Von der christlich-abendländischen Tradition und dem (islamischen) Kopftuch

Der hessische Staatsgerichtshof und sein Gefälligkeitsurteil zum Kopftuchverbot für alle hessische Beamtinnen

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Das Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofs, das das Kopftuchverbot für Beamtinnen und Lehrerinnen bestätigt, ist dank der Einseitigkeit wahrlich kein Ruhmesblatt. 2004 hatte Hessen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein strenges Gesetz gegen das Tragen von religiösen Symbolen nicht für Lehrerinnen, sondern für alle Beamtinnen verabschiedet, aber gleich deutlich gemacht, dass christliche Symbole davon ausgenommen sein sollen, da man bei der Anwendung "der christlich geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung" tragen müsse.

Das eindeutig gegen nichtchristliche Religionen gerichtete Gesetz hat zum Kern allerdings eine starke säkulare und neutrale Ausrichtung. So heißt es:

Beamte haben sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. Insbesondere dürfen sie Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden.

Das Bundesverfassungsgericht hatte es den Ländern bereits ermöglicht, das Prinzip der Gleichbehandlung bei der "abstrakten Gefährdung" des Schulfriedens, der eine weltanschaulich-religiöse Neutralität erfordert, durch das Tragen von Kopftüchern als Symbol des islamischen Glaubens zu unterlaufen. So hieß es in der Begründung, die sich Länder wie Hessen oder Bayern zunutze machen: "Christliche Bezüge sind bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht schlechthin verboten; die Schule muss aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein."

In Baden-Württemberg ist die Regierung allerdings erneut 2006 am Verwaltungsgericht Stuttgart gescheitert. Auch dort sollte nach dem Schulgesetz die christliche Religion bevorzugt werden. Die "Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen" widerspricht, so heißt es dort, nicht erforderlichen Neutralität.

Die Richter wiesen darauf hin, dass die Klägerin, der verweigert werden sollte, ein Kopftuch zu tragen, durch das Verbot "gleichheitswidrig" behandelt werde. Begründet wurde dies damit, dass auch Nonnen in Ordenstracht an staatlichen Schulen lehren dürfen: Auch das Ordenshabit sei, so das Gericht, eine eindeutig religiös motivierte Kleidung und nicht nur ein aus Tradition ohne religiöses Bekenntnis getragenes Kleidungsstück. Das Schulgesetz könne nicht das christliche Glaubensbekenntnis privilegieren, sondern beziehe sich auf die aus der "christlich-abendländischen Kultur hervorgegangenen Werte", die auch losgelöst von den christlichen Glaubensinhalten vermittelt werden können und müssen.

Die bayerische Wertewelt

Der Bayerische Verfassungsgerichtshof begründete seine Entscheidung im Januar 2007, dass das Verbot des Kopftuchtragens nicht gegen die Religionsfreiheit verstoße und die christliche Religion privilegiere eben dadurch, dass eine Kopftuch tragende Lehrerin nicht in der Lage sei, "die verfassungsmäßigen Bildungs- und Erziehungsziele, insbesondere die Gleichberechtigung von Frau und Mann, glaubhaft zu vermitteln und zu verkörpern". Besondere Raffinesse legte der Verfassungsgerichtshof allerdings nicht vor, alles auf das Ziel eines Kopftuchverbots zurechtzubiegen.

Der Begriff „christlich“ ist dabei so zu verstehen, wie ihn auch die Bayerische Verfassung verwendet. Gemäß Art. 135 Satz 2 BV werden die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen. Hierunter sind nicht die Glaubensinhalte einzelner christlicher Bekenntnisse zu verstehen, sondern die Werte und Normen, die, vom Christentum maßgeblich geprägt, auch weitgehend zum Gemeingut des abendländischen Kulturkreises geworden sind. Das Wort „abendländisch“ seinerseits nimmt Bezug auf die durch den Humanismus und die Aufklärung beeinflussten Grundwerte der westlichen Welt.

Bayerischer Verfassungsgerichtshof

Klosterschwestern können weiterhin die Nonnentracht tragen. Das widerspreche deswegen nicht der Gleichwertigkeit der Religionen, weil das Nonnenhabit den "christlichen und abendländischen Bildungs- und Kulturwerten" entspreche und die Schüler in Bayern sowieso "nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen" werden müssen. Die trickreiche Argumentation: "Der Begriff der christlich-abendländischen Bildungs- und Kulturwerte umschreibt ungeachtet seiner Bezugnahme auf den religiösen Bereich die von konkreten Glaubensinhalten losgelöste, in der Bayerischen Verfassung verankerte Wertewelt." So vertreten Nonnen mitsamt ihren religiösen Symbolen eben die abendländischen Bildungs- und Kulturwerte, auch wenn diese der Kirche mühsam in der Geschichte abgerungen werden musste. Andererseits sind andere Religionen gegenüber den abendländischen Werten nicht gleichrangig, als ob die Menschenrechte oder die Gleichberechtigung von Frau und Mann doch abhängig wären von der jeweiligen Person.

Der bayerischen Tradition der Gesetzesauslegung scheint der hessische Staatsgerichtshof in seiner Entscheidung auf einen Antrag der Landesanwaltschaft gefolgt zu sein. Landesanwältin Ute Sacksofsky hatte den Antrag eingereicht, weil sie die Glaubensfreiheit und die Gleichstellung von Mann und Frau durch das Gesetz verletzt sah. Weil im Gesetz steht, dass bei der Auslegung der ansonsten strikt geforderten Neutralität im Lehrer- und Beamtengesetz der "christlich geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung" getragen werden müsse.

Höchst problematisch ist freilich schon, dass das hessische Gesetz sich nicht nur auf Lehrer oder Professoren bezieht, sondern auf alle Beamte, ungeachtet ihrer Tätigkeit. Das Verbot gilt auch für Beamte, die nicht mit Bürgern direkt zu tun haben, und es bedeutet auch, dass Staatsangestellte, die dieselbe Tätigkeit wie Beamte ausüben, von dem Gesetz nicht betroffen sind.

Angeblich richte sich das Gesetz nicht speziell gegen das islamische Kopftuch, sondern beziehe sich auf alle religiösen Symbole, "die den Eindruck vermitteln können, dass der Amtsträger, der sie im Dienst verwendet, sein Amt nicht in der gebotenen Neutralität ausübt", sagt das Gericht in seiner knappen Mehrheitsentscheidung. Besonders hervorgehoben wird das "Grundrecht auf negative Glaubensfreiheit", das davor schützen soll, "ohne Ausweichmöglichkeit dem Einfluss religiöser Symbole ausgesetzt zu sein, wenn sie von Amtsträgern im Dienst getragen werden". Das klingt schon fast nach Zauber, würde aber auch bei Kreuzen oder Nonnentrachten zutreffen, die auch "objektiv" geeignet wären, "das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung zu beeinträchtigen oder den Schul- oder Dienstfrieden zu gefährden".

Manche religiösen Symbole sind "objektiv" gefährdend, was aber Gleichheit und Religionsfreiheit nicht beeinträchtigen soll

Der Verweis auf die vermeintliche Objektivität der möglichen Gefährdung ist deswegen wichtig, um nicht auf die individuellen Motive der Betroffenen eingehe zu müssen. Ein Symbol kann dadurch "objektiv" gefährdend sein, auch wenn der Träger nicht sonderlich religiös ist oder sich strikt neutral verhält, ein anderes ist nicht gefährlich, auch wenn es von einem Fanatiker getragen wird. Der Staatsgerichtshof vermeidet auch, im Einzelnen darüber zu entscheiden, was "objektiv" aufgrund des Neutralitätsprinzips verboten wäre. Das sei Aufgabe der Gesetzgeber. Die Richter entschieden also, dass sie nicht überlegen mussten, ob das Kopftuchverbot beispielsweise mit der gleichzeitigen Duldung der Nonnentracht gegen die Gleichheit verstößt, wie es die Gerichte in Baden-Württemberg und in Bayern mit unterschiedlichen Ergebnissen immerhin machten. Die hessischen Richter drückten sich vor er Entscheidung und erklärten lediglich wieder einmal, dass Christentum mit der abendländische Tradition und deren Werte und damit auch mit der hessischen Verfassung identisch sei, weswegen durch ein Kopftuchverbot die christliche Religion nicht privilegiert werde: Schließlich sei nicht jedes Zeichen, das aus dem "religiösen Raum" stammt, Konflikt auslösen. Und dann kommt wieder die einerseits ausgeklügelte, andererseits deutlich zurechtgebogene "bayerische" Begründung:

Die angegriffenen Normen sprächen deshalb auch ausdrücklich von der „christlich geprägten abendländischen Tradition“ und nicht etwa von dem christlichen Glauben. Das Christliche bezeichne nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine von Glaubensinhalten losgelöste aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt, die erkennbar auch dem Grundgesetz zu Grunde liege und unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beanspruche. Es sei unschädlich, dass die Hessische Verfassung, anders als andere Landesverfassungen, die christlich geprägte abendländische Tradition nicht ausdrücklich erwähne. Denn dass das Land Hessen in dieser Tradition stehe, sei Teil einer unbestreitbaren historischen Wahrheit.

Anstatt also die geforderte Neutralität zu bekräftigen, weil ja doch angeblich die "Wertewelt" zwar aus der christlichen-abendländischen Tradition entsprungen sein mag, aber doch auch von Glaubensinhalten losgelöst ist, wird aus der Wertewelt die christliche Religion als einzig legitimer Vertreter auch für die Gegenwart gerechtfertigt. Ebenso gefinkelt könnte man argumentieren, dass in die abendländische Tradition viele nichtchristliche Inhalte – auch aus dem islamischen Raum – eingeflossen sind, die die abendländische Kultur verändert haben. Da die Richter der Mehrheitsmeinung aber offensichtlich ein politisches Urteil fällen wollten, das Hessens Ministerpräsident Koch denn auch rundum erfreute, wurde argumentativ lediglich an der Stützung des Gesetzes gearbeitet. Eine Unabhängigkeit der Rechtssprechung lässt sich hier nicht wirklich sehen.

Ob Kreuze, Taliban-Kleidung, wie es auch in der Entscheidung heißt, (islamisches) Kopftuch oder Nonnentracht bzw. Mönchskutten eine Haltung verkörpern schlecht mit Werten des Grundrechts zusammenstimmen, wäre, wenn man Religionsfreiheit und Gleichheit aufrechterhalten will, anders zu lösen. Wer meint, dass religiöse Symbole mit Fundamentalismus und Extremismus sowie mit einer Ablehnung von Werten des Grundgesetzes verbunden sind, müsste einer Religion dann auch absprechen, vom Grundgesetz geschützt zu sein. Das wäre ehrlich. So argumentiert man scheinheilig, hält angeblich das Grundrecht hoch und handelt doch anders, privilegiert die eine Religion mit ihren Symbolen vor der anderen.

Immerhin haben fünf Mitglieder des Staatsgerichtshofs eine abweichende Meinung vertreten. Sie kritisieren, dass sich das Gericht einerseits einer konkreten Entscheidung über das Kopftuch (und andere Symbole) enthalten will und doch das Gesetz, in dem dies auch nicht explizit erwähnt wird, in dem Sinne stützt, dass das Kopftuch für Beamte verboten ist. Gerügt wird überdies, dass das Gesetz eben für alle Beamten unabhängig von ihrer Tätigkeit gültig sein soll. Damit verstoße es gegen das Gleichheitsgebot und sei unverhältnismäßig.

Dem hessischen Ministerpräsident Roland Koch sind die Bedenken der Kritiker unerheblich. Für ihn sind mit dem Urteil Hessen und die abendländische Tradition gerettet. Nun kann man die christliche Leitkultur verordnen, auch jenen, die aus der humanistischen Tradition für eine unverbogene Neutralität und Säkularität von Staat und Schule sind. Jetzt könne man endlich "Respekt vor der dieses Land prägenden Religion erwarten, ohne dass darin ein Angriff auf andere Religionen gesehen wird", sagt Koch Und vor allem hofft Koch, nun auch besser – und christlicher oder abendländischer? - die Ressentiments bedienen und "klare Grenzen" ziehen zu können, was man in den letzten Jahrzehnten versäumt habe:

Die Kopftuchentscheidung des hessischen Staatsgerichtshofs hat über den konkreten Fall hinaus erhebliche Bedeutung und stellt bundesweit ein Signal für die christlich und humanistisch geprägte abendländische Tradition unseres Landes dar.

Roland Koch