Wahlarena für Europa und der europäische Wahlzirkus

Sollte man am Sonntag besser eine lange Wanderung machen?

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Die von der ARD am Dienstag ausgestrahlte Wahlarena habe ich mir nicht angeschaut, schon weil ich mich so spät am Abend nicht mehr aufregen will. Nach vielen kritischen Kommentaren, die ich gelesen habe, habe ich mich jedoch entschlossen, bei dieser Adresse einmal einen Schnelldurchgang zu machen. Es ist ja wirklich ein großer Vorteil der aufgezeichneten Version, dass man sich nicht den ganzen Politikersums anhören muss, sondern schon bei den ersten Worten zur nächsten Frage weiterbrowsen kann, wenn einem bereits die Frage oder der Ansatz der Antwort als Themaverfehlung erscheint.

Das Ergebnis der "Befragung" der beiden Spitzenpolitiker, Martin Schulz von den Sozialdemokraten und Jean-Claude Juncker von den Konservativen, durch ein "super vorbereitetes" (so die eine Moderatorin) Publikum war, ohne jede Übertreibung, ein Trauerspiel. Das lag ganz wesentlich am Format der Sendung, zu deren höchsten Ziel das Stellen "möglichst vieler Fragen aus dem Publikum" erklärt wurde - als ob das Publikum und dessen Wissbegierigkeit nächsten Sonntag zur Wahl stünde! - und nicht die Prüfung, die Gegenüberstellung der Positionen beider Kandidaten anhand (möglicherweise sogar recht weniger, dafür aber) gezielter Fragen zu den wichtigsten Themen, von denen die Zukunft Europas abhängt. Beide Politiker wurde wie Zirkuspferde herumgeführt, die brav zu jeder beliebigen Musik, die ihnen vorgespielt wurde, ein paar Schrittchen tänzeln sollten, sprich: zu möglichst allem eine kurze Meinung äußern sollten, was auch immer dem politisch interessierten Bürger so alles durch den Kopf ging und wo auch immer ihn der Schuh drückte.

Die Zuschauer stellten denn auch - befördert von der im Nebel einer vermeintlichen Vielfalt oberflächlich herumstochernden Moderation - einen bunten Strauß an Fragen, aus deren Beantwortung praktisch nichts an rotem Faden, an schlüssigem Konzept oder gar durchdachtem Zukunftsentwurf für Europa sichtbar werden konnte. Ob die Kandidaten etwas derartiges haben oder nicht, blieb völlig im Dunkeln. Denn wer sich in kurzen Statements zu einem unzusammenhängenden Wirrwarr an Fragen äußern soll, kommt kaum über wohlfeile Sprechblasen hinaus. Mit denen punktet er immer noch besser als mit einer auf Analyse setzenden Antwort, die mittendrin vom Moderator abgebrochen wird, der lieber zur nächsten Frage stolpern möchte, als das Publikum zum Zuhören oder gar anstrengendem Mitdenken zu bewegen.

Man fragt und antwortet, als ob sich Europa in der normalsten aller Zeiten befindet

Kaum etwas könnte die Ratlosigkeit, ja die Verwirrung der europäischen Politik in der gegenwärtigen Krise besser vorführen als diese Sendung! Am Ende weiß man wirklich nicht, was schlimmer war: die Fragen des Publikums oder die Antworten der Politiker. Bei den Politikern kann man sich noch vorstellen, woher das kommt. Sie müssen ganz unterschiedliche Strömungen ihrer Parteigruppierungen unter einen Hut bringen und bleiben deswegen unendlich unklar und schwammig, selbst wenn sie es, wie Jean-Claude Juncker, viel besser wissen. Wie es aber die ARD schafft, 200 (offenbar ausgesuchte?) Menschen in die Wahlarena zu locken und sie dazu zu bewegen, sich für dieses Fragensammelsurium zur Verfügung zu stellen, ist mir ein Rätsel.

Natürlich liegt es nahe, mir als Ökonomen vorzuwerfen, ich sähe die Welt nur unter ökonomischen Aspekten und interessiere mich für nichts anderes, weshalb mir die meisten der gestellten Fragen so irrelevant vorkämen. Das sei aber für andere Menschen mit anderen Erfahrungshintergründen und anderen Interessenfeldern eben anders. Ich will nicht bestreiten, dass meine Perspektive keine welt- und lebensumfassende ist. Aber ich behaupte, dass ich mich auf Aspekte konzentriere, die erstens für fast jeden relevant und die zweitens momentan leider entscheidend für den friedlichen Fortbestand Europas sind. Und um den muss es nun mal bei einer solchen Wahl und folglich auch bei einer solchen Sendung, die doch Entscheidungshilfe bei der Wahl sein will (oder vielleicht doch nicht?), in allererster Linie gehen. Eine Vielfalt von Themen zu streifen, ohne auch nur ein einziges Problem so zu beackern, dass man versteht, wie sich die Kandidaten dessen Lösung konkret vorstellen oder gar dessen Lösung eingebettet in ein Gesamtkonzept sehen, ist schon ein Tiefpunkt medialer Information.

Nun kann man die beiden Kandidaten nicht für das Format der Sendung, die Moderation und die gestellten Fragen verantwortlich machen. Aber ich hätte mir gewünscht, dass Persönlichkeiten, die sich für Führungspositionen bewerben, auch in einer solchen Veranstaltung etwas von ihrer Führungskompetenz durchblicken lassen, indem sie klar machen, was ihrer Ansicht nach Priorität verdient in politischen Diskussionen und folglich im politischen Handeln. Juncker hat das an einer Stelle versucht, als er den Moderator für dessen Forderung nach einer kurzen Antwort auf eine der wenigen relevanten Fragen kritisierte, der man Junckers Meinung nach nicht gerecht werden konnte, wenn man sie nur kurz, d.h. oberflächlich beantwortete.

Es gab, wenn ich es nach meinem Schnelldurchgang richtig sehe, keine einzige ernsthafte Frage zu den Ungleichgewichten in der Eurozone und damit dem Kern der europäischen Krise. Man fragt und antwortet, als ob sich Europa in der normalsten aller Zeiten befindet und die Krise nur eine kurze vorübergehende Erscheinung war, die von nun an keine politische Rolle mehr spielt. Zwar wird das Thema Jugendarbeitslosigkeit in Minute 7 und noch einmal ganz am Ende angesprochen. Aber niemand stellt die Frage, wie es dazu gekommen ist, d.h. es findet keine Ursachenanalyse statt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist einfach da, sie muss beseitigt werden, ja klar, weil sie bedrohliche Größenordnungen angenommen hat.

Zu dem Wie der Beseitigung äußert sich Schulz folgendermaßen: Er "analysiert", dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU), die traditionell die meisten Arbeitsplätze schaffen, in Südeuropa nicht ausreichend an Kredite herankommen (Stichwort Bankenkrise, woher auch immer die stammen mag) und deshalb nicht investieren und Beschäftigung schaffen können. Also will Schulz die europäische Investitionsbank mit Mitteln aus den europäischen Strukturfonds ausstatten und ihr die Vergabe vergünstigter Kredite an solche KMU erlauben, die im Gegenzug arbeitslose Jugendliche einstellen. So ließen sich Wachstumsförderung und Abbau von Jugendarbeitslosigkeit sogar noch miteinander verbinden. Ganz schön clever: zwei Fliegen mit einer Klappe, oder? Oder doch reichlich unbedarft? Wenn es so einfach wäre, mag sich manch einer fragen, warum hat man damit nicht schon längst angefangen? Gab es nicht schon mehrere Anläufe, mit irgendwelchen Maßnahmenpaketen die Jugendarbeitslosigkeit zu senken? Und wie erfolgreich waren die bislang?

Nur einmal, nach über einer Stunde (genau bei 1:03 Stunden), hätte eine ernsthafte Diskussion in Gang kommen können. Ein Zuschauer fragte kritisch nach den Leistungen des Nordens für den Süden und wollte etwas zu der Einstellung der beiden Politiker zu Eurobonds wissen. Schulz antwortete, wie er immer antwortet, nach dem Motto "bloß nichts Gefährliches sagen", dass Eurobonds ja kein Thema mehr seien, seit Mario Draghi seine Garantie für die Eurozone abgegeben habe. Doch Juncker, offensichtlich genervt von der deutschen Überheblichkeit, die in der Frage wieder einmal zum Ausdruck kam, reagierte scharf mit den Worten: "Es ist nicht so, dass im Norden die Tugendhaften sitzen und im Süden die Sünder, es ist nicht so!" Martin Schulz sagte darauf nichts und die Moderatorin wechselte schnell das Thema.

Die Schicksalsfrage wird nicht diskutiert

In der Tat, es ist nicht so, da hat Juncker recht. Aber die Frage, wie es denn ist, warum immer noch Krise ist und wie sie zu überwinden wäre, diese Schicksalsfrage Europas wird mit allen Mitteln aus dem (deutschen) Wahlkampf herausgehalten, weil eine offene Diskussion - das ist wohl die Vorstellung in den großen Parteien - dazu führen könnte, dass Europagegner sich bestätigt fühlen und ein paar Stimmen mehr gewinnen.

Die große Lüge der Konservativen, alles sei gut und durch Frau Merkel bestens auf den Weg gebracht, wird in diesem einen Satz des konservativen Spitzenkandidaten entlarvt, freilich nur für diejenigen, die die Zusammenhänge kennen und kennen wollen. Und auch die Sozialdemokraten und die Grünen sind entlarvt in ihrer Heuchelei von europäischer Solidarität, weil sie keinen Gedanken daran verschwenden oder zumindest keinen öffentlich äußern, dass es eine Rot-Grüne Bundesregierung war, die die europäische Tragödie ins Rollen gebracht hat.

Wie unbedarft die großen Parteien sind, kann man auch daran erkennen, dass sie den rechten Parteien das Thema Krise alleine überlassen und so tun, als sei alles in Ordnung und als sei jeder, der die europäische Entwicklung, die europäische Politik und das europäische Krisenmanagement kritisiert, ein Antieuropäer. Sie tun so, als ob die Menschen nicht merkten, dass etwas fundamental in die falsche Richtung gelaufen ist in diesem Europa, und sie verschweigen, dass die Politik bisher unfähig war, das Problem zu lösen. Dass sie mit dieser Strategie den Europaskeptikern vollen Wind in die Segel blasen, begreifen sie nicht im Entferntesten.

Bezeichnend ist, dass Martin Schulz auf Mario Draghis "Lösung" verweist, die erstens gar keine Lösung ist und die zweitens gerade nicht von der Politik kam, sondern von einem Technokraten, der überhaupt nicht zur Wahl steht. Hätte nicht der Mann, der unbedingt Kommissionspräsident werden will, sagen müssen, wir können in Zukunft nicht auf solche kurzfristigen Überbrückungsmaßnahmen der Zentralbank hoffen, sondern müssen ernsthaft an die Ursachen der Krise heran, und diese Ursachen haben mit der deutschen Politik sehr viel zu tun? Und hätten nicht beide sagen müssen, dass in einer Region, die sich fünf Jahre nach Beginn der Krise noch nicht von der tiefen wirtschaftlichen Talsohle erhoben hat, die Dinge grundsätzlich anders als erwartet laufen und dass mit der in den letzten Jahren verfolgten Krisenpolitik viele Fehler gemacht wurden?

Wenn sich beide Kandidaten das in Deutschland jetzt vor der Wahl nicht zu sagen trauen, wie wollen sie nach der Wahl eine Änderung der Krisenpolitik herbeiführen, um Europa in ihrer Legislaturperiode nicht näher an den Abgrund heranzuführen? Schließlich werden ihnen im Europaparlament viele Abgeordnete gegenübersitzen, die darauf verweisen können, bereits vor der Wahl eine andere Krisenpolitik gefordert zu haben und zwar in eine ganz andere Richtung, als es den "Pro-Europäern" Juncker und Schulz vorschweben dürfte. Haben beide Kandidaten vor der Wahl nicht den Mut gehabt, von Deutschland eine Kursänderung zu fordern, die tatsächlich einen europäischen Ausweg aus der Misere weist und keinen nationalen, Europa zerstörenden Alleingängen Tür und Tor öffnet, wie wollen sie das nach der Wahl Deutschland abverlangen? Einem Deutschland, dem sie keinen reinen Wein einzuschenken wagten?

Immerhin hat Juncker mit seiner Äußerung gezeigt, dass er die Krisenzusammenhänge versteht, was man von Martin Schulz nicht sagen kann. Allerdings ist Juncker der Spitzenkandidat der Parteien, die niemals die Kraft und die Vernunft aufbringen werden, die notwendige Wende in der Wirtschaftspolitik einzuleiten. Da wird es schwer, das Richtige zu wählen. Gehen Sie bitte trotzdem wählen, selbst wenn das Wetter schön ist, und machen Sie Ihre gegebenenfalls geplante Wanderung ins Grüne danach. Und nutzen Sie den Samstag, um sich noch einmal anzuschauen, welche Partei eine von nationalen Vorurteilen und wirtschaftspolitischen Orthodoxien unvoreingenommene Diagnose der Lage versucht und eine Wirtschaftspolitik vorschlägt, die nicht von der Perspektive der schwäbischen Hausfrau geprägt ist.

Der Text wurde von der Website flassberg-economics übernommen. Heiner Flassbeck will hier versuchen, "der Volkswirtschaftslehre eine rationalere Grundlage zu geben".