Von der Ohnmacht zum Winterschlaf

Ein ziemlich anrüchiges Narkotikum soll die Körpertemperatur senken

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Für zukünftige Raumreisen wäre es interessant, die Lebensfunktionen der Passagiere verlangsamen zu können, damit diese Hunderte von Jahren Flug überstehen. Mancher Millionär mag auch einfach auf die Zukunft neugierig sein. Mit Tiefgefrieren ist man bisher ebenso wenig weiter gekommen wie mit elektrischen Signalen ans Gehirn. Nun wurde ein erster Erfolg bei Mäusen erzielt – mit dem Inhaltsstoff von Stinkbomben!

Schwefelwasserstoff entsteht beispielsweise, wenn man Säure auf Schwefeleisen gibt, was wiederum durch Mischung von Schwefel und Eisen entsteht. Ein beliebter Versuch im Chemieunterricht, denn „das Rösoltat röcht gar förchterlich“, wie es in der „Feuerzangenbowle“ heißt. Den Megafurz-Duft nach faulen Eiern gibt es auch in Form von Stinkbomben – „die Ampulle zerbrechen und sich schnell entfernen“, so stand es auf den einst überall verkäuflichen Scherzartikeln.

Heute sind die Stinkbomben nicht mehr in jedem Schreibwarenladen zu haben. Ein Grund waren anhaltende Beschwerden von notorisch geplagten Schulen und Eltern, ein anderer, dass die jugendlichen Käufer das Produkt zu oft gleich im Geschäft testeten – und die 50 Pfennig Verdienst waren das anschließende zweistündige Auslüften einfach nicht wert. Ein dritter Grund ist jedoch, dass die Stinkbomben kein so harmloser Scherz sind, wie man gemeinhin glaubt.

Schwefelwasserstoff hemmt nämlich den Stoffwechsel, genauer gesagt die Sauerstoffaufnahme im Körper, ähnlich wie Kohlenmonoxid oder auch Cyanat – Blausäure. Auch die Giftigkeit von Schwefelwasserstoff und Blausäure ist etwa gleich hoch. Nur während Blausäure nur leicht angenehm nach Mandeln riecht, wenn die tödliche Konzentration bereits erreicht ist und Kohlenmonoxid völlig geruchlos ist und so in schlecht entlüfteten Öfen entstanden im Schlaf tötet, stinkt Schwefelwasserstoff so bestialisch, dass Menschen sich normalerweise aus der Gefahrenzone bringen, bevor eine gefährliche Konzentration erreicht ist. Ist dies nicht möglich – beispielsweise weil Lehrer nach einem Stinkbombenanschlag anordnen „Fenster zu und keiner verlässt den Raum – das soll euch eine Lehre sein“ – so kann der stinkende Scherzartikel allerdings durchaus zu Ohnmacht und Vergiftungen führen bei diejenigen, die nahe an der Stelle sitzen, wo die Stinkbombe geworfen wurde.

Besser erstunken als erfroren?

Drei amerikanische Wissenschaftler am Fred Hutchinson Cancer Research Center – Eric Blackstone, Mike Morrison und Mark B. Roth – haben nun aber genau wegen dieser Eigenschaften des Schwefelwasserstoffs untersucht, ob damit eine Art „künstlicher Winterschlaf“ ausgelöst werden kann. Beim Winterschlaf wird ja der Stoffwechsel eines Warmblüters durch deutliches Absenken der Körpertemperatur unter das normale Maß reduziert, was bei den typischen Winterschläfern dazu führt, dass diese ohne Nahrungsaufnahme auskommen.

Bei Menschen könnte ein solcher reduzierter Metabolismus nützlich sein, wenn entweder lange Raumfahrten real werden oder aber zur Behandlung von Krankheiten, die mit extremem Fieber verbunden sind oder bei Situationen wie Traumen oder Krebs, wo es auch wünschenswert wäre, mögliche Folgen zu verzögern oder die Aktivität und somit die Schäden an gesunden Zellen während Strahlen- oder Chemotherapie abzusenken. Und auch komplizierte Operationen wären mit reduzierter körperlicher Aktivität des Patienten leichter durchführbar.

Abfall von Sauerstoffverbrauch und CO2-Ausstoß bei Versuchsmäusen in 80 ppm H2S (Bild: Science)

Tatsächlich waren Blackstone, Morrison und Roth erfolgreich, wie sie im neuesten Science berichten: mit 80 ppm – 80 Teilen Schwefelwasserstoff in einer Million Teilen Luft – konnten sie Mäuse tatsächlich in einen künstlichen Winterschlaf schicken: Nach fünf Minuten nahm die Sauerstoffaufnahme der Mäuse bereits auf 50% und ihr Kohlendioxidausstoß auf 40% ab, nach sechs Stunden lag beides bei nur noch 10% des Normalzustands und die Körpertemperatur der Mäuse war auf 2° über der Umgebungstemperatur gefallen und statt 120 Atemzügen in der Minute verblieben gerade noch deren 10.

Nach Wiederherstellen einer normalen, schwefelwasserstofffreien Atmosphäre erholten sich die Mäuse und es konnten bei Verhaltenstests bislang keine Veränderungen durch mögliche Vergiftungen und Hirnschädigungen festgestellt werden. Doch ob dies auch beim Menschen der Fall wäre, ist fraglich und die Gefahr einer Überdosierung mit einem dauerhaften „Winterschlaf“ ist groß. Zudem wäre zunächst wohl ein anderes Narkotikum vorzuschalten, damit der per Stinkbombe in Ohnmacht geschickte Patient sich nicht noch übergibt und dann am Erbrochen erstickt.

Doch was mit Schwefelwasserstoff funktioniert, könnte auch mit anderen Substanzen klappen, die unkritischer verabreicht werden können – beispielsweise per Spritze, so der Gedanke der Forscher. Obwohl sie der Ansicht sind, dass Schwefelwasserstoff auch in der normalen Körperchemie die Temperatur reguliert und von daher kein Fremdstoff sei. Mark B. Roth rechnet bereits mit klinischen Tests an Menschen in fünf Jahren.