Von der Krim bis Bergkarabach: Die ungelösten Konflikte der Sowjetzeit

Beide Gebiete sind seit Jahren Gegenstand von Machtkämpfen. Die Bevölkerung schaut hilflos zu. Zu den historischen Hintergründen zweier Streits um Land und Macht (Teil 1)

Stellen Sie sich vor, Sie wären auf einem Stück Land geboren, das nie zur Ruhe kommt, das ständig Gegenstand von Streitigkeiten ist. So geht es den Menschen auf der Halbinsel Krim, die im Jahr 2014 in der russischen Annexion dieses Gebietes eskalierten. Die Annexion war der gewaltsame Höhepunkt in der Geschichte eines Territoriums, dem die zutiefst gespaltene Bevölkerung nur hilflos beiwohnen konnte.

Ähnlich lief es in der Region Bergkarabach, in der vor wenigen Tagen erneut militärische Manöver stattfanden. Auch hier mündete der Konflikt nicht in einem Friedensabkommen. Eine der Parteien gewann lediglich die Oberhand, weil ihr zur richtigen Zeit mehr Druckmittel zur Verfügung standen. Freude über eine (zeitweilige) Überlegenheit vermag wohl kaum aufzukommen. Denn das Leid in der Bevölkerung ist dadurch nicht kleiner geworden, im Gegenteil.

Gewalt und Verlust prägen die armenischen und aserbaidschanischen Bürger und auch die Einwohner der Krim seit Jahrzehnten. Es gibt kaum Familien, die nicht von Kriegstraumata betroffen oder durch deren Folgen beeinträchtigt sind.

Beide Konflikte lassen sich völkerrechtlich einordnen und einander gegenüberstellen. Das ist aber nicht sinnvoll, ohne vorher in groben Zügen die historischen Ereignisse nachzuzeichnen, die zu den aktuellen Situationen in beiden Fällen geführt haben. Nach der historischen Perspektive in einem ersten Teil dieses Artikels folgt daher eine völkerrechtliche Einordnung in einem zweiten Teil.

Der Konflikt in der Region Bergkarabach

Die Region Bergkarabach liegt im Kaukasus, ist hügelig, grün und beherbergt viele alte armenische Kulturdenkmäler. Das Klima ist optimal für Granatapfelbäume.

Schon seit 1918 befindet sich Bergkarabach in nahezu ständigem Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien. Ein Kernpunkt des Konfliktes war von Anfang an das Autonomiestreben der Region, das von Armenien unterstützt wurde, während Aserbaidschan auf der territorialen Integrität Bergkarabachs bestand.

Zu Beginn hielt Aserbaidschan die Verwaltungsgewalt über Bergkarabach, man einigte sich aber auf ein Abkommen, das der Grenzregion weitgehende Autonomierechte zubilligte. Von Anfang an wurde dieses Abkommen immer wieder gebrochen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion traten die lange unterdrückten Aggressionen wieder an die Oberfläche.

Das überwiegend mit armenischer Bevölkerung besiedelte Bergkarabach konnte sich mit armenischer Unterstützung gegen Aserbaidschan durchsetzen und weitere umliegende Gebiete besetzen. Es bestand seither als De-facto-Staat. Die 1991 von Bergkarabach erklärte Unabhängigkeit von Aserbaidschan wurde völkerrechtlich jedoch nie anerkannt.

Die Region wies in dieser Zeit diverse quasistaatliche Strukturen wie eine Verfassung, ein Parlament und eigene Streitkräfte auf, man pflegte sogar auswärtige Beziehungen. Bergkarabach war damit kein Einzelfall, es gibt weitere postsowjetischen De-facto-Staaten. Dazu zählen Abchasien, Südossetien und Transnistrien, die ebenfalls nie völkerrechtlich als eigenständige Staaten anerkannt wurden.

Im Jahr 1993 gaben Resolutionen der Vereinten Nationen schließlich Aserbaidschan recht, indem sie die Forderung des Landes nach der Freigabe eines Großteils der von Armenien besetzten Landesteile stützten.

Der weitere Konfliktlösungsprozess wurde sodann der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) übertragen. Bereits im Jahr 1994 verabschiedeten Bischkek-Protokoll, mit dem eine Waffenruhe besiegelt werden sollte, wurde die Stationierung von Friedenstruppen in der umstrittenen Region Bergkarabach vereinbart.

Dazu kam es aber nie. Entsprechende Versuche scheiterten immer entweder am fehlenden Willen der Konfliktparteien selbst oder aber an den zunehmenden Spannungen zwischen den westlichen OSZE-Mitgliedern und Russland.

Schließlich wurde eine "Minsk-Gruppe" aus 13 Mitgliedsstaaten eingesetzt, die sich unter dem Dach der OSZE weiterhin mit verschiedenen Lösungsansätzen für die Region beschäftigte. Auch das blieb aber, wie sich an den jüngsten Ereignissen eindrücklich zeigt, erfolglos.

Der eingefrorene Konflikt forderte in der Zeit bis 1994 etwa 20.000–30.000 Todesopfer und eine Million Binnenflüchtlinge. Immer wieder kam es zu ethnischen Säuberungen.

Dabei vertiefte die räumliche Trennung zwischen Armenien und Aserbaidschan die Feindschaft zwischen den Ländern noch weiter. Als Konsequenz der zunehmenden Feindseligkeiten und Spannungen in den Folgejahren erreichte der Konflikt im Vier-Tage-Krieg im Jahr 2016 einen neuen Höhepunkt, der mehrere Hundert Todesopfer forderte.

Die Hoffnung, mit der nach der friedlichen Revolution in Armenien eingesetzten Regierung unter Nikol Paschinjan eine fruchtbare diplomatische Lösung erreichen zu können, zerstreuten sich schnell.

Ein Spielball zwischen West und Ost

2020 kam es erneut zum Krieg. Aserbaidschan eroberte die von Bergkarabach neu errungenen Gebiete wieder zurück. Im November 2020 vermittelte Russland zwischen Armenien und Aserbaidschan.

Armenien unterzeichnete gezwungenermaßen ein Waffenstillstandsabkommen, nach dem es viele der eroberten Gebiete wieder an Aserbaidschan abtrat.

Die Bevölkerung reagierte gespalten auf das Abkommen, dessen Einhaltung anschließend von einer in Armenien abgestellten russischen Friedensmission kontrolliert werden sollte. Deren Rolle ist weitgehend unklar. Immer wieder kam es seitdem zu militärischen Attacken Aserbaidschans in Bergkarabach und anderen Regionen Armeniens, die mehrere Tote forderten.

Aufgrund der nicht abflauenden Spannungen wurde im Januar 2023 eine zivile Beobachtermission der Europäischen Union (EU) eingesetzt, die als Teil der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) in der EU unter anderem durch regelmäßige Patrouillen an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan die Situation in der Region auskundschaften sollte.

Diese hatte sich für die in Bergkarabach lebende Bevölkerung inzwischen massiv verschlechtert, da die einzige Versorgungsroute zwischen Armenien und der Grenzregion von Aserbaidschan blockiert wurde. Lebensmittellieferungen erreichten das Gebiet kaum noch.

Am 20. September dieses Jahres schließlich wurde Bergkarabach von erneuten militärischen Angriffen Aserbaidschans erschüttert. Nur einen Tag später willigten die Verantwortlichen in der Region ein, ihr eigenes Militär aufzulösen und stimmten Gesprächen über eine Integration in Aserbaidschan zu.

Einen gemeinsamen Ausgangspunkt für Verhandlungen gibt es nicht: Armenien berichtete von "ethnischen Säuberungsaktionen" durch Aserbaidschan, während Aserbaidschan selbst sein militärisches Einschreiten als "Anti-Terror-Aktion" bezeichnete. In einer Dringlichkeitssitzung der Vereinten Nationen am 22. September wurden vor allem Schuldzuweisungen laut.

Fest steht, dass es nicht die eine ausschlaggebende Ursache für die jüngste Eskalation gab, sondern eine ganze Kette von Schlüsselereignissen. Die immer wieder gescheiterten Friedensbemühungen lassen sich nicht nur mit den ungelösten Streitfragen begründen, in denen die Konfliktparteien keinen Konsens fanden (der völkerrechtliche Status der Region, die Situation der Binnenflüchtigen und der Abzug von Streitkräften).

Auch mit der internationalen Aufmerksamkeit für die Region war es nicht weit her. Nicht einmal die Vorsitzenden der Minsker Gruppe der OSZE wirkten zielstrebig auf eine Lösung hin.

Überdies beschränkte man sich bei den Verhandlungen auf die höchste politische und diplomatische Ebene, ohne die beteiligten Bevölkerungsgruppen und damit den Kern des Problems zu adressieren.

Auch Russland kommt in dem Konflikt eine Schlüsselrolle zu. Moskau nutzte die Chance, sich zu einer unverzichtbaren Ordnungsmacht aufzuschwingen, die auch mit den USA und Europa Verhandlungen führte.

Während Russland sich in dem Konflikt immer auf die Seite Armeniens geschlagen hatte, nahm der russische Einfluss mit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Februar 2022 deutlich ab. Dieser neue Konflikt nimmt seither die ganze Aufmerksamkeit Moskaus in Anspruch, eine Entwicklung, die die Position Aserbaidschans zusätzlich stärkte.

Die historischen Hintergründe der Krim-Annexion

Von Bergkarabach aus in nordwestlicher Richtung liegt das Schwarze Meer und darin die Halbinsel Krim. Die Inselvegetation ist hier besonders vielfältig und reicht von trockener Steppe im Norden bis zu fruchtbarem Land mit mediterranem Klima im Süden.

Die Halbinsel ist außerdem reich an antiken Ruinen, die noch das byzantinische Reich überdauerten. Zudem liegt auf der Krim ein für Russland strategisch wichtiger Zugang zu einem Hafen, der aufgrund seiner südlichen Lage im warmen Schwarzen Meer nie zufriert.

Russland nahm die Krim schon 1783 erstmals für sich in Anspruch, als sie unter der Herrschaft Katharina der Großen erstmals an das russische Reich angegliedert wurde. Im Jahr 1853 begann dann der erste Krimkrieg, der drei Jahre andauern sollte. Russland kämpfte um die Halbinsel gegen das Osmanische Reich, Großbritannien und Frankreich und unterlag letztlich.

Unter Einfluss der Russischen Revolution

In den Folgejahren wurde die komplexe Gemengelage auf der Krim von verschiedenen Faktoren beeinflusst, die zur politischen Instabilität nicht nur dort, sondern in der ganzen osteuropäischen Welt beitrugen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im späten russischen Zarenreich, litten große Bevölkerungsteile im damaligen Agrarstaat Russland Hunger. Die Bevölkerung wuchs stark an, aufgrund der schlechten Lebensverhältnisse wurden die Menschen jedoch kaum älter als 40 Jahre.

Aus Verzweiflung wanderten sie vom Land, das sie kaum ernähren konnte, in die Städte aus, woraufhin sich die Situation noch mehr zuspitzte. Die Städtebevölkerung in der Industrialisierung wuchs von sieben auf 28 Millionen Menschen an.

Auf engstem Raum und unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen wuchs der Unmut, bis 1904 politische Proteste in Sankt Petersburg gegen die Ausbeutung der Arbeiter und für Meinungs- und Versammlungsfreiheit laut wurden.

Die Lage eskalierte am "Blutsonntag", an dem russische Wachmannschaften vor dem Petersburger Zarenpalast etwa einhundert Demonstranten erschossen. Dieses Ereignis war Ausgangspunkt für landesweite, anhaltende Proteste. Vermittlungen zwischen Bauern und Großgrundbesitzern scheiterten über Jahre hinweg.

Mangels sozialer Reformen verschlechterte sich die Lage der Bauern weiter und der Zustrom zu den progressiven bolschewistischen, radikal-sozialistischen Parteien wurde stärker. Im Februar 1917 erlangten schließlich Gegner des Zarismus die Kontrolle über die damalige Hauptstadt Sankt Petersburg. Die Ereignisse überschlugen sich. Zar Nikolai musste im März 1917 auf Druck der Armeeführung abdanken, was nach 300 Jahren das Ende der Romanow-Dynastie einläutete.

Russlands langer Arm

Diese politische Umbruchstimmung hatte Auswirkungen auch auf das Gebiet der Ukraine und der Halbinsel Krim. 1921 wurde das Gebiet zur autonomen sozialistischen Sowjetrepublik erhoben. Der Einfluss Russlands über die Ukraine wuchs. Noch bis zum Zweiten Weltkrieg exportierte Russland große Mengen Getreide aus dem Land, das noch heute als "Kornspeicher Europas" bezeichnet wird.

Später wurde die Ukraine das Zentrum des russischen Waffenhandels. Während sie so systematisch ausgebeutet wurde, blieb das Land selbst arm.

Ähnlich sah es auf der Krim aus. Auch während der Besetzung durch die faschistische Wehrmacht im Jahr 1941 kam das Land nicht zur Ruhe. Einen grausamen Höhepunkt markierten die 1944 von Stalin angeordneten "Säuberungswellen" auf der Halbinsel. Systematisch ließ er Minderheiten (insbesondere die Krim-Tataren, die seit Jahrhunderten auf der Halbinsel gesiedelt und gehandelt hatten) deportieren.

Den Grundstein für die Krim-Annexion legte 1954 (unabsichtlich) Nikita Chruschtschow, der anlässlich des 300. Jahrestages des Vertrags von Perejaslaw die Krim an die ukrainische Sowjetrepublik verschenkte.

Was damals ein Zeichen der russisch-ukrainischen Einheit sein sollte, das auf den 1654 erfolgten Zusammenschluss des Kosakenvolkes mit dem russischen Zaren zurückging, bedauert Putin bis heute.

Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 warf die Ukraine erneut weit zurück. Zwar wurde das Land 1991 unabhängig, konnte aber dennoch nur mit Schwierigkeiten seine Herrschaft auf der Krim durchsetzen. Die Halbinsel wurde weitgehend autonom.

Was den russischen Einfluss auf die Krim betraft, war die Bevölkerung auf der Halbinsel gespalten. Einige Minderheiten, vornehmlich die Tataren, stellten sich gegen eine russische Führung (aufgrund der Deportationserfahrung), einige westlich orientierte Ukrainer ebenfalls. Russischsprachige Bewohner der Krim hingegen lehnten eine Herrschaft Kiews ab.

Der Einfluss der Oligarchen auf die Ukraine wuchs weiter unter dem ukrainischen Regierungsoberhaupt Victor Janukowitsch. Nach der "Orangen Revolution" 2004 kam es 2013 erneut zu Unruhen. Es folgten Proteste auf dem Maidan, weil Janukowitsch eine Annäherung an die EU ablehnte, während die ukrainische Bevölkerung sie einforderte.

Im Februar 2014 schließlich musste Janukowitsch aufgrund der Unruhen fliehen. Die Ereignisse überschlugen sich, bewaffnete Streitkräfte begannen, die Krim zu besetzen. Für die Krim-Bevölkerung zunächst unkenntliche, von Putin entsandte Soldaten, sollten als vermeintliche "einheimische Freiheitskämpfer" die Herrschaft über die Krim erobern.

Schnell wurde von den Besetzern ein militärisch kontrolliertes Parlament eingesetzt, das ohne Volksbeteiligung einen neuen Präsidenten wählte und anschließend auch gleich die Annexion der Krim an Russland beschloss. Ein Schein-Referendum sollte nach außen eine demokratische Volksabstimmung vortäuschen und so den Annexionsbeschluss legitimieren. Am 18. März 2014 wurde der Beitrittsvertrag geschlossen.

Ausblick

Die russische De-facto-Herrschaft über die Krim dauert bis heute an, wenngleich immer wieder versucht wurde, die Annexion 2014 für völkerrechtswidrig erklären zu lassen und rückgängig zu machen.

Hoffnungen, dass die Ukraine das Gebiet zeitnah wieder für sich beanspruchen kann, schwinden. Die Situation in der Region Bergkarabach ist ähnlich aussichtslos. Aktuell fliehen aufgrund der jüngsten Ereignisse alle aus dem Gebiet, die die Möglichkeit dazu haben. Armenien ist mit dem plötzlichen Zustrom an fliehenden Menschen überfordert.

Aber möglicherweise gibt es Anhaltspunkte im Völkerrecht, die tauglich sind, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Ob die Geschehnisse in Bergkarabach und auf der Krim vielleicht sogar völkerrechtswidrig sind, lesen Sie im zweiten Teil dieses Artikels.