Vom globalen Dorf zu globalisierten Dörfern

Beispiel Hamburg

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»hamburg.de« soll zum zentralen Portal für die Region werden. Rainer Scheppelmann, in der Senatskanzlei verantwortlich für die Web-Seiten der Stadt, hofft, der Spruch »die Seite hinter der ganz Hamburg steht« möge sich bewahrheiten. Die Stadt kommt spät aber immerhin optimistisch. Besondere Zugkraft versprechen sich die zukünftigen Betreiber von der Möglichkeit, dass Nutzer E-Mail-Adressen mit der Endung »@hamburg.de« kostenlos erhalten können. Lokalpatriotismus als Lokomotive der Hamburger Web-Entwicklung?

Was die Stadt ab Mitte des Jahres über eine administrative Anstrengung anbieten möchte, hat auf "Grasebene" bereits Wurzeln geschlagen. Zumindest theoretisch könnte die Stadt im Netz, analog zur historischen Entwicklung, aus ihren Web-Teilen (alle angesprochenen Adressen lassen sich über die Voranstellung von "http://www." ansteuern) zusammenwachsen: Von Blankenese bis Bergedorf und von den Walddörfern bis Harburg, den Stadtteilen und -vierteln Hamburgs widmet sich bereits eine Vielzahl von Angeboten. Der Trend zieht sich durch die ganze Republik. Ob Berlin-Kreuzberg, München-Perlach oder Köln-Rodenkirchen, überall wird das Paradox, kleinere geographische Räume in dem ortlosen Medium Internet abzubilden, umgesetzt.

Während sich in vielen Gemeinden die lokalen Verwaltungen um die Selbstdarstellung des Ortes im Web kümmern, handelt es sich hier in der Regel um die Initiativen von Privatpersonen. Sie waren schnell genug, sich den Namen des Stadtteils für die Domain zu sichern und betreiben eine private Liebhaberei, gestützt auf die Verbundenheit mit dem Wohnort. An die Stelle des gewohnten amtlichen Verlautbarungskanals treten jedoch - je nach Vorlieben und Möglichkeiten der Macher - in Angebot und Aussehen überaus unterschiedliche Sites.

So bietet »bergedorf.de« gut sortierte Übersichten über den Stadtteil und präsentiert sich als Wegweiser durch das Viertel, Branchenbuch und Gastronomie-Führer inklusive. Die Frage, ob ein Bergedorfer das Netz benötigt, um sich im eigenen Quartier zu orientieren, beantwortet Initiator Michael Graf mit einem klaren Ja: »Ob Restaurant oder Kinobesuch, die notwendigen Informationen stehen immer in der Zeitung, die gerade weggeworfen wurde. Das Internet ist dagegen ständig aktuell.«

Weniger als ein Portal zum Stadtteil versteht Karsten Fiedler »ottensen.de«. Er hebt besonders die drumherum entstehende Gemeinschaft hervor. Um die 150 regelmäßige Besucher nutzten vor allem die Gelegenheit zu einem Plausch wie in einer virtuellen Kneipe. Julius Krause dagegen klagt, dass die Nutzer »sternschanze.de« eher als Telefon mit angeschlossenem Fernseher betrachteten und sich zu wenig beteiligten. Dabei versucht er, sowohl mit dem Aussehen als auch der Themenwahl dem alternativen Milieu des Viertels entgegen zu kommen.

Krause nennt als Anregung für seine Arbeit die eigenen ersten Gehversuche im Web. Er begann damit, sich über die nähere geographische Umgebung im Netz zu orientieren. Diesen Ansatz hat er weiterverfolgt: »Die Sternschanze verbindet globale Kommunikation und regionale Identität« meint er, und empfiehlt den Aufbruch ins Netz von dort, wo sich die Besucher auch im realen Leben gerne aufhalten. Dementsprechend will er sein Angebot weiter ausbauen und bald auch E-Mail-Adressen anbieten, mit denen die Nutzer ihre lokalen Wurzeln ausweisen können.

Einen Schritt weiter geht Frank Schweppe. Seit drei Monaten bietet er unter »hegestrasse.de« den Nachbarn in der Hegestraße in Hamburg-Eppendorf an, sich im Web zu präsentieren. Allzu viele sind bislang nicht in die Web-Straße eingezogen. Er habe für das Projekt noch keine Werbung gemacht, begründet Schweppe die bisherige Zurückhaltung. Einen Ansatz zur Orientierung bietet die Nachbildung der Straße durch Verweise auf ihre Hausnummern. Darunter werden die Einwohner über das Stockwerk und ihre Wohnung - links oder rechts - kartiert. Wie sie ihre virtuelle Wohnung einrichten, bleibt ihnen überlassen.

»Es handelt sich um ein Experiment«, berichtet Schweppe. Es sei aus der Idee entstanden, die Möglichkeiten des Netzes auch für die unmittelbare Nachbarschaft nutzbar zu machen. An Vorstellungen nennt er die - fast schon obligate - Vermittlung eines Babysitters aber auch die Quartiersentwicklung. Allzu hoch können die Pläne noch nicht fliegen: Zehn Prozent, schätzt Schweppe, von etwa 1200 Leuten, die in der Hegestraße wohnen und arbeiten, haben Zugang zum Netz.

Als ein Urahn der verschiedenen Bestrebungen kann dasprenzl.net gelten. Motivierend wirkte sich 1995 in Berlin allerdings weniger die Suche nach Orientierung aus. Hier trieben die hohen Kosten für den Zugang zum Netz die Initiative voran. Ziel war es, durch die Verkabelung eines Wohnblocks im Prenzlauer Berg Ressourcen gemeinsam und damit billiger nutzen zu können. Dahinter stand die Vorstellung nicht nur der technischen, sondern gleichermaßen der kommunikativen Vernetzung auf lokaler Ebene. »prenzl.net war immer auch der Bäcker um die Ecke« so Martin Recke, ein ehemaliger Aktiver des Vereins.

Während sich die technischen Ambitionen für »prenzl.net« vor allem mit ihren finanziellen Dimensionen als hinderlich erwiesen, kommen die jüngeren Anbieter billiger davon. Anfallende Arbeiten erledigen sie nebenbei und in manchen Fällen deckt Werbung ihre Kosten. Dass die Marktlücke, in der sie operieren, sich jemals als lukrativ erweist, erwartet keiner von ihnen.

Eher, so Schweppe, seien rechtliche Schwierigkeiten zu erwarten, da noch unklar sei, ob Privatpersonen überhaupt Domains mit einem quasi offiziellen Namen betreuen dürfen. Hier wirkt die englische Lösung eleganter: Der Londoner Bezirk Islington präsentiert sich als islington.gov.uk von seiner offiziellen Seite, während islington.org.uk privatem Engagement überlassen bleibt.

Bemerkenswert pragmatisch präsentieren die Briten ihr Angebot einer E-Mail-Adresse. Keine Rede von Identität oder Lokalpatriotismus. Statt dessen die nüchterne Frage, ob eine sprechende Adresse unter Islington sich nicht leichter merken lasse als eine kryptische Zeichenfolge. Es spricht einiges für die Nüchternheit, denn welchen Zweck könnte ein lokaler Bezug, der schon jenseits der Stadtgrenze unverständlich wird, im weltweiten Netz haben?

Generell sieht Wolfgang Schröder von »eppendorf-online.de« derzeit zwei gegenläufige Tendenzen in der Entwicklung des Netzes am Werk. Einerseits versuchten zentrale Portale, Orientierung zu bieten. Andererseits mache sich eine zunehmende Regionalisierung bemerkbar. Möglicherweise zeitigt das beständige Wachstum des Netzes diese Zersplitterung. Der ständig wachsende Dschungel an Informationen wird gerodet, und auf den Lichtungen entstehen globalisierte Dörfer. Sie beziehen sich zwar auf ihre unmittelbare geographische Umgebung, müssen jedoch von vornherein internationale Standards berücksichtigen.

Beobachten lässt sich, dass die Regionalisierung in zwei verschiedene Richtungen verläuft. Zum einen versuchen Stadtteil-Portale die Frage zu beantworten, wie sich das Netz unter Bezug auf die Region nutzen lässt. Sie bedienen jene Hand voll Angestellter, die tatsächlich die Speisekarte des Mittagstisches im Lokal um die Ecke abruft. Von den gängigen Ansätzen der Art »Sie suchen, wir bieten« etwa über das Schalten von Kleinanzeigen unterscheiden sich solche Angebote zu wenig, als das hier viel Neues erwartet werden könnte. Sie besetzen jene Nische, die bislang vom schwarzen Brett im Supermarkt oder Wochenblättern gefüllt wird.

Auf die Umkehr der Frage, wie eine Region das Internet für sich nutzbar machen kann, dürften interessantere Antworten zu erwarten sein. Mit der Übertragung nachbarschaftlicher Verhältnisse ins Netz erhielten die Bewohner eines Viertels eine Möglichkeit der Auseinandersetzung, die sich mit herkömmlichen Mitteln nicht realisieren ließ. Über Web-Foren oder Mechanismen von Usenet und Mailing-Listen könnten sich auch größere Gruppen von Leuten verständigen. »ottensen.de« bietet mit seinem Forum einen ersten Ansatz. »sternschanze.de« will dagegen auch die Chance nutzen, den Austausch mit Vierteln in anderen Städten anzukurbeln, wo die gleichen Drogenprobleme auf der Tagesordnung stehen.

Das Projekt »hegestrasse.de« verknüpft beide Fragen in eigenwilliger Weise. Es stillt die in der Stadt unbefriedigte Neugier über die Nachbarn. Vielleicht kehrt ja so eines Tages ein Teil des dörflichen Lebens, in dem jeder von jeder zumindest ein bisschen zu erzählen weiß, in die Stadt zurück.