Vom Nachteil der leibhaftigen Anwesenheit

Die neue Telefon-Kultur: Kleine Episoden aus dem Alltag

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Jeder Haushalt hat heutzutage ein Telefon, der wahre Siegeszug dieses Gerätes über den Menschen begann aber, als die kleinen Dinger laufen lernten. Die Handys prägen inzwischen unsere alltägliche Kommunikationsform. Egal, wo man sich aufhält, allgegenwärtig kann man es inzwischen klingeln oder düdeln hören, und wenn ein Handy gerade mal nicht die neusten Melodien aus den Charts von sich gibt, kündigt zumindest ein Piepsen von der Ankunft einer SMS. Die muss natürlich schnellstens beantwortet werden. Jeder Gesprächspartner wird stehen gelassen: "Moment, ich muss mal kurz antworten..." Ein Klingelzeichen vom Telefon, und wie selbstverständlich greifen alle Leute sofort zum Hörer und vergessen dabei sämtliche Benimmregeln.

Es klingelt. "Darf ich mal ans Telefon gehen?", fragt die Verkäuferin beim Schlachter und bedient erst einmal den Kunden am Telefon. Nett, denkt man, schon wieder einer, der sich mal eben in der Schlange vorgedrängelt hat. Für die Verkäuferin selbstverständlich, denn wenn es klingelt, muss man springen und lässt die Kunden im Laden blöd ausschauen. Zwar fragt sie laut vernehmlich in den Verkaufsraum hinein, doch für Widerspruch ist keine Gelegenheit, denn mit der Frage hat sie sich schon in Bewegung gesetzt und den Hörer in der Hand.

In Zukunft werde ich mein Frühstücksmett auch per Telefon vorbestellen und mich nicht mehr in die Schlange anstellen, sondern einfach sagen: "Ich hab das Mett doch telefonisch vorbestellt." So schlau bin ich zumindest schon bei den leckeren Grillrippchen im Biergarten geworden, denn bei schönem Wetter können in der Schlange schon einmal 30 bis 40 Leute stehen. Ruckzuck habe ich so meine Rippchen, dank telefonischer Vorbestellung.

An der Hotelrezeption will ich einchecken, nenne brav meinen Namen und schon klingelt es. Der Portier fragt nicht erst, sondern greift reflexartig zum Hörer und meldet sich höflich mit dem Namen des Hotels. Müde steht man dabei und hofft, dass der Schlüsselverteiler des Hotels endlich das Gespräch beendet. Doch der nimmt glatt noch einen Stadtplan zur Hand und erklärt dem Gesprächspartner am anderen Ende die Sehenswürdigkeiten von Berlin.

Ungeduldig schaut man zur Seite, dann endlich widmet sich der Portier seinem Gast am Eingangstresen. Doch schon klingelt es wieder, zwar kommt kurz die obligatorische Frage "Darf ich mal eben ans Telefon...?", aber schon hat er den Hörer wieder am Ohr. Meine Hand fängt ganz von allein an, unmerklich auf dem Tresen zu trommeln, doch der Mensch quatscht einfach unverdrossen weiter. Endlich ist auch dieses Gespräch zu Ende und er stochert mit dem Mauszeiger im Computerprogramm herum. Er sucht ein Zimmer, obwohl doch eine telefonische Reservierung vorgenommen wurde. Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, ich hätte vom Bahnhof kurz anrufen sollen, der Schlüssel läge wahrscheinlich schon bereit.

Da kommt ein Hotelgast aus der Gaststätte, schiebt mich fast beiseite und fragt nach den Sehenswürdigkeiten in der Nähe. Danach hätte er vergessen zu fragen. Wie, ist das der Anrufer von eben? Jetzt er führt er sein Gespräch vom Telefon einfach weiter, als hätte er gar nicht aufgelegt. Bei so viel Unhöflichkeit platzt mir der Kragen: Erst kriegt der andere Gast sein Fett weg und schließlich bleibt ein zusammengefalteter Portier zurück. Nach kurzer Zeit wird ein Piccolo vom Hausdiener überbracht, der noch einmal die Unannehmlichkeiten ausdrücklich entschuldigt.

Im Elektroladen mal eben eine 9-Volt-Blockbatterie kaufen, sollte doch eigentlich schnell erledigt sein, denke ich mir und parke den Wagen vor der Tür. Selbstbedienung ist in solchen Läden nicht üblich, hier zählt noch die individuelle Beratung. Doch wo bleibt das Verkaufspersonal?

Im Hintergrund höre ich eine Stimme, klingt nach einem Telefongespräch. Ich schaue mir derweil die neuesten Lampen, Küchenmaschinen und Kaffeemühlen an. Könnte glatt eine neue Verkaufstechnik sein, man tut so, als ob man telefoniert, und der Kunde kommt beim Betrachten des Warenangebotes auf den Geschmack. Nach fast fünf Minuten bemüht sich endlich die Chefin in den Ladenraum. "Ich hätte gerne eine 9-Volt-Blockbatterie", doch kaum habe ich den Satz zu Ende gesprochen, klingelt von hinten im Büro das Telefon. "Moment...", bekomme ich noch zu hören und schon hat sie auf dem Absatz kehrt gemacht.

Nach weiteren zwei Minuten kommt sie wieder in den Laden und fragt: "Was wollten Sie noch einmal?" Etwas stichelnd antworte ich, ob es nicht besser sei, vor dem Laden kurz anzurufen, um wirklich sofort bedient zu werden. Ach ja, eine 9-Volt-Blockbatterie habe sie zur Zeit leider nicht vorrätig, vielleicht könne ich morgen noch einmal wiederkommen? Ich habe auf den Lippen zu fragen, ob nach telefonischer Voranmeldung, murmele aber nur noch ein: "Nein, vielen Dank", und denke beim Verlassen, dass man den Elektroladen am Ort vergessen kann.

Im Reisebüro sind wir mit dem Buchen meiner DB-Fahrkarte beschäftigt und natürlich auch hier: Das Telefon klingelt. Doch die Reiseverkehrsfachfrau lässt netterweise das Telefon bimmeln, während wir die weiteren Reisedaten durchgehen. Das Telefon läutet aufdringlich weiter, aber meine Gesprächspartnerin scheint das nicht weiter zu stören, sie will erst meinen Auftrag abschließen. Dann endlich geht es an das umständliche Ausdrucken der Dokumente.

Wieder läutet es und da jetzt erst mal der Drucker arbeiten muss, greift sie zum Hörer. Von einem offensichtlich genervten Anrufer muss sie sich nun eine Schimpftirade anhören: Warum sei sie denn nicht ans Telefon gegangen? So kurz nach Beginn der Geschäftszeiten am Nachmittag könne man doch nun wirklich erwarten, dass jemand pünktlich im Büro sei. Ruhig und sachlich erklärt sie dem Kunden, dass sie erst einen Geschäftsvorgang abschließen wolle, zumal der Kunde gerade vor ihr sitze. "Sie können doch wohl mal kurz ans Telefon gehen", schnauzt sie der Kunde laut vernehmlich durch die inzwischen angeschaltete Mithöreinrichtung an.

Eine Nachmittags-Talkshow im Fernsehen: Unter besten Freundinnen fliegen mal wieder die Fetzen, die eine ist mit dem Freund der anderen ins Bett gegangen. Unflätige Beleidigungen werden vom Privatsender mit einem Piepton überzeichnet. Leugnen hilft nicht, die Freundin ist sich des Vergehens ziemlich sicher, denn sie kontrolliert regelmäßig die SMS im Handy ihres Freundes. "Was soll es denn noch an besseren Beweisen geben, hier habe ich doch das Liebesgesäusel schwarz auf weiß gelesen." Die SMS ist kurz davor, zum gerichtlich verwertbaren Beweisstück zu werden.

Eine Clique von vier Jugendlichen sitzt im italienischen Eiscafé an einem runden Tisch. Jeder hat eine Cola und einen kleinen Eisbecher vor sich stehen, doch das Eis ist längst geschmolzen. Die Jungs und Mädels zeigen sich untereinander ihre neusten Handys und präsentieren sich - und natürlich uns - die Anzahl der Klingeltöne. Im weiteren Verlauf kann man die neuen Kommunikationsformen der Jugend beobachten: Kleine Nachrichten werden von Handy zu Handy per SMS geschrieben und abgeschickt. Vermutlich sitzt der Adressat auf dem Stuhl gegenüber. Ab und zu hört man einen Fluch, wenn sich einer mal wieder vertippt hat. Fortan ist das typische Eingangssignal zu hören. Sorgenvoll betrachtet man die Körperhaltung der Kids, denn alle sitzen vorgebeugt und starren auf den kleinen Bildschirm, während sie auf den Minitasten mühevoll die Texte eingeben.

Bei unserem Italiener arbeitet ein Kellner aus Tunesien. Er ist wirklich ein netter und zuvorkommender Kerl, der uns als Stammgäste die nötige Aufmerksamkeit zollt. In der Regel weiß er, was wir trinken wollen und macht uns mit den Vorschlägen aus der Küche vertraut, die sich nicht auf der Speisekarte finden. Stolz präsentierte er uns kürzlich sein neues Handy, auf dem als Logo vier kleine Kamele vorbeilaufen. Zugleich machte er dabei den Vorschlag, dass wir einen Tisch doch in Zukunft schnell und einfach per SMS reservieren könnten. Das probierten wir dann prompt beim nächsten Mal aus. Und richtig, die Tischreservierung war pünktlich angekommen, was ja bei der Zustellgeschwindigkeit von SMS nicht immer gewährleistet ist.

An diesem Abend war die Reservierung auch nötig, das Restaurant platzte fast aus allen Nähten und unser Stammkellner hatte auch nicht so viel Zeit für uns. Schließlich wollten wir bezahlen, doch er sauste immer an uns vorbei oder hatte am Tresen mit seinem Handy zu tun. Da wir bester Stimmung waren, kamen wir auf die Idee, ihm die Bitte nach der Rechnung per SMS zu schicken. Prompt schnappte er nach dem Eingangssignal sein Handy und las die Nachricht. Mit einem breitem Grinsen quittierte er unsere Bitte und schenkte zugleich eine Runde Grappa für uns ein.