkeit wendet sich dem Objekt zu, von dem die stärksten Signale ausgehen. Im Begriffsareal, mit über 600 Neuronen das größte, werden die Signale mit vertrauten Mustern abgeglichen, um Objekte zu identifizieren oder neue Verknüpfungen zu erzeugen. Ist das Objekt erkannt, geht ein Signal zum Entscheidungszentrum und schließlich zum Handlungsareal. Die Verbindungen im neuronalen Netz werden verstärkt, wenn sie aktiv sind, und schwächer, wenn sie nicht benutzt bleiben. Wenn eine Verbindung zwischen zwei Neuronen "stirbt", wird eine neue zu einem anderen Neuron aufgebaut. So kann sich das Netz ständig verändern und in gewissem Umfang lernen.

Auf der "biochemischen" Ebene werden wie beim wirklichen Gehirn durch Emittoren und Rezeptoren viele Neuronen gleichzeitig aktiviert oder beeinflußt. So entstehen Bedürfnisse oder Triebe, die der Norn durch geeignetes Verhalten zu befriedigen sucht. Essen beispielsweise hebt den "Glukosespiegel" und vermindert die Stärke des Hungers. Das löst ein "gutes" Gefühl aus, verstärkt die Verbindungen zum eßbaren Objekt und läßt beim nächsten Hungergefühl wieder nach diesem suchen, während bei "giftigen" Objekten der gegenteilige Effekt eintritt.

Nach einem Bericht in New Scientist vom 9.5. steuern die virtuellen Piloten die simulierten Flugzeuge bereits recht gut. Sie werden evolutionär gezüchtet und nach ihren erlernten Leistungen selektiert. Ziel ist, wenn sie einmal perfekte Piloten sind, sie auch wirkliche Flugzeuge steuern zu lassen. Man gibt ihnen Instruktionen, und dann sollen sie autonom entscheiden und handeln. Der Vorteil von solchen künstlichen Piloten wäre auch, Flugzeuge kleiner bauen und schneller fliegen lassen zu können - und vielleicht irgendwann den Menschen ganz zu ersetzen. Hat CyberLife mit den virtuellen Piloten Erfolg, so lassen sich unzählige Anwendungen vorstellen.

Wie ebenfalls New Scientist berichtet, ist bereits eine solche Anwendung in Arbeit. Die amerikanische Firma NCR für Banktechnologien hat CyberLife beauftragt, mit seinen "Ersatzmenschen" eine virtuelle Bank zu erkunden und die Maschinen und Dienstleistungen in ihr zu testen. Die Frage ist beispielsweise, wie lange jemand in einer Schlange anstehen würde, bevor er die Bank wieder verläßt. NCR hat mit Videokameras das Verhalten wirklicher Bankkunden aufgezeichnet. Aufgrund dieser Informationen werden die virtuellen Agenten mit ähnlichen Eigenschaften ausgestattet. Dabei geht es auch darum herauszubekommen, wie unterschiedliche Kunden von Banken in verschiedenen Regionen sich verhalten, um die Banken möglichst kundenfreundlich einzurichten. So verhalten sich Kunden in Städten anders wie solche auf dem Land. Die Agenten verhielten sich offenbar ziemlich realistisch. Sie stellten sich in einer Schlange an und benutzten unterschiedliche Angebote. In den Agenten konkurrieren der Wunsch, Geld zu holen und zu warten, und die Unlust, die sie dazu bringt, die Bank wieder zu verlassen: "Eine erfolgreiche Einrichtung einer Bank wird es dem Agenten ermöglichen", so New Scientist, "seine Transaktionen auszuführen, bevor er von dem Bedürfnis überwältigt wird, seinen Geschäften anderswo nachzugehen."

Aber wahrscheinlich gehen wir sowieso bald nicht mehr in wirkliche Banken, sondern unterhalten uns beim Telebanking mit virtuellen Angestellten, die nur etwas weniger cartoonhaft gestaltet sind wie die Norns, aber auch "nur" künstliche Wesen sind. Hoffentlich sind die dann auch geduldig, verständnisvoll und permanent freundlich, wenn sie schon den menschlichen Angestellten den Arbeitsplatz wegnehmen.