Vom Unbehagen an der westlichen Kultur

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Nach "Carlos": Die Dinge des Lebens und die Revolution - Olivier Assayas' "Après Mai" weckt die Geister der Vergangenheit

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Es gibt ein richtiges Leben im falschen. Es heißt: Abschied von Mittelmäßigkeit, von Spießigkeit, von Sicherheitsdenken. Es heißt: Riskier etwas. Gib auf, was Du hast, das Leben gibt Dir noch genug. Es heißt: Neugier, Suchbewegung, Fragen statt Antworten. Wo Hollywoodfilme und ihre deutschen Epigonen immer nur Antworten haben und immer schon alles wissen, da zeigt der französische Regisseur Olivier Assayas in seinem neuen Film "Après Mai" (deutsch: "Die Wilde Zeit") über die Generation Post-68, wie man auch von Vergangenheit erzählen kann. Das wichtigste Fazit ist dabei kein historisches. Es lautet: Alles wird irgendwann anders sein.

Der Film macht keine Umstände, sondern springt einfach mitten hinein: Eine Schulklasse, 16, 17-Jährige, Philosophie-Unterricht - so etwas gibt es in Frankreich -, und während ein Schüler ein "A" in den Tisch ritzt und einen Kreis darum, zitiert der Lehrer Blaise Pascal: "Entre nous et le ciel, l’enfer, ou le neant il n’y a donc que la vie qui est la chose du monde la plus fragile; et le ciel n’estant pas certainement pour ceux qui doutent si leur ame est immortelle, ils n’ont à attendre que l’enfer ou le neant." - Das Leben sei zerbrechlich und doch das einzige, was wir haben, jenseits des Himmels. Und dieses Himmelreich bleibe denen verschlossen, die nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubten. Anarchismus und jansenistische Philosophie - das ist schon eine gute Kombination für den Anfang.

Dann ein harter Schnitt - eine Demonstration beginnt. "Wir überwachen die Polizei", glauben die Schüler, brüllen "CRS - SS" gegen die Polizei, die diese Rufe gleich als Aufforderung nimmt und tatsächlich die Schüler zusammenprügelt, als gäbe es kein Morgen. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen und will es kaum glauben, doch alles hier ist belegt. Man muss eben, um einen Aufstand zu verstehen, auch verstehen, gegen wen er gerichtet ist.

Dieser Aufstand, das ist der revolutionäre Mai 1968, in dem die europäische Studentenrevolte in Frankreich auch die Fabriken erreichte und auf bürgerliche Kreise überschwappte: Die Arbeiter gingen, angeführt von der kommunistischen Gewerkschaft CGT auf Straße, Charles de Gaulle wurde aus dem Elysee-Palast vertrieben, und für einen Augenblick stand alles auf der Kippe, schien alles möglich. William Klein, heute vor allem als Fotograf berühmt, hat diesen Moment zu einer unvergesslichen, vierstündigen Dokumentation verarbeitet: "Grands soirs et petites matins". Danach verpufften die Hoffnungen auf eine so rasche wie grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft schnell. Die Utopien und das Unbehagen an der westlichen Kultur aber blieben, und hiervon, von dieser Generation, die knapp zu spät kam für die Revolte, erzählt Olivier Assayas.

Schöne Lügen und kleine Wahrheiten

Die Alten hatten abgewirtschaftet. Es gärte, vor allem unter den Jungen, zugleich war da viel Chaos und Widersprüchlichkeit. Man glaubte wirklich, dass die Revolution unmittelbar bevorstünde, dass alles möglich ist. Das ist faszinierend und macht einem doch auch Angst. Denn da ist viel Gewalt in der Luft. In Paris brannten die Autos, und wenn man gerade am falschen Ort war, konnte es einem passieren, dass man zusammengeschlagen wurde. Das ist, glaube ich, das, was heute am Schwersten vorstellbar ist: diese Gewalt. Und sie machte einen auch skeptisch. Es war jedem klar: Alles ist möglich, aber das ist auch gefährlich.

Dieser Film ist also in seiner Mischung aus Hoffnung und Bedrohung, aus Begeisterung, Aufbruch und Enttäuschung, genau die Geschichte meiner eigenen Jugend. Aber damit eben die einer ganzen Generation.

Olivier Assayas im Gespräch mit dem Autor, September 2012, San Sebastián

Assayas weist auf die Herkunft seiner Mutter hin. Die ist Ungarin und emigrierte erst nach dem gescheiterten Ungarnaufstand nach Paris: Insofern habe er auch die Erfahrung des Scheitern früh verinnerlicht, ebenso wie die Skepsis gegenüber den kommunistischen Hoffnungen jener Jahre. Dies sei ein kleiner Unterschied zu manchen seiner Altersgenossen.

Die Privatisierung des Politischen

"Après Mai", der auf Deutsch bieder "Die Wilde Zeit" heißt, setzt 1971 ein und portraitiert eine Gruppe junger Schüler aus gutem Haus. Sie wollen für die Weltrevolution kämpfen, ihre Freiheit in jeder Hinsicht auskosten und sie wollen Künstler werden. Im Zentrum steht Gilles. eine Art alter Ego des Regisseurs, der 1955 geboren, die Ereignisse als 16-Jähriger miterlebte. Wie der Vater von Assayas ist Gilles' Vater Drehbuchautor, und auch Gilles geht am Ende zum Film.

Davor wird er, und wir mit ihm, Augenzeuge der vielen Facetten der Bewegung, die auf den überschäumenden Pariser Mai folgten. Das Politische differenzierte sich aus, individualisierte sich, und in der bis heute beliebten Formel von der Politisierung des Privaten ("Das Private ist politisch") steckt die Privatisierung des Politischen: Durch "Bewußtseinserweiterung" auf Drogentrips und Indienreisen, durch sexuelle Revolution und Feminismus, durch Musik und Kino als Medien der erwarteten Befreiung.

Für mich war die Musik dieser Jahre eigentlich wichtiger, als das Kino. Das Kino war mit meinem Vater und seinem Beruf verbunden; Musik aber war wirklich etwas völlig Neues.

Assayas

"Eine Revolution ist keine Dinnerparty"

Gilles hört "Booker T & the M.G.'s" und "Captain Beefheart", "Dr. Strangely Strange" und "Tangerine Dream", er begegnet Frauen mit braunen, etwas zu langen, etwas zu vollen Haaren und großen Rehaugen, elfenhafte Wesen - ein Schönheitsideal der Epoche. Gilles liest auch Simon Leys "Maos neue Kleider", eine enttäuschte Abrechnung mit der chinesischen Kulturrevolution - was eine schöne Lüge ist, denn erst 1980 wurde dieses Buch bekannt, oder auch eine fragwürdige politische Anbiederung beim heutigen Publikum, gegenüber dem man wie den Pariser Mai auch die Kulturrevolution heute eher retten muss, als beides weiter zu diskreditieren.

Vielleicht aber wird man irgendwann beginnen, wieder anders gegenwärtig auf die Kulturrevolution zu blicken. Gewisse Sentimentalitäten, die die Hauptfigur zu gut aussehen lassen, hätte sich Assayas jedenfalls besser geschenkt.

"Eine Revolution ist keine Dinnerparty", sagte Mao, und Assayas zeigt, dass der Große Vorsitzende hier zumindest recht hat. Der untergründige rote Faden ist die Gewalt, die vielleicht mit Schuld trägt am Scheitern größerer Träume. Er zeigt, wie harmloses Sprayen von Graffitis in eine Gewaltspirale mündet: Molotowcocktails werden geworfen, Sicherheitsleute prügeln mit Eisenstangen und am Ende liegt ein Mensch im Koma.

In sich das Allgemeine finden

Auch darin, in diesem schleichenden Übergang von zwischen den Ebenen, zwischen legitimem Widerstand und illegitimem Terror, erinnert der Film an Assayas' letzte Zeitreise in seine eigene Vergangenheit der 1960er und 1970er Jahre, das Terrordrama "Carlos". Der Film schlägt sich nicht überdeutlich auf irgendeine Seite, nimmt keine Schuldzuweisungen vor. Es ist auch eher Ansichtssache der Figuren, was man eigentlich ganz genau für eine Revolution hält, und ob man etwas von ihr hält, natürlich auch.

Manche Figuren sind gegen die UdSSR, aber für Lenin. Eine der Differenzen, die hier eher verhandelt wird, ist die zwischen Subjektivität und Individualität. Diese Jugendlichen, dargestellt von einem ganzen Dutzend bezaubernder, unbekannter Jungschauspieler, sind subjektiv, aber nie individualistisch. Das heißt: Sie kapseln sich nicht ab von Gesellschaft, sondern finden in sich das Allgemeine.

Manchmal wirkt das wie ein Film von Phillippe Garrel, demjenigen unter den französischen Regisseuren, denen man die Liebe zur Jugend und die Post-68er-Melancholie am meisten anmerkt. Assayas erzählt fragmentarisch, reiht Momentaufnahmen aneinander. Erst in der letzten halben Stunde erinnert alles mehr an Truffaut, weil Assayas dann doch die Figuren noch etwas von Plotpoint zu Plotpoint zusammenführt. Da denkt Assayas offenkundig, er müsse jetzt doch noch etwas plotpointmäßig erzählen, dann leiert sein Film etwas aus. Nur etwas. Aber man kann sagen: Der Film wirkt zunächst wie ein Godard, dann wie ein Truffaut.

Grundsätzlich ist Assayas Auffassung von gutem Kino auch eher musikalisch: "Kino ist für mich kein Mittel der Information, noch nicht mal der Kommunikation, es ist eine Form der Kunst und seine Wirkung ist daher dialektisch… Ich will den Blick des Zuschauers nicht lenken." Einmal bekommt Gilles von einem Genossen klargemacht, dass sein Dasein als Künstler ihn zum Außenseiter stempelt: "Kunst, das ist Einsamkeit. Du bist außerhalb des Kampfes."

Als das Lesen noch geholfen hat...

"Après Mai" ist ein ungemein berührender, packender und zugleich luftig und charmant inszenierter Film, der davon erzählt, wie Idealismus in Melancholie münden kann, wie die Träume der Jugend verblassen. Gilles macht die Erfahrung, allein zu sein, denn am Ende gehen alle ihre Weges.

Diese Kinder von Marx und Coca-Cola glauben nicht an Gott, auch nicht wenigstens wie Pascal, aber sie glauben an Bildung, an das Kino und an die Freiheit. In ihrem Pathos des Lesens, des Lernens liegt einer der größten Unterschiede zu heute: Welcher Schüler kauft sich schon am Morgen fünf Zeitungen?

Alles wird irgendwann anders sein

Hier liegt die besondere Stärke und gegenwärtige Bedeutung des Films: Assayas ruft uns eine Epoche und eine Lebensform ins Gedächtnis, in der die Menschen kein Internet und kein Smartphone hatten, dafür viel Zeit, nicht nur zum Lesen. Man experimentierte mit sich selbst: mit Sex, Drogen, man rauchte; keiner trägt hier Helme, weder beim Fahrrad- noch beim Mopedfahren - Sicherheitsdenken, welcher Art auch immer, galt als reaktionär, spießig oder als einfach dumm. Auch die Eltern spielen für diese Jugend einfach keine herausragende Rolle, waren kein Punkt der Orientierung. Sie hatte sich von ihnen emanzipiert. Man war nicht fixiert auf das "Realistische", auf die Karriere, darauf, es irgendwem rechtzumachen. Großartig!

Vielleicht ist ja etwas dran an der Überlegung, dass wir etwas von dieser Generation lernen können. Nicht nur, aber auch, dass Sicherheitsdenken und Dummheit zusammengehören. Denn - siehe Pascal - nichts ist sicher, außer der Tod. Und so erzählt Assayas nicht nur indirekt, was uns heute fehlt, weil wir es vergessen haben, er zeigt uns auch, dass nichts so sein muss, wie es heute ist, sondern dass alles anders sein kann und irgendwann wird.

Assayas, Olivier: Post-May Adolescence; (Austrian Film Museum Books), Wien 2012, 14 Euro

Jones, Kent: Olivier Assayas (Filmmuseumsynemapublikationen); Wien, 22 Euro

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