Warum das Web wirklich so verführerisch ist

Ein Kommunikationsmedium wurde in eine elektronische Einkaufszone verwandelt

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Nachdem der Psychologe David Greenfield letztes Jahr über 17000 Fragebogen über die Internetnutzung auf der Nachrichtenseite von ABC ausgewertet hat, ist er davon überzeugt, er habe einen positiven Beweis dafür gefunden, dass das Internet süchtig macht.

Er teilte seine Ergebnisse der American Psychological Association mit, die sich sicherlich bald der American Pediatric Association in der Verurteilung der modernen Medien wegen ihrer negativen Folgen für den menschlichen Geist und Körper anschließen wird. Doch sind für diejenigen, die sich auf die Mitteilungen solcher Organisationen noch immer stützen, um Entscheidungen für sich selbst oder für ihre Kinder zu treffen, diese Untersuchungen falsch angelegt und von Angst motiviert, und sie werden auch falsch interpretiert.

Beispielsweise basiert die Greenfield/ABC-Befragung, die zum Ergebnis kam, dass 6 Prozent der Internetbenutzer süchtig seien, auf den Antworten auf eine Liste von Fragen, die diesen am Ende eines Artikels über Internetsucht auf der ABC-Website gestellt wurden. Das ergibt natürlich keine objektive Grundlage. Und genau welche Menschen würden sich dafür entscheiden, ihre Abende alleine auf der ABC-Newssite zu verbringen und freiwillig Fragen über Internetsucht zu beantworten, wenn sie sich auch an einer der sozialeren Aktivitäten im Internet beteiligt haben könnten? Könnten nicht die 17000 Menschen, die sich von der Befragung angezogen fühlten, der Meinung sein, sie hätten ein Problem?

Eine solche voreingenommene Konzeption und Analyse seitens der medizinischen und psychologischen Branche sollte uns nicht überraschen. Wer wird schließlich, einmal abgesehen von den Mainstream-Medien selbst, mehr von der Ankunft interaktiver Techniken in Frage gestellt als die Ärzte? Die heutigen internetkundigen Patienten hinterfragen Behandlungen und suchen online nach alternativen Therapien. Die Explosion der neuen Medien hat überdies zu einer weit verbreiteten Verwirrung geführt, aber auch zu einer neuen Klasse an Experten, die jetzt noch mehr verehrt werden als einst die Ärzte. Wenn heute irgendwo auf der Welt sich eine Schießerei oder eine soziale Katastrophe ereignet, dann werden von CNN oder BBC nicht mehr die Ärzte oder Psychologen interviewt. Heute fordert man Medientheoretiker dazu auf, die nationale Psyche zu deuten.

Das ist vielleicht gar nicht so schlecht. Wenn das Internet wirklich zu den antisozialen Verhaltensweisen wie exzessives Spielen, Investieren oder Konsumieren führen sollte, wie das die Studie über Internetsucht behauptet, dann werden wir gute Medientheoretiker brauchen, um die Techniken und Anwendungen zu erkennen, die zu einem solch gefährlichen Verhalten führen können.

Ich vermute, dass nicht die interaktiven Medien selbst Süchte erzeugen, sondern die Vermarktungstechniken derjenigen, die diese Medien implementieren. Als jemand, der vier Jahre lang mit "ECommerce-Spezialisten" zusammen gearbeitet hat, um ihre Verführungstechniken für ein Buch ("Coercion: Why We Listen to What `They' Say.") über dieses Thema zu beobachten, habe ich sehen können, wie ein Kommunikationsmedium in eine elektronische Einkaufszone verwandelt wurde. Bewerkstelligt wurde das durch die Übernahme und Automatisierung der stärksten Waffen aus dem Arsenal der Vermarkter, um ein Rezept für die Erzeugung von Sucht und Abhängigkeit zu entwickeln. Die wichtigste Qualität für die Website eines Vermarkters ist die sogenannte "Bindungskraft", was ganz buchstäblich den Grad bezeichnet, mit der eine Website einen Benutzer nicht frei lässt. Solche Sites werden so gestaltet, dass sich der Computerbildschirm mit Pop-up-Fenstern füllt, die man einzeln schließen muss, oder dass man Angebote tief in die Website wie ein Spezialitätengeschäft in eine Mall einbettet, so dass man den Weg nach draußen nicht mehr so leicht finden kann. Das Ziel dieses Spiels ist, einen unwiderstehlichen Druck auf den Benutzer auszuüben, auf "Kaufen" zu klicken.

Interaktiven Medien eröffnen dem Direktvermarkter die Möglichkeit, seine Angebote in Echtzeit auf den einzelnen Verbraucher auszurichten. Die besten neuen Websites gestalten sich auf der Grundlage des Benutzerverhaltens um. Sie setzen Cookies auf die Computer der Internetbenutzer, die so viel Information enthalten, wie sie über diese wissen oder gekauft haben. Wenn man das letzte Mal auf eine dieser Sites gekommen ist und auf die besten roten Knöpfe und Angebote reagiert hat, bei denen die Preise mit 88 Cents geendet haben, dann hilft der Cookie dabei, die Bedingungen wieder herzustellen, die zu dem verlässlichsten Verbraucherverhalten geführt haben.

Marketingpsychologen nennen diese Technik "An der Hand nehmen und führen". Sie basiert auf einer von Therapeuten verwendeten Art der Hypnose, bei der dieser die Haltung, die Atmung und die Sprechweise des Patienten nachahmt, um ihn in einen Trancezustand zu versetzen. Computer ermöglichen die Automatisierung dieses Prozesses. Mit dem Internet können Tausende von Menschen an der Hand genommen und von derselben Site gleichzeitig geführt werden, wobei jeder Nutzer zu dem zwanghaften Einkaufen gebracht wird, das die NASDAQ-Aktien die vierteljährlichen Gewinnschätzungen einhalten lässt.

Der interaktive Medienraum ist wahrscheinlich der beste Ort, um zwanghaftes und süchtiges Verhalten zu erzeugen. Ironischerweise wurde dies erreicht, indem man das Internet nicht mehr, sondern weniger interaktiv werden ließ. Anstatt uns unsere Ideen mitzuteilen oder Briefe zu schreiben, werden wir darin verstärkt, die Tastatur gegen die Maus einzutauschen, um gedankenlos durch Produktangebote zu klicken und nicht mehr etwas von uns anderen mitzuteilen.

Copyright 1999 by Douglas Rushkoff
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Übersetzt von Florian Rötzer