Vom Nutzen der Evolutionsbiologie für die Medizin

Trotz oder wegen der Fortschritte in Kultur und Medizin beeinflusst die Evolution auf vielfältige Weise weiterhin die Gesundheit des Menschen

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Aus der Perspektive der Evolutionstheorie ergeben sich neue Erkenntnisse für die Medizin. So gehen US-Wissenschaftler in einem Artikel, der in den Proceedings of the National Academy of Sciences erschienen ist, davon aus, dass manche Anpassungen in der Evolution des Menschen, die zunächst vorteilhaft waren, sich nun trotz oder gerade durch die Fortschritte in Kultur und Medizin als Nachteile erweisen und für das Ansteigen von Krankheiten wie Autismus, Autoimmunerkrankungen und Krebs an Reproduktionsorganen verantwortlich sein könnten.

Peter Ellison von der Harvard University, Stephen Stearns von der Yale University, Randolph Nesse von der University of Michigan und Diddahally Govindaraju of the Boston University School of Medicine fassen in ihrem Artikel Ergebnisse eines Kolloquiums über die Verbindungen zwischen Evolution, Gesundheit und Medizin zusammen. Evolutionär seien Organismen keine Maschinen, deren Design optimiert ist, sondern "Bündel an Kompromissen, die durch die natürliche Selektion auf die Maximierung der Reproduktion, nicht auf die der Gesundheit angelegt sind". Daher sind Körper voller unvermeidbarer Kompromisse und Beschränkungen.

Alterung ist aus evolutionärer Sicht keine Anpassung, sondern ein Nebenprodukt, das im Zuge der Entwicklung der Reproduktion eingetreten sei. Menschen hätten zwar gegenüber dem letzten mit dem Schimpansen gemeinsamen Vorfahren eine Verdoppelung des Lebensalters aufgrund von Veränderungen in Genen erfahren, die mit Ernährung, Infektion und Entzündung zu tun haben. Aber diese Gene könnten gesundheitliche Folgen mit sich bringen, so würden durch Allelele des Apolipo-Proteins beispielsweise die Immunität, Herz-Kreislaufkrankheiten, Alzheimer und Gehirnentwickelung betroffen sein.

Als weiteres Problem wird genannt, dass die biologische Evolution beim Menschen sehr viel langsamer als die kulturelle Evolution verlaufe. Störungen und Krankheiten können daher dadurch entstehen, dass die Körper der modernen Umwelt nicht angepasst sind. Andererseits verändern sich Krankheitserreger sehr viel schneller als Menschen, weswegen Infektionen unvermeidbar sind. Krankheitserreger bilden ebenso schnell Resistenzen gegen Antibiotika wie Krebszellen gegen Chemotherapien aus. Überdies sei es falsch anzunehmen, dass die verbreiteten Krankheiten beim Menschen auf wenige Gene zurückgeführt werden könnten. Es würden stets zahlreiche genetische Varianten mit den jeweiligen Umwelten und Genen während der Entwicklung interagieren, was die Krankheiten beeinflusse. Wir kennen zwar das Genom immer besser, so ein Wissenschaftler, die Kenntnis der Phänotypen sei aber weiterhin minimal. Bekannt sei auch, dass genetische Varianten, die vor bestimmten Krankheiten schützen, andere negative Folgen haben können, während solche, die Krankheitsrisiken vergrößern, wiederum andere Vorteile haben können. Daher sei die Entwicklung neuer Heilverfahren so schwer und ließen sich Krankheiten schwer präventiv bekämpfen.

Bekannt ist auch die Hypothese, dass die Menschen aufgrund steigender Hygiene oder den Einsatz von Antibiotika mehr Allergien, Asthma und Autoimmunerkrankungen entwickeln können. Dadurch würden auch die symbiotischen Bakterien und parasitären Würmer vernichtet, mit denen die Menschen sich gemeinsam entwickelt haben. Medizinische Maßnahmen wie mangelhafte Impfungen, z.B. im Fall von Malaria, können die Virulenz von Erregern steigern. Möglich sei auch, dass psychische Störungen wie Autismus oder Schizophrenie auftreten, weil das evolutionär herausgebildete Gleichgewicht zwischen den genetischen Interessen der Eltern und Verwandten nicht mehr funktioniere und es durch den Konflikt zwischen mütterlichen und väterlichen genetischen Interessen beispielsweise zu Imprinting-Defekten in Genen komme, wie dies beim Prader-Willi-Syndrom und dem Angelman-Syndrom der Fall sei. So würden Wissenschaftler vermuten, dass das Autismusrisiko steige, wenn die mütterlichen genetischen Interessen nicht zum Zuge kommen, während die väterlichen sich ungehindert exprimieren, während es bei Schizophrenie genau umgekehrt sei.

Menschen fallen mehr Krebserkrankungen als andere Arten anheim, weil sie schlicht länger nach dem reproduktiven Alter leben und hier die natürliche Selektion nicht mehr greift. Die Menschen haben sich nicht an Faktoren der modernen Lebenswelt wie Alkohol, Nikotin oder Fette angepasst. Krebserkrankungen der Reproduktionsorgane könnten damit zu tun haben, dass Menschen permanent sexuell aktiv sind. Überdies scheint Krebs unvermeidbar in vielzelligen Lebewesen zu sein, die zur Gewebeerneuerung auf Stammzellen bauen. Und natürliche Selektion wirkt trotz der Fortschritte von Kultur und Medizin weiter auf die Menschen. So würde die natürliche Selektion beispielsweise schwerere Frauen bevorzugen und das Alter mindern, mit dem Frauen das erste Kind kriegen.

Die Autoren monieren, dass Medizin und Evolutionsbiologie trotz vieler Überschneidungen noch immer wie zwei Kontinente in der Forschung nebeneinander existieren. Das würde auch durch die übliche Verteilung der Forschungsgelder verstärkt werden. Das Kolloquium habe viele Forschungsansätze präsentiert, die interessante Möglichkeiten für die Medizin eröffnen: "Unsere Biologie ist das Ergebnis vieler evolutionärer Kompromisse. Wenn wir diese Geschichten und Konflikte verstehen", so der Anthropologe Peter Ellisson, "dann kann das dem Arzt wirklich helfen zu verstehen, warum wir krank werden und was wir machen sollten, um gesund zu bleiben."