War Games in Wildflecken

Die Bundeswehr verbindet Computersimulation und Feldübung

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Die Experten gehen davon aus, daß im Informationszeitalter die Informationstechnik Kriege entscheiden wird. Auch die Bundeswehr rüstet sich für den Kampf um die Informationsüberlegenheit. Die Kriegsschauplätze sollen dabei zwar nicht vollkommen in den Computer verlagert werden, doch die Grenze zwischen virtueller Medienwelt und realem Kampfeinsatz ist hauchdünn.

Saddam Hussein sagte, als er sein Volk zum Kampf gegen die "Feinde Gottes und der Menschheit" nach den ersten Bombenanschlägen der britischen und amerikanischen Streitkräfte aufforderte, daß die USA und Großbritannien feige seien, nur über ihren "langen technologischen Arm" zuschlagen und nicht "von Angesicht zu Angesicht" kämpfen würden. Der reale Krieg kostet gleichwohl und mit aller technologischen Aufrüstung Blut. Mit der digitalen Kriegsführung und des dadurch möglichen Distanzkrieges lassen sich nur besser das Leben der eigenen Soldaten sichern und Ziele - meist - genauer treffen, auch wenn eines der am Mittwoch abend auf militärische Ziele abgefeuerten 200 Cruise Missiles sich verirrt haben und im Iran niedergegangen sein soll. Gleicht das Abfeuern der Cruise Missiles von den Kriegsschiffen noch vielleicht einem Computerspiel, so wurden sie doch auch beispielsweise von B-52 Bombern abgeschossen. Und wieder einmal konnte sich CNN mit Live-Bildern vom Kriegsschauplatz in den Medienkrieg einklinken.

Raketenabwehrfeuer in Bagdad. Bild von CNN.

Ist die Rede von der digitalen Kriegsführung, blicken die meisten Beobachter entweder zurück in die Vergangenheit des Golf-Krieges, den eben stattfindenden Militärschlag der Amerikaner und Briten oder auf das zukünftige Schreckensszenario eines Informatio, das vor allem von den Sicherheitsbehörden und dem Verteidigungsministerium der USA gezeichnet wird. Als Vorbild für die Kampfeinheit des 21. Jahrhunderts gilt allgemein die US Army, in der nach Vorstellung von Verteidigungsminister William Cohen bald jeder Infantrist vernetzt und mit Laptop bzw. Computerdisplays im Kampfhelm ausgerüstet werden soll. Doch auch die Bundeswehr will endlich das Klischee abstreifen, daß High-Tech und Oliv nicht zueinanderpassen: Seit Herbst 1997 baut sie auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes Wildflecken in der kargen Mittelgebirgslandschaft der Rhön ein vernetztes Simulationszentrum auf, mit dem die Führungsstäbe des Heeres in größtenteils virtualisierten und im Computer stattfindenden Manövern geschult werden sollen.

Das Simulationssystem versteckt sich nicht nur räumlich im Niemandsland zwischen Bayern, Hessen und Thüringen, sondern auch verbal hinter zwei von den im Militärjargon so beliebten Akronymen, mit denen fachsprachliche Wortungetüme dem Sprachvermögen des Soldaten angepaßt werden: GUPPIS heißt das Schaustück der Rhön-Kaserne; das Kürzel steht für Gefechtssimulationssystem zur Unterstützung von Plan-/Stabsübungen und Planuntersuchungen in Stäben. Die Software, die dabei zum Einsatz kommt, hört auf den Namen KORA OA: sie ist von der Ottobrunner Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft (IABG) extra für die Korps-Rahmenübungen und Offiziersausbildung über eine Zeitspanne von fast zwei Jahrzehnte hinweg entwickelt worden (zur IABG siehe auch: Infowar und die deutsche Bundeswehr). Kernidee des Simulationssystems ist, einen Großteil der eigentlichen Truppenbewegungen und Kampfhandlungen in Rechnergehirnen ablaufen zu lassen, die natürlichen und materiellen Ressourcen der Umwelt bzw. der Bundeswehr zu schonen und trotzdem das Gespür der beteiligten Offiziere für wichtige Entscheidungsfindungen und Kommandoabläufe im Ernstfall zu verbessern.

Bei Manövern, die GUPPIS einsetzen, gibt es bei jedem der Gegenspieler zwei Gruppen: im Feld werden wie gewöhnlich in einem Umkreis von bis zu 150 Kilometer mobile Übungsstäbe mit Standardausrüstung positioniert, die nach den herkömmlichen Einsatzgrundsätzen agieren. "Zu einem solchen Stab gehören bei einer Brigade etwa 150 bis 200 Mann, bei einer Division rund 800, einem Korps sogar bis zu 2000 Offiziere", erläutert der Leiter des Simulationszentrums, Oberst Hubert Bold. Räumlich getrennt davon sind die stationären Leitungsgruppen vor den GUPPIS-Rechnern, die alle Truppengattungen im Feld möglichst genau repräsentieren. Anfang Oktober waren beim Manöver Crystal Eagle, bei dem das dänisch-deutsche NATO-Korps LANDJUT das in Potsdam sitzende IV. Korps schulte, rund 5000 Mann im Einsatz. Dabei handelte es sich "nur" um Stabs- und Führungspersonal: "Wenn die Volltruppe aufmarschiert wäre, hätten wir hier fast 70.000 Soldaten mit rund 30.000 Fahrzeugen versammelt", erläutert Generalleutnant Hans Peter von Kirchbach, Kommandeur des IV. Korps.

Pixel statt Blut

Doch "Roß und Reiter" werden in Wildflecken vom Computer simuliert, Truppenbewegungen und Kampfhandlungen finden fast ausschließlich in den Rechnergehirnen statt. "Das läuft zunächst ganz normal ab: Man überlegt sich, wo Panzerbataillone und Infantrie in Stellung gebracht werden, welche Seite angreift, welche verteidigt", so von Kirchbach. Die mobilen Stäbe übermitteln dann ihren Verbindungsmännern im Simulationszentren genau die strategischen Operationen, die dort über graphische Masken mit allen erforderlichen Koordinaten, Richtungs- und Geschwindigkeitsangaben in die Terminals eingegeben werden. Das System berücksichtigt dabei die Daten über das Gelände, Umwelteinflüsse und Klimabedingungen sowie die "tatsächlich" verfügbaren Kräfte und Waffensysteme und verarbeitet sie zu Gefechtshandlungen. Die Geschosse explodieren dann im Computer, Brücken werden virtuell gesprengt, Blut fließt nicht.

In fünfminütigen Abständen spucken die Rechner die Ergebnisse der einzelnen Bewegungs- und Aktionsbefehle der unterschiedlichen Stäbe aus, dabei verschieben sich auf dem Kartenhintergrund schlicht ein paar taktische Symbole, die für Helikopter, Panzer oder Truppeneinheiten stehen. "Der Ablauf des Gefechts, Erfolge und Verluste werden so durch den Computer entschieden", bestätigt von Kirchbach. Über die regulären Meldewege werden die neuen Lagebilder, die der General für "durchaus realistisch" hält, per Funk oder Telefon an die Übungsstäbe weitergegeben, die dementsprechend neue Stellungen beziehen und weitere Schlachtpläne aushecken. Das zum War Game mutierte Manöver geht in die nächste Runde.

Streben nach Realität inmitten des Virtuellen

Interessant am Einsatz von GUPPIS ist vor allem die Mischung von Realität und Virtualität, sind die unterschiedlichen Herangehensweisen an die medialen Wirklichkeiten. Das mit dem Einsatz des Simulationssystems angestrebte Ziel ist die Erreichung größtmöglicher Realitätsnähe. "Die Philosophie ist, daß die mobilen Truppeneinheiten von der Computersimulation kaum etwas merken", verrät Oberst Bold. Taktisch sinnvolles Verhalten solle allein anhand der "realen" Verhältnisse trainiert werden. Deswegen haben allein die Mitglieder der Leitungsgruppe im Simulationszentrum, die Wizards des Spiels, den Überblick über die gesamten Gefechtshandlungen. Davon übermitteln sie aber nur die direkt relevanten Aspekte an die Stäbe im Feld. Über die Bewegungen der anderen "Spieler" erfahren die Einheiten vor Ort nur etwas, wenn sie davon direkt berührt werden. Ihre Entscheidungen können sich also ausschließlich an diesem beschränkten Wissen orientieren.

Andererseits ist das den Cybermanövern zugrundeliegende Realitätskonstrukt bereits durch länger zurückliegende Medienrevolutionen im Militärwesen durchlöchert. "Heutzutage schaut ein Stab zur Orientierung im Gelände nicht mehr mit dem Fernglas in den Wald, sondern greift nur noch zur Karte", erläutert der Leiter des Zentrums. GUPPIS sei daher geradezu universell einsetzbar: "Simuliert werden momentan das gesamte Gelände der Bundesrepublik und Teile der Niederlande." Theoretisch könne aber jedes digitalisierte Geländematerial in das System eingespeist werden. Dadurch wird es möglich, daß Übungsstäbe rund um Wildflecken so agieren, als ob sie ihr Manöver im Bayerischen Wald oder in der Lüneburger Heide abhielten. Die Hauptsache ist, daß das den Einheiten zur Verfügung gestellte Kartenmaterial mit dem im Computer übereinstimmt. "Idealerweise finden die Übungen aber in einem realistischen Gelände statt", räumt Bold ein. Deswegen könne er sich auch vorstellen, daß Teile des Zentrums mobil zum Einsatz kämen.

Geballte Rechenpower

Das transportierbare Simulationszentrum ist allerdings noch Zukunftsmusik. Zumal die Hardwarekomponenten des System, das bereits seit zwei Jahren von einzelnen Kommandobehörden der Bundeswehr dezentral getestet wurde, erst vor einem Jahr in Wildflecken zusammengeführt worden sind und das Zentrum sich noch ein weiteres Jahr lang im Probebetrieb befindet. Inzwischen sorgen dort rund 220 Workstations und ein Server für die Leistungsfähigkeit des komplexen und LAN-vernetzten Simulationssystems, das, so Bold, "ungezählte Varianten" einer Situation in Echtzeit durchspielen kann. Da die Simulationen ungeheuer speicheraufwendig sind, kommen DEC-Rechner zum Einsatz, die mindestens mit 233 Megahertz getaktet sind und über 18 Gigabyte große Festplatten verfügen. Die Daten werden zwischen den Workstations per ATM mit einer Geschwindigkeit von 100 Megabit in der Sekunde ausgetauscht.

Der Zusammenführung des Systems in Wildflecken hat bereits einige Millionen Mark verschlungen, da die Bundeswehr bei der Übernahme des Geländes von den abziehenden US-Streitkräften Mitte 1994 zwar eine intakte Stromversorgung und funktionsfähige Verkehrsinfrastrukturen wie eine Eisenbahnverladerampe oder Hubschrauberlandeplätze vorfand, Telekommunikationsnetze allerdings erst nachgerüstet werden mußten. "Wir haben die vorhandenen Kommunikationsinfrastrukturen zunächst provisorisch mit unseren Truppenmitteln ausgebaut, einfach Stahlseile zwischen den Gebäuden gespannt", erinnert sich Bold. Insgesamt sind dabei rund 9 Kilometer Lichtwellenleiter und 15 Kilometer Feldkabel verlegt worden, 9 der 50 Gebäude im Bereich der Kaserne wurden vollständig miteinander vernetzt. Allein diese Baukosten veranschlagt der Leiter des Simulationszentrums grob mit etwa 1 bis 2 Millionen Mark. Sollte GUPPIS die Probezeit bestehen, rechnet Bold mit weiteren Ausbaukosten: von zweistelligen Millionenbeträgen jährlich geht er aus, allerdings erst nach der Jahrtausendwende. Die Gelder will er in ein Breitband-LAN mit parallelen Netzen für die Übertragung von Sprache bzw. audiovisuellen Daten investieren.

Trotz des bisherigen Provisoriums habe es bisher aber keine technischen Ausfallzeiten gegeben, berichtet der Oberst nicht ohne Stolz. Auch die Sicherheit der Kommunikation hält er für gewährleistet: "Die Lichtwellenleiter, die wir statt Koaxialleitungen verwendet haben, sind nicht nur leichter, sondern auch sicherer." Während man sich über Induktionsschleifen in Kupferdrähte relativ leicht einklinken könne, strahlten Lichtwellenleiter keine elektromagnetische Energie ab und ließen sich daher schwerer abhören. Eine besondere Geheimhaltungsstufe gibt es für das Simulationszentrum allerdings nicht, es gelten die normalen militärischen Schutzvorschriften. "Bestimmte Quelldateien wie zum Beispiel die Leistungsdaten einzelner Waffentypen werden natürlich mehrfach verschlüsselt", versichert Bold. Informationen über die Schußweite oder die Vernichtungskapazität des Leopard 2 gingen beispielsweise nie ungeschützt über das Netz. Auch die Funksprüche zwischen Leitungs- und Übungsstäben würden mehrfach verschlüsselt, die Funkkreise zeichneten sich durch einen hohen Frequenzsprungwechsel aus.

Da die Telekommunikationsinfrastruktur fast vollständig neu errichtet wurde, hat der "Hausherr" auch keine Bedenken, daß noch Wanzen und andere Abhörmechanismen von den Amerikaner auf dem Gelände in Betrieb sind. Ein "großes Interesse an GUPPIS bei anderen Nationen" hat Bold zwar festgestellt, immerhin nehme das Simulationssystem weltweit eine Spitzenstellung ein. Die USA hätten mit WarSim 2000 eine ähnliche Lösung entwickelt, die aber keineswegs besser sei. Letztlich gehe es aber nicht um eine Konkurrenz der Systeme, sondern um die gemeinsame Weiterentwicklung im Rahmen der NATO. "Wir haben bereits vier niederländische Offiziere in unseren Stab integriert", gibt Bold als Beispiel. Auch mit der US Army arbeite man eng zusammen.

Kein Ersatz für Bodentruppen

"Die USA investieren sehr viel in Entwicklungen im Bereich digitaler Kriegsführung", weiß der Kommandeur des Korps LANDJUT, Henrik Ekmann, der in den 70ern selbst zwei Jahre lang in den Staaten ausgebildet wurde. Ein Trainingscenter wie das Wildfleckener hat der Generalleutnant jenseits des großen Teichs allerdings noch nicht ausgemacht. Es gäbe zwar viele entsprechende Förderprogramme, die meisten hätten allerdings noch nicht zu praktischen Lösungen geführt.

Trotz all der virtuellen Szenarien für den Kriegs- oder Katastropheneinsatz wollen die beiden Generäle, die GUPPIS während der Übung im Oktober eine gute Woche lang auf Herz und Nieren geprüft haben, den Sinn für die Realität bewahren. Beide verweisen die Filmszenarien Hollywoods über rein digitale Kriege, Cyborgs und Robosoldiers jedenfalls in den Bereich der Science Fiction. "Der Computer ist ein Werkzeug für uns und hilft uns sehr", meint von Kirchbach, "aber wir müssen nicht nur die Führungsstäbe schulen, sondern auch die Truppe." Das könne keine Simulation ersetzen. Auch Ekmann fällt es schwer, sich eine Kriegssituation vorzustellen, in der Bodentruppen keine Rolle mehr spielen: "Elektronen können nicht für Soldaten stehen, damit trifft man höchstens die Finanzzentren der Welt."

Krieg als Gewinn-und-Verlust-Rechnung anhand von Algorithmen

Was bringen die Kriegsspiele in ihrer Wildfleckener-Mischung aus Computersimulation und Wald-und-Wiesen-Lauf? Die Bundeswehr spricht trotz der letztlich nicht mehr genau zurückverfolgbaren Millionenkosten für die Hard- und Softwareausstattung sowie die Vernetzung des Zentrums vor allem von "Kostenminimierung": im Vergleich zu einer konventionellen Übung sollen die Computer Assisted Exercises (CAX) nur noch mit fünf Prozent der üblichen Kosten zu Buche schlagen. Dazu kommt die "geringstmögliche" Belastung der Umwelt bei gleichzeitig "bestmöglicher" Schulung der Flexibilität der Führungsstäbe. Konsequenterweise müßte dann allerdings auch die Ausbildung des "gemeinen Soldaten" mit Hilfe von Virtual-Reality-Simulationen erfolgen, da eine CAX das Training der Bodentruppen - die bei der Bundeswehr keiner dem Computer opfern will - nicht ersetzen kann. Doch für den Einsatz von VR für die Truppenschulung gibt es bei der Bundeswehr erst vereinzelte Tests, etwa im Bereich des virtuellen Trainings von Fallschirmspringern.

Was die Verlagerung des Kampfgeschehens in das Computersystem sehr schnell erreichen könnte, ist die Förderung eines klinisch-reinen, antiseptischen Kriegsbildes in den Köpfen der ausgebildeten Offiziere, in dem keine von Geschossen abgetrennten Gliedmaßen durch die Luft fliegen wie in Spielbergs "Saving Private Ryan", sondern nur noch taktische Symbole auf dem Bildschirm gelöscht oder vorgerrückt werden. "War Gaming" eben - nicht unbedingt wie im Ballerspiel am PC, sondern, wie Oberst Hubert Bold erklärt, verstanden als "Gewinn-Verlust-Rechnung anhand von Algorithmen, die den Kernbestandteil der verwendeten Software ausmachen." Vielleicht wäre ein Szenario ja sogar wünschenswert, in dem in den Kriegen der Zukunft tatsächlich nur noch Computer gegeneinander antreten, ihre Bilanzrechnungen aufstellen und schnell über Sieg und Niederlage anhand von Algorithmen entscheiden, die die UNO überwacht. Doch davon sind wir trotz aller Digitalisierung der Kriegsführung noch weit entfernt.