Vorhöfe der Macht

Carl Schmitt, das System Kohl und die Sekretärskultur oder: Wer sitzt an den Aus- und Eingängen der Kommunikation?

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Vor fünfundvierzig Jahren, neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges verfasste Carl Schmitt, Staatsrechtler und prominenter Verwaltungsjurist im Hitlerdeutschland, einen Radioessay für den Hessischen Rundfunk (1994 wiederveröffentlicht unter dem Titel "Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber" im Akademie Verlag Berlin). Wahrlich ein Meisterwerk, dieser in glänzend lakonischem Stil, in Form eines fiktiven Gesprächs geschriebene Text.

Sein Thema: Die moderne Macht unter verwaltungstechnischen Bedingungen. Schmitt definierte darin die Macht als "soziales Geflecht" und "eigenständige Größe". Jeder Machthaber ist, schreibt Schmitt, "auf Berichte und Informationen angewiesen und von seinen Beratern abhängig. Eine Unmenge von Tatsachen und Meldungen, Vorschlägen und Vermutungen dringt Tag für Tag und Stunde für Stunde auf ihn ein. Aus diesem flutenden, unendlichen Meer von Wahrheit und Lüge, Wirklichkeiten und Möglichkeiten kann auch der klügste und mächtigste Mensch höchstens einige Tropfen herausschöpfen."

Was will Schmitt uns damit sagen? Mit Beginn der Moderne büßt die Macht ihre Souveränität ein. Sie präsentiert sich nicht mehr als ein konkreter Körper, dessen Glanz und Glorie wie zuzeiten der mittelalterlichen Herrscher und Renaissancefürsten auf öffentlichen Plätzen und Straßen spektakulär inszeniert wird, sondern anonym, unsichtbar und funktional. Schuld daran ist die wachsende Flut von Nachrichten und Informationen, die komprimiert, verarbeitet und in Wissen verwandelt werden muss. Nach Lage der Dinge kann dies nur ein effizientes Medium leisten, mithin ein Verwaltungssystem, das die anfallenden Datensätze sachkundig ordnet, adressiert und abrufbar macht.

Als General muss ich zu den Truppen ein gutes Verhältnis haben - bei den Offizieren muss ich vorsichtig sein, weil sie auch General werden wollen.

Helmut Kohl, Exbundeskanzler

Laut Schmitt wirkt allein schon dieser Eingriff machttransformierend. Vom Zentrum wandert die Macht an die Peripherie, fort vom gleißenden Licht des Öffentlichen in die Vorhöfe der Macht, dahin, wo Minister, Referenten und Sekretäre ihre tägliche Arbeit tun, wo sich Tür an Tür, Gang an Gang, Büro an Büro reiht, wo Schreiber, Boten und Kuriere Daten aufschreiben, abheften und auf diese Weise den Nachrichtenfluss vom und zum Machthaber regeln. Schmitt sieht sehr klar, wie sich an diesen Schnittstellen der Macht allmählich ein "Vorraum indirekter Einflüsse und Gewalten" herausschält, der den Autor der Macht zunehmend isoliert und von der Macht abschneidet.

In wachsendem Maße ist der Machthaber auf Zuträger wie Buchhalter angewiesen, auf Spezialisten, die Akten anlegen, Wissen archivieren und Geheimnisse verwahren oder Verbindungen herstellen, Wissen zurückhalten und Gerüchte streuen. Hat sich die klassische politische Theorie bisher um dieses Problem der Vorhofbildung erfolgreich herumgedrückt, sich ausschließlich der Begründung und Rechtfertigung der Macht gewidmet, verknüpft Schmitt, und das macht ihn entgegen der gängigen Meinung höchst modern, die neuzeitliche Macht untrennbar mit der Frage nach dem Kanal. Schmitt lesen heißt zu fragen: Wer sitzt an den Aus- und Eingängen der Kommunikation? Wer entscheidet, was wie und warum in die Kanäle hineinkommt? Wer hat Zugang zum Ohr oder zur Seele des Machthabers? Mit welchen Techniken und Medien ist der Vorhof bestückt?

Manager der Macht

Schmitts Statement beinhaltet bereits all jene modernen Bedingungen, die den Primat der Politik bestreiten und das modische Gerede vom Verschwinden des Politischen begleiten: die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in codegesteuerte Funktionssysteme; die Ausweitung und Vervielfältigung der Informationsträger und Datensätze; die Evolution eines weltumspannenden Kommunikationsnetzes; die Beschleunigung globaler Waren-, Geld- und Kapitalströme - all das also, was Leitartikler und andere Kommentatoren gern öffentlich beklagen. Der Regulierungswut (Verordnungen, Richtlinien, Gesetze), die Behörden, Institutionen oder Staaten entfachen, hat dies bislang keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: die Bürokratie (Experten, Juristen, Berater... ) ist eher ins Unüberschaubare gewachsen.

Clevere Machthaber heben sich von anderen dadurch ab, dass sie um die Bedeutung und die politische Relevanz dieses Vorhofs wissen. Und zwar unabhängig davon, an welchen Orten sie agieren, in Unternehmen, Organisationen, Institutionen oder Staaten; und unabhängig davon, ob sie von jemanden in ihr Amt gewählt oder dazu ernannt wurden oder sich selbst in diese Position geputscht haben. Darum beliefern sie postmoderne Öffentlichkeiten und ihre Generatoren, die Massenmedien, gern beizeiten mit vertraulichen Nachrichten, sei es, um die Meinungshoheit über ein Thema zu gewinnen, moralische Entrüstung bei Kommentatoren oder der Bevölkerung zu entfachen oder die Opposition damit ins schiefe Licht zu rücken. Und darum besetzen sie sofort bei Amtsantritt und Machtübernahme den Vorhof mit bewährten Kampf- und Weggefährten, deren Loyalität sie jederzeit gewiss sind. Nähe und Ferne zur Macht regelt ein umfassendes Belohnungs- und Strafsystem aus Gratifikationen, Ämterpatronage und Postenschacherei, das diesen Vorraum durchzieht. Verhilft es dem einen zu beruflicher Karriere und/oder zur Teilhabe an den Segnungen der Macht (Einladungen, Reisen usw.), mahnt oder straft es andere ab, die sich als illoyal und unfähig erwiesen oder sich zu potentielle Konkurrenten des Machthabers gemausert haben.

Wie aktuell diese Theorie des Vorraums bis auf den heutigen Tag ist, demonstrierte jüngst der deutsche Altbundeskanzler und langjährige Parteichef der Christlichen Union Deutschlands. Obschon die deutsche Öffentlichkeit bislang nur Bausteine seines raffinierten Machtsystems kennt, eines lässt sich jedenfalls feststellen: Carl Schmitt scheint Helmut Kohl studiert zu haben. Nicht nur, dass er persönlichem Vertrauen mehr Aufmerksamkeit schenkte als dem formalen Aktenstudium, randständigen Personen: Sekretärinnen und Chauffeure, Saaldiener und Pförtner mehr Beachtung entgegenbrachte als manchem lang gedienten Parteisoldaten oder Mitglied des Parteivorstandes. Und nicht nur, dass Kohl neben den offiziellen Nachrichtenwegen auch ein geheimes Nachrichten- und Kuriersystem unterhielt, das ihn über Stimmungen und Meinungen in der Partei informierte. Dem Machthaber Kohl ist es offenbar auch gelungen, sich mit schwarzen Kassen und Konten Gefolgschaft, Zuneigung und Unterwürfigkeit in Regierung und Partei erkauft zu haben.

Den Vorraum studieren

Merkwürdigerweise beließ es Schmitt bei dieser Feststellung; dem Korridor der Macht widmete er jedenfalls nie eigene Studien. Vielleicht auch deshalb, weil Schmitt von Haus aus ein bodenständiger Denker war, der Universalismus, Liberalismus und Freihandel verabscheute. Deren Ideen machte er für den Niedergang der Macht und des Politischen verantwortlich. Zudem konnte sich Schmitt nicht von der Vorstellung eines konkreten Staatsgebietes lösen, das von Personen bewohnt und vom Recht geschrieben wird. Macht und Körper, Raum und Recht bildeten für ihn eine unumstößliche Einheit. Dagegen flößte ihm die moderne Welt mit ihren diversen Abstraktheiten, Zufälligkeiten und Unverbindlichkeiten zeitlebens Furcht ein; im Übrigen auch eine "entfesselte Technik", die jedes menschliche Maß überschreitet, die Bindung der Menschen an den Raum aufkündigt und zur Nivellierung der Freund-Feind Konstellation führt.

Nicht so eine bestimmte Spielart der Medienwissenschaft, die historisch vorgeht, das Präsente im Lichte des Vergangenen liest und die geschichtliche Abfolge von Epochen, Ideen und Kulturen an die Heraufkunft neuer Medientechnologien knüpft. Auf die Schnittstellen von Geist und Aufschreibetechniken, die Vorhöfe der Macht also, richtet sie ein besonderes Augenmerk. In Weimar, der barocken Heimstätte deutscher Klassik, traf sich jüngst unter der Leitung von Bernhard Siegert und Joseph Vogl eine kleine Schar dieses Genres und unter dem zunächst etwas kryptisch anmutenden Titel: "Europa: Kultur der Sekretäre", um in Gestus und Manier der Aufklärer mehr Licht in das Dunkel des Vorraums zu bringen. Der Ort dafür war klug gewählt. Eindrucksvoll ist und wird dort die verblichene Größe, die kulturelle Hegemonie Europas musealisiert; nirgendwo sonst finden wir in dieser Dichte und Konzentration mehr Archive, Bibliotheken und Antiquariate.

Die "Kultur" des Vorraums

Rasch zeigte sich, dass die Gestalt des Sekretärs metaphorisch zu lesen, der Vorhof formal als Schaltstelle zu begreifen ist. Aus medienwissenschaftlicher Sicht ist die Verselbständigung des Vorraums jedoch weniger an Körper oder Personen gebunden wie bei Carl Schmitt, als an eine allgemeine Verschriftlichung des Denkens und Handelns, die Europa im 16. Jahrhundert heimsucht. Sie beschert dem Souverän zunächst eine Bürokratie, in deren Subtext sich der neuzeitliche Staat ankündigt. Ein Imperium wie das römische, ein Kolonialreich wie das Königs Philipps II., überhaupt die Schriftkultur des heutigen Europas wäre kaum denkbar gewesen, wenn nicht ein mediales Verbundsystem aus Adressen, Daten und Befehlen den schnellen Nachrichtenfluss geregelt hätte, der von einem namenlosen Stab von Schreibern, Archivaren und Bürokraten in Gang gehalten wurde. Seit den historischen Studien Michel Foucaults wissen wir, dass es nichts gab, was nicht das Interesse des Vorraums geweckt und von seinen Agenten und Akteuren notiert und archiviert worden wäre. Dieser Staatsräson genannten Politik ging es vornehmlich darum, die Bevölkerung eines Staatsgebietes in ihren vielfältigen Funktionen des Alterns, Gesund- oder Krankseins, des Wohnens, Liebens und Reisens umfassend, wirksam und genau zu erfassen und aufzuzeichnen.

Neu ist vielleicht, dass auch Dichter, Denker und Gelehrte, denen wir gern Distanz zur Macht unterstellen, sie eher auf der Seite der Wahrheit oder des Kunstschönen verorten, ins Blickfeld dieser neuen Aufschreibemacht geraten sind, weil sie etwas beherrschten, was andere nicht konnten: schreiben, lesen und Daten verwalten. Meist im guten Glauben, nur der Literatur, der Wissenschaft oder persönlichen Neigungen zupass zu sein, dechiffrierten sie manche soziale Black Box durch ihre Fremd- und Selbstbeobachtungen über Onanieren und Urinieren, über Hurerei und Sauferei - oder durch das Anlegen von Tabellen, Berechnungen und Diagrammen über die Häufigkeit und Qualität ehelicher Akte oder die Zahl unehelicher Kinder. Direkt oder indirekt horchten sie damit nicht bloß die Denk- und Handlungsgewohnheiten der Bürger aus, sie lieferten der Staatsmacht auch hinreichend Datenmaterial über das Seelen- und Genussleben des Durchschnittsmenschen.

Kein Wunder, dass die Sekretariate der Aufklärer die Aufmerksamkeit der Verwaltungsbehörden auf sich zogen, an den Studien. Über einige dieser Büros, beispielsweise denen Lichtenbergs, Michelets, oder Hugos, erhielt der Staat Zutritt zu den Privaträumen der Bürger. Die Staatsmacht konnte auf diese Weise ihr Wissen über die Befindlichkeiten und Begehrensstrukturen der Untertanen erweitern. Und dieses Interesse scheint im Laufe der Jahrhunderte gewachsen zu sein. Die Sexualreportagen Kinseys, die Aidsforschung, Studien über die Zunahme männlicher Unfruchtbarkeit usw. zeigen das. Dennoch ist ein gravierender Unterschied auszumachen. Seit dem Erfolg von Trash-TV sind die Kontrollmächte nicht mehr auf Gelehrte, Dichter oder Sekretäre angewiesen, um ganze Bevölkerungsgruppen auszuspionieren. Dafür gibt es feinere Messinstrumente wie Meinungs- und Konsumentenbefragungen, die repräsentative Schnitte durch die Bevölkerung eines Landes erlauben. Die Untertanen gieren inzwischen selbst danach, öffentlich Auskunft über ihr Intimleben zu geben. Freiwillig begeben sie sich in die Fernsehstudios, lassen sich vor einem Millionenpublikum zu allen möglichen und unmöglichen Bekenntnissen und/oder Geständnissen hinreißen. Auch wenn die Behörden der Staatsmacht das Interesse an solchen Beichtkuren verloren haben, zu einem taugen diese aber immer noch: Sie reichern den vielfach leer gewordenen Raum des Öffentlichen mit privaten Details und Absonderlichkeiten aus Familie, Ehe und Liebesleben an.

Der Vorraum erreicht die Gesellschaft

Mit der Heraufkunft der Massengesellschaft, der Ausbildung eines Systems privater Produzenten und dem Zwang, die Vielfalt und Komplexität der Daten rational und effizient zu handhaben, diffundieren Verwaltungshandeln, Buchführung und Rechenhaftigkeit in nahezu alle Medien der Gesellschaft. Buchhalten und Kontorieren, Aufschreiben und Registrieren, Tabellieren und Kalkulieren, Berechnen und Dokumentieren werden zum Normalfall des Alltags- und Wirtschaftslebens.

Der Bedarf an Leuten, die Tabellen anlegen, Statistiken auswerten, Akten führen können, wächst gewaltig. Neue Berufsbilder und Arbeitsplatzbeschreibungen tauchen auf, Schnittstellen der Gesellschaft, die den Geist nun auch mit Geschäft und Handel verschalten. Das nette Fräulein vom Amt etwa, das Gespräche annimmt und durchstellt; der freundliche Herr von der Versicherung, der Schadensfälle registriert und abwickelt; die Stenotypistin, die auf Geheiß des Chefs zum Diktat erscheint; der Bürovorsteher, der vom Amtswegen dazu bestimmt wird, über ein reibungsloses Verwaltungshandeln zu wachen und Fehlverhalten umgehend zu ahnden. Als Funktionsträger formaler Prozesse, die sie allesamt sind, bleibt das Riesenheer der Beamten und Angestellten aber namenlos und ohne eigene Stimme. Zwar avancieren die Beamten und Büroangestellten sehr bald zu Objekten soziologischer Forschung. Doch in den Annalen der Geschichte tauchen sie niemals auf, obwohl gerade sie es sind, die Geschichte machen und sie mit Papier, Stift und Tintenfeder buchstäblich schreiben.

Verwunderlich ist diese Absenz jedenfalls nicht. Würden sie ihre Stimmen erheben und Autorschaft beanspruchen, käme es kaum zu jenem friktionsfreien Verkehr, den Handel und Staat, Dienstleistung und Rechtsprechung brauchen, um formal-rational zu handeln und effiziente Ergebnisse zu erzielen. Gefordert wird deshalb ein Schreiber, Archivar oder Bürokrat, der wie ein Relais funktioniert. Und diesem Idealtypus kommt er am nächsten, wenn er die Botschaft möglichst bruchlos weitergibt, ihr weder etwas hinzufügt oder entnimmt, noch sie entstellt oder verzerrt. Erfüllt der Schreiber und Bürokrat diese Aufgabe mit Hingabe, fallen Verwaltung und Verwaltete ineinander. Philosophen nennen das gemeinhin "verwaltete Welt", Soziologen hingegen "Gehäuse der Hörigkeit".

Der Vorraum wird Autor

Solange Menschen an den Schnittstellen von Geist und Technik operieren, gibt es Störungen, Fehler, Rauschen. Zum Nachteil für die Aufschreibe- und Kontrollmächte, gewiss aber zum Vorteil für die Gesellschaft, durch Irritationen und Kontingenzen, die Menschen einbringen, bleibt sie nämlich im Wachzustand. Die Gesellschaft kann evolvieren. Gern erinnern wir an dieser Stelle an Foucaults Bonmot: Il faut défendre la société. Doch kündigen sich mit den Digitalrechnern, dem Arbeiter (E. Jünger), Parteisoldaten und Generalsekretär, bereits jene Sekretärsgestalten an, die sich von Maschinen nicht mehr unterscheiden.

Computer ökonomisieren die Arbeitsvorgänge und Arbeitsprozesse in den Büros der Behörden und Unternehmen, sie zerlegen Arbeitsabläufe in kleinste Elementarbewegungen und dämpfen somit die Kosten der Informationsaufnahme, -verarbeitung und -weitergabe. Der User, gleich ob als Kunde, Bürger oder Endverbraucher, wird auf ein statistisches Normalmaß zurechtgestutzt. Desktop und Interface sorgen dafür, dass ihm dies weitgehend verborgen bleibt und er sich an den vielen bunten Bildchen auf dem Bildschirm freut. Was dort aber erscheint, ist nicht mehr das, was er vorher eingeben hat. Damit simuliert der Digitalrechner, was vormals nur mittelalterlichen Herrschern nachgesagt wurde, nämlich zwei Körper in sich zu vereinen: den Individualisten und Durchschnittsmenschen, den Autor und Sekretär.

Der Arbeiter- und Parteisoldat hingegen folgt dem Anruf, dem Begehren des Anderen bis in die kleinste körperliche Regung. Sein Denken und Handeln ahmt die Bewegungen und Abläufe einer abstrakten Maschine bereits nach. Mit Stalin kommt nicht bloß die namenlose Masse der Sekretäre und Apparatschiks an die Macht, sie bekommt jetzt auch Namen und Stimme. Dem Sekretär der Sekretäre gelingt, was vorher keinem Machthaber gelungen ist: den Vorhof an die Macht zu putschen, die Schalt- oder Schnittstellen mit der Figur des Machthabers zu vereinen.

Aura und Macht messen sich an der Coolness, mit der er das Amt des Angestellten und Chefsekretärs ausfüllte: er mied öffentliche Auftritte, agierte lieber im Verborgenen, stumm und lautlos; penibel registrierte er jede Information, befahl, sie mit Vermerk einem buchstäblichen Verweissystem einzuspeisen; der Schreibtisch geriet zur Schaltstelle der Macht, von dort aus führte Stalin Partei, Geheimdienst und Staat, organisierte er die Logistik des Terrors; das lichtdurchflutete Arbeitszimmer signalisierte der Bevölkerung die allumfassende Präsenz seines Körpers; Vertraute kannte und brauchte er nicht, da er den Vorhof verkörperte, Besitzer, Diener und Angestellter der Macht in einem war.

Inzwischen wissen wir, dass der Idealtypus des Generalsekretärs nicht das letzte Wort der Geschichte gewesen ist. Alle Körper sind sterblich. Und zwar gleichgültig, ob es sich dabei um Menschen, Geheimarchive oder Digitalrechner handelt. Von Stalin zeugt außer den Millionen namenloser Toten und Deportierten und dem Mythos, der sich um seine Person rankt, nur noch ein riesiges Aufschreibesystem. Erneut muss es von Spezialisten und Experten, Repräsentanten des Vorhofs also, aufgeräumt, in mühevoller Kleinarbeit dechiffriert werden. Immerhin wissen wir aber, dass die Überwachungs- und Kontrollgesellschaft mit Papier, Schnellheftern und Siglen nicht zu institutionalisieren ist. Medien arbeiten mit an ihrer Zerstörung.

Zeugt das bereits von der Unmöglichkeit der Verwaltungsmächte, sich auf den leeren Thron des Königs zu setzen? Oder fordert es andere nur dazu auf oder heraus, es besser zu machen als Genosse Josip und mithilfe der Digital- oder Biorechner sich überlegenere Verbundsysteme auszudenken? Ist es nicht ein qualitativ neuer Schritt, wenn auf den Generalsekretär bald der Geheimdienstchef folgt? Russland ist dabei, der übrigen Welt in dieser Hinsicht ein Vorbild zu geben. Könnte es sein, dass das 21. Jahrhundert von Russland und nicht von Amerika geschrieben wird - entgegen aller Erwartungen und landläufiger Meinungen?

Medienwissenschaft=Literaturwissenschaft

Von solchen oder anderen "Zukunftserwartungen unter High-Tech-Bedingungen" (F. Kittler) war in Weimar nichts zu hören. Organisatoren und Teilnehmer beschränkten sich weitgehend auf die brave Anwendung archäologischer Verfahren und Methoden, auf die Frage, wie Europa zu dem wurde, was es heute immer noch ist: ein Kulturraum, der von Kopisten und Kanzelisten, Archivaren und Literaten, Bibliothekaren und Sekretären archiviert worden ist.

Über die "Sekretärskultur" (knowbots, Cyborgs, search engines oder anderes programmiertes Personal), die sich in den weltweiten Datennetzen breit macht, war ebenso wenig die Rede wie von virtuellen Räumen, Weltkulturen oder Weltgesellschaft. An den Transformationen und Neukonfigurierungen, die weltumspannende Kommunikationsnetze Staaten und Märkten, Personen und Institutionen zumuten, war man nicht interessiert. Immer noch scheint man Computer- und Datennetze nur als raffiniertere Fortsetzung des preußischen Postsystems zu betrachten. An der Mauer der Digitalisierung endet für die Forscher dieses Genres vorerst die Geschichte und Kulturordnung Europas. Nach dem was kommt, fragen sie nicht. Soweit wagen sie sich nicht vor. Weswegen es dort auch vornehmlich um Spurensuche geht, um Aufdeckung des Ungeschriebenen und Unsagbaren, darum, eine andere Lesart der einstigen kulturellen Hegemonie zu entwickeln. Beschäftigt man sich aber ausschließlich mit Bibliotheksordnungen, Diskursen und Antiquariaten, schenkt der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Neuordnung der Welt, die die Datennetze erzwingen, zuwenig Aufmerksamkeit, könnte es durchaus sein, dass die Herrschaft globaler Märkte, Organisationen und Netze die Rekonstruktion der kulturellen Dominanz Europas überflüssig machen, noch bevor sie neu aufgeschrieben worden ist.

Daher verwundert es nicht, wenn wiederholt die einschlägigen Texte gelesen werden, Kleist und Kafka, Proust und Goethe, Melville und Jünger. So bleibt aber Medienwissenschaft weiter Literaturwissenschaft, Sinnverstehen des Materialen - und damit Tiefenhermeneutik. Der Verdacht ist groß, dass das neue Markenzeichen, das sich die Medienwissenschaft neuerdings gegeben hat, nur dazu da ist, neue Literatur zu erzeugen, Literatur über Technik diesmal.

Zu hoffen bleibt, dass man sich im Lager der historisierenden Medienwissenschaften wieder weniger auf Randständiges besinnt, wie auf das Aussehen von Schreibtischen, die Anordnung der Schubladen, die Wahl des Schreibgeräts oder die Farbe der Tinte, und diesen Dingen eine geheime Bedeutung unterstellt, sich dafür um so mehr um die Vernetzung mit anderen Medienforschungen und -zentren kümmert. Sonst steht zu befürchten, dass es auch in diesem Genre bald zu ähnlichen Formen der "Sektenbildung" kommt, wie wir sie inzwischen von Dekonstruktivisten und Systemsoziologen her kennen. Allein mir fehlt der Glaube.