Von der Norm- zur Systemfrage

Der Aufstand vom 17. Juni 1953 entzündete sich an Lohnfragen und endete im Kugelhagel der sowjetischen Besatzungsarmee

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Mit den runden Jubiläen zum Gründungsjahr von Bundesrepublik und DDR sowie zum Fall der Mauer richtet sich dieses Jahr auch wieder die öffentliche Aufmerksamkeit auf die große Gründungskrise der DDR, auf den Arbeiter- und Volksaufstand am 17. Juni 1953. Was damals als Auseinandersetzung um Lohnfragen und Leistungsvorgaben (Arbeitsnormen) in den Betrieben begann, endete im Kugelhagel der sowjetischen Besatzungsarmee. Mit einem sozialwissenschaftlich geschulten Blick auf den Ablauf der Ereignisse kann man Ort und Zeit des Umschlagens von der Norm- zur Systemfrage sehr genau bestimmen.

Das entscheidende Moment fand schon am frühen Nachmittag des 16. Juni auf dem Platz vor dem Haus der Ministerien der DDR in der Leipziger Straße, dem heutigen Sitz des Bundesfinanzministers statt. Kurz nach 13 Uhr treffen hier rund 3.000 demonstrierende Bauarbeiter ein. Ihr Zug durch die Berliner Innenstadt hatte am Morgen gegen 9 Uhr an den Großbaustellen der Stalinallee begonnen. Dort entsteht gerade die neue städtebauliche Prachtachse des sozialistischen Teilstaates, so dass hier eine große Zahl an Baubrigaden beschäftigt ist.

Anlass ihrer Demonstration ist die aktuelle Ausgabe der Gewerkschaftszeitung Tribüne, in der noch einmal ausdrücklich die von der SED-Führung betriebene allgemeine Erhöhung der Arbeitsnormen begrüßt und unterstützt wird. Damit gießt der Gewerkschaftsbund noch einmal Öl in das seit Monaten schwelende Feuer einer politisch aufgeladenen Tarifauseinandersetzung. Staats- und Parteiführung betreiben seit Sommer 1952 den „planmäßigen Aufbaus des Sozialismus“, der insbesondere auf Kosten der Beschäftigten gehen sollte.

Demonstration vor dem Haus der Ministerien

In erregten Diskussionen auf den Baustellen machen die Arbeiter ihrem Ärger Luft. Sie ärgert, dass gerade die eigene Gewerkschaft der Position ihrer Mitglieder in den Rücken fällt und einmal mehr offensichtlich wird, dass sie nur eine Marionette des SED-Regimes ist. Schon am Vortag hatten sich die Arbeiter geweigert, eine Resolution anzunehmen, die die Normerhöhung begrüßt hätte. Insofern ist der Tribüne-Artikel der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, so dass die Arbeiter beschließen, geschlossen zum Regierungssitz zu marschieren und die Politiker dort mit den eigenen Forderungen zu konfrontieren. Bilden anfangs 300 Bauarbeiter den Protestzug, schwillt die Gruppe im Laufe des Vormittags auf das Zehnfache an. Immer mehr Arbeiter anderer Baustellen schließen sich an.

Angekommen am Haus der Ministerien rufen die Demonstranten nach Ministerpräsident Otto Grotewohl, sie wollen ihm ihre Resolution übergeben. Aber Grotewohl befindet sich nicht im Gebäude, stattdessen wenden sich die beiden Minister Heinrich Rau und Fritz Selbmann der Menge zu, versuchen sie zu beschwichtigen. Gegen 14 Uhr tritt Selbmann vor das Gebäude, besteigt einen eilig aufgestellten Tisch und redet auf die Demonstranten ein. Selbmann ist mittlerweile Minister für Erzbergbau und Hüttenwesen in der DDR-Regierung, er verkörpert den glaubhaften Typ des Arbeiterführers. Schon in der Weimarer Republik hatte er als Arbeiter und kommunistischer Politiker für die Interessen der einfachen Leute gestritten, die dunklen Jahre des Nationalsozialismus hatte er im KZ überlebt.

Als er zu einer Rede ansetzt, wird aber auch er ausgepfiffen. Demonstranten fordern, er solle verschwinden, erste Rufe nach Rücktritt der Verantwortlichen, ja der gesamten Regierung werden laut. Die versammelten Arbeiter kennen diese Szene, vor ihrem geistigen Auge wird eine der Gründungsszenen der DDR lebendig. Noch nicht einmal vier Jahren zuvor, im Oktober 1949, waren die frisch gewählten Minister der DDR-Regierung in Betriebe ins ganze Land ausgeschwärmt und hatten dort in pathetisch inszenierten Großversammlungen vor den Belegschaften die Einheit von Staat, Regierung und Werktätigen beschworen.

Nun ist es soweit, dass die Arbeiter diese Versprechen nachdrücklich einfordern. Indem sie vor den Regierungssitz ziehen und die Minister zwingen, zu ihnen zu sprechen, stellen sie diesen wichtigen Bestandteil des DDR-Gründungsakts erneut her und entlarven damit gleichzeitig den Wortbruch der „Arbeiterregierung“. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird für die Anwesenden sinnlich fassbar. Ihnen wird damit aber auch verdeutlicht, dass ihre Kritik an der Lohnpolitik tiefer reicht, es geht nicht mehr um Normfragen, sondern die selbst erklärte Existenzberechtigung der Machthaber ist in Frage gestellt.

Die Situation kippt

Dieser Wendepunkt der Ereignisse wird manifest, als Selbmann auf seinem Tisch von einem Bauarbeiter in weißem Kittel verdrängt wird. Er habe unter den Nazis im Gefängnis gesessen, ruft dieser, und scheue sich nicht, wieder als Häftling einzusitzen, wenn dadurch die Freiheit gewonnen werden könne. Dann benennt er die Forderungen der Bauarbeiter. Stürmischer Beifall ringsum. Als der Minister erneut versucht, das Wort zu ergreifen, wird er von einem zweiten Demonstranten endgültig beiseite geschoben. Dieser erklärt: „Kollegen, es geht hier nicht mehr um die Normen und die Preise. Es geht hier um mehr. Das ist eine Volkserhebung. Wir wollen frei sein. Die Regierung muss aus ihren Fehlern die Konsequenzen ziehen. Wir fordern freie und geheime Wahlen.“

Automatisch werden die ursprünglichen, eher unpolitischen Forderungen um die nach Ablösung der Regierung und freie Wahlen ergänzt. Genau diese Szene vor dem Haus der Minister markiert eine neue Dimension der Auseinandersetzung und die Ereignisse geraten endgültig außer Kontrolle. Der Demonstrationszug zieht weiter und verbreitet über einen erbeuteten Lautsprecherwagen die Forderung nach einem Generalstreik. Es ist die Selbstlegitimitation der DDR als „demokratischer Arbeiter- und Bauernstaat“, die die SED angreifbar macht. Ernsthafte Proteste gegen die Arbeits- und Wirtschaftspolitik setzen damit die Systemfrage auf die Tagesordnung.

Es war am 16. Juni nur noch eine Frage der Zeit, bis sich diese Einsicht in weiteren Kreisen der Bevölkerung durchsetzen würde. Das Lauffeuer war in Bewegung. Es war genau die geschilderte Szene, in Folge derer dieser Umbruch manifest wurde und die allgemeinpolitischen Forderungen sich unumkehrbar auf die ganze Stadt und am nächsten Tag auf die gesamte DDR ausbreiteten. In der gesamten DDR beteiligten sich über eine Million Menschen an den Protesten. Nur die rohe Gewalt der Sowjetmacht konnte diese Situation für die Machthaber noch retten, es kam zu zahlreichen Verhaftungen, Hunderte wurden verletzt und mindestens 55 Menschen getötet.

Starre Kopplung im System

Man kann diesen Effekt mit dem sozialwissenschaftlichen Modell einer starren Kopplung beschreiben. Was ursprünglich vom Organisationstheoretiker Charles Perrow für komplexe technische Systeme entwickelt wurde und erklärt, wie kleine Effekte zum totalen Kontrollverlust führen können, kann auch auf soziale Systeme angewendet werden.

Im Fall der frühen DDR findet man eine starre Kopplung zwischen Wohlstandversprechen und Systemfrage vor: Mit der Staatsgründung war ein symbolischer Pakt zwischen Regierung und Werktätigen geschlossen worden und fest mit dem Versprechen auf bessere Arbeitsbedingungen und ein besseres Leben als im Kapitalismus verbunden worden. Die realen Entwicklungen in der DDR entzauberten aber dieses Wohlstandsversprechen und zogen damit auch ihre öffentliche Legitimierung in Zweifel. Ohne Besatzungstruppen wäre das Regime schon 1953 an seinen eigenen Widersprüchen zerbrochen, so konnte es noch bis zum Zerfall des sowjetischen Machtblocks weiter existieren.