Von Interessen in Minsk und Impfungen in Berlin

Der Telepolis-Wochenrückblick mit Ausblick

Liebe Leserinnen und Leser,

natürlich ist es einfach, die Welt in Schwarz und Weiß zu sehen. Der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko ist dann böse, der junge Blogger Roman Protasewitsch gut. Die erzwungene Landung der Ryanair-Maschine in Minsk mit dem Regimegegner an Bord und dessen Festnahme ist dann "Staatsterrorismus" (Mateusz Morawiecki, Armin Laschet); die Maßnahmen von EU, USA und Nato schützen die Welt vor solchem Unheil.

Doch die Welt ist nicht schwarz-weiß und die politischen Lager teilen sich nicht in Gut und Böse. Nach dem Zwischenfall in Minsk habe ich daher ungeachtet der verurteilungswürdigen Festnahme Protasewitsch die sich überschlagenden Reaktionen westlicher Staaten auf Basis einer einfachen Frage auf den Prüfstand gestellt: War die erzwungene Landung tatsächlich ein einseitiger Tabubruch?

Nein, war sie nicht – und das lässt die Reaktionen von Nato-Staaten in einem anderen Licht erscheinen. Denn auch wenn die Fälle im Detail anders zu bewerten sind, traf die erzwungene Landung der Maschine des damaligen bolivianischen Präsidenten Evo Morales im Westen (anders als in Staaten Lateinamerikas, Afrikas und Asiens) im Jahr 2013 auf keine staatliche Kritik. Damals ging es den USA darum, des WikiLeaks-Informanten Edward Snowden habhaft zu werden, der an Bord des präsidialen Flugs aus Moskau vermutet wurde.

Wäre Snowden an Bord gewesen, säße er nun wohl im achten Jahr in einem Supermax-Gefängnis, dessen Bedingungen selbst in den USA als menschenrechtswidrig erachtet werden. Und sein Schicksal dürfte so wenig Beachtung finden wie das von WikiLeaks-Gründer Julian Assange, der sich in britischer Folterhaft befindet.

In den USA übergeht man dieser Tage auch geflissentlich, dass die eigenen Behörden noch 2009 einen Linienflug der Air France zur Notlandung in Martinique zwangen, weil sich ein unliebsamer Passagier an Bord befand. Der Kolumbianer Hernando Calvo Ospina hatte vom französischen Exil aus immer wieder auf die Rolle der USA im bewaffneten und sozialen Konflikt in seinem Heimatland hingewiesen. Der Überflug (!) eines Linienfluges mit ihm Bord – die Destination war Mexiko – wurde von den USA daraufhin als Gefahr für die nationale Sicherheit gewertet.

Was in Minsk geschehen ist, stellt eine neue Qualität staatlicher und politisch motivierter Eingriffe in den Luftverkehr dar. Dessen ungeachtet auf die Widersprüche in den Reaktionen westlicher Staaten hinzuweisen, bedeutet nicht, die fragwürdige Inhaftierung Protasewitschs gutzuheißen. Eigentlich sollte das zu betonen unnötig sein. Ist es aber wohl nicht, wenn ein Forist auf den genannten Kommentar hin die rhetorische Frage stellt: "Also sollen die Schergen Lukaschenkos jetzt ruhig Protasewitsch foltern?

Solchen Fragen bringen vor allem die Erkenntnis, dass Moralismus und Emotionen der Politik ebenso wenig dienlich sind wie dem Völkerrecht. Werden von Seite der Mächtigen Moral und Gefühl angestrengt, ist Vorsicht angebracht. Und ein genauer Blick auf die Interessen.

Im Übrigen müssen Roman Protasewitsch und seine Begleiterin Sophia Sapgea freigelassen werden!

Berechtigte Kritik an Kinder-Impfkampagne

In der Innenpolitik sorgte vergangene Woche die Forderung nach einer Impfkampagne für Kinder ab zwölf Jahren für Aufregung. Bei Telepolis haben wir die gesamte Debatte früh hinterfragt – und das aus gleich mehreren Gründen:

  • Erstens hatten Gesundheitsminister Jens Spahn und Bildungsministerin Anja Karliczek (beide CDU) eine flächendeckende und dauerhafte Öffnung der Schulen indirekt von Impfungen abhängig gemacht.
  • Zweitens sieht die Ständige Impfkommission (Stiko) nach Angaben des Redaktionsnetzwerks Deutschland wegen der mangelhaften Datenlage von einer generellen Impfempfehlung für Kinder zwischen zwölf und 15 Jahren ab.
  • Drittens griffen Politiker wie der niedersächsische Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) Haltung der Stiko an, Tonne bezeichnete die Haltung des Expertengremiums als "das Gegenteil dessen, was Wissenschaft leisten sollte".

Unsere Kritik an diesen Punkten erwies sich als gerechtfertigt. Eine generelle Impfkampagne für Kinder wird es nicht geben, der Präsenzunterricht in Schulen wird nicht von Impfungen abhängig gemacht und die Stiko verwahrte sich gegen anmaßende Einmischungen aus der Politik. Ein Einsehen hatte übrigens zumindest der niedersächsische Landesvater Stephan Weil (SPD): Er gestand nach dem Fachgipfel von Bund und Ländern: "Ich bin kein Impfexperte."

Über Experten und alternative Meinungen wird es bei Telepolis auch in dieser Woche gehen. Heute gehen wir noch einmal der Frage nach, wie die Dürre in Kalifornien einzuschätzen ist und was diese Entwicklung über den Klimawandel aussagt.

Im Laufe der Woche wird es bei Telepolis zudem um das alternative Medienportal Rubikon gehen. Dort haben sich gerade mehrere Prominente aus dem Redaktionsbeirat verabschiedet. Wir haben mit mehreren Beteiligten gesprochen und werden über die Hintergründe berichten. Dabei geht es auch immer um eine Frage, die Telepolis bewegt und die Debatte in unserer und über unsere Redaktion betrifft: Was sind alternative Medien und was müssen sie leisten?

Bis dahin, bleiben Sie uns gewogen, Ihr

Harald Neuber