Was Arbeit ist, bestimmen wir

Sozial ist, was Arbeit schafft, Teil 1: Wie die ALGII-Gesetzgebung den "Wert des Menschen" in der Gesellschaft neu definiert

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Arndt ist 46 und seit drei Jahren arbeitslos. Obwohl er sich stetig privat fortbildet, findet der Softwareentwickler keine Anstellung, von der er auch nur annähernd leben könnte. Das letzte Angebot, das er bekam, war ein Vollzeitjob mit einem Bruttogehalt in Höhe von 1.000 Euro. An drei Abenden in der Woche erklärt Arndt älteren Damen und Herren das Internet, zeigt ihnen, wie man Emails verfasst oder Daten herunterlädt, wie Suchmaschinen funktionieren oder was Fehlermeldungen bedeuten. Die Tätigkeit ist ehrenamtlich. Seit dem 1. Mai dieses Jahres aber hat sich für Arndt etwas geändert: Er erledigt nun die gleiche "Arbeit" bei einem anderen Träger, erhält hierfür aber 1 Euro pro Stunde. Für den Arbeitslosen müsste dies positiv sein, doch er sieht dies anders. "Na ja, jeder sucht sich ja die Ecken aus, in denen er ehrenamtlich arbeitet", sagt er. "Der eine will lieber bei der Arbeiterwohlfahrt etwas tun, der andere bei der katholischen oder evangelischen Kirche..." Der von ihm geleitete "Kurs" aber ist jetzt bei der Konkurrenz des früheren Trägers, für Arndt ist es genau "die Ecke, in der ich halt nicht arbeiten wollte".

Für den früheren Träger ist dies ein doppeltes Verlustgeschäft, er hat nicht nur einen motivierten und engagierten Mitarbeiter verloren, ihm ist auch eine direkte Konkurrenz entstanden. Denn Arndt wird sein Bestes geben müssen in seinem 1-Euro-Job, sonst drohen ihm Leistungskürzung oder -sperre. Dazu kommt, dass sich herumgesprochen hat, dass "Arndts Kurse" nun woanders stattfinden, so dass die neuen Kurse besucht werden und der frühere Träger keine freiwilligen Spenden der Kursbesucher mehr erhält, sondern der neue Träger. Für diesen ein mehr als gutes und weitgehend risikofreies Geschäft: Nicht nur hat er nun einen zwangsmotivierten Mitarbeiter, der sich hüten wird, das ohnehin knapp bemessene ArbeitslosengeldII zu gefährden, er erhält auch dafür, dass er die 1-Euro-Stelle geschaffen hat, eine Entschädigung in Höhe von 436 Euro monatlich, von denen 96 Euro an Arndt gezahlt werden, die anderen 340 Euro stehen ihm selbst zu.

Was Arndt am meisten zu schaffen macht, ist die Reaktion seiner Bekannten. Denn während sein bisheriges Ehrenamt von den meisten als sinnfreie Beschäftigung - "damit man nicht ganz abstumpft" - angesehen wurde, hat sich dies geändert, seit er für jede Stunde Arbeit 1 Euro erhält. Die gleiche Tätigkeit wie vorher hat in den Augen vieler Arndt jetzt erst wieder zu einem berechtigten Leistungsempfänger gemacht, weil er ja "immerhin was tut und nicht nur dem Staat Geld kostet". Dass der Staat in diesem Fall 436 Euro zusätzlich für Arndt bzw. den Träger zahlt, ist dabei ebenso unwichtig wie die Tatsache, dass Arndt doch schon immer diese Arbeit erledigte, vorher sogar kostenlos.

Endlich hast Du wieder was zu tun

Arndts Fall ist einer von vielen, der zeigt, wie sehr die seit Monaten andauernde politische Auseinandersetzung mit der Arbeitslosigkeit die Werte innerhalb der Gesellschaft verändert. Wer "nur arbeitslos" ist, ist automatisch Sozialschmarotzer, der faul "herumgammelt". Sobald dann eine Weiter- oder Fortbildung oder eine gering bezahlte Stelle zur Verfügung steht, die angenommen werden muss, ist der Sozialschmarotzer plötzlich der Leistungsempfänger, der sich von den anderen Schmarotzern abhebt, weil er ja einen berechtigten Anspruch auf Leistungen hat. Worum es sich bei der Arbeit handelt, ist egal, Hauptsache "man tut was", was bezahlt wird oder aber vom Amt als Arbeit definiert wird.

Ob der Arbeitslose vorher schon (umwelt-, sozial-)politisch tätig war, ob er andere Ehrenämter ausführte - dies alles zählt nicht mehr, der dritte oft spöttisch "Mausschubserkurs" genannte Computerkurs für den Softwareentwickler allerdings schon. Dies ist umso unverständlicher, da diese Art von "Arbeit um der Arbeit willen" oftmals lediglich Kosten verursacht, den Arbeitslosen zusätzlich ob ihrer Sinnlosigkeit abstumpfen lässt und für die Gesellschaft manchmal weniger Wert hat als die vorherige Tätigkeit.

Gemeinnützige Arbeit zum Nulltarif

Doch längst sind die Überlegungen soweit, Arbeitslose auch zum Nulltarif für gemeinnützige Arbeiten einzuspannen. Zynisch wird diese Überlegung dann auch noch als humaner Dienst am Arbeitslosen verkauft, der Schwierigkeiten hat, sich an einen normalen Tagesablauf zu gewöhnen und ohne eine derartige Maßnahme völlig abstumpft.

Die Langzeitarbeitslosen haben so nicht länger das Gefühl, überflüssig zu sein, gewöhnen sich wieder an regelmäßige Arbeit. Positiver Nebeneffekt: Sie können in dieser Zeit nicht schwarz arbeiten. Die Folge: Arbeit, die getan werden muss, wird dann wieder nur von Sozialversicherten erledigt. Das schafft neue Arbeitsplätze und füllt die Sozialkassen.

Stefan Müller, arbeitsmarktpolitischer Obmann, CSU, in der Bild

Oben genannte Tätigkeiten, die Arbeitslose verrichten, sind also so lange "nichts wert", bis sie von Amts oder Staats wegen als "gemeinnützig" anerkannt werden. Für diejenigen, die derzeit den 1-Euro-Job als Messlatte für den Wert des Arbeitslosen sehen, muss sich zwangsläufig die gleiche Denkweise ergeben. In Arndts Fall würde er dann weiterhin bei der Konkurrenz seine Computerkurse geben, kein Geld dafür erhalten und dennoch "anerkannt" werden weil diese Tätigkeit vom Amt vermittelt wurde und nicht etwas ist, was er sich selbst aussuchte. Der Arbeitslose ist somit solange "wertlos", ein lediglich Kosten verursachender Posten, bis durch das Amt eine als gemeinnützig vordefinierte Tätigkeit ihm wieder Wert verleiht.

Hier sind noch nicht einmal mehr die Prinzipien des Kapitalismus anwendbar, welche den Wert an Produktivität oder einer Kosten/Nutzenanalyse festmacht. Hier herrschen dann die inhumanen Regeln der Bürokratie, für die der Arbeitslose lediglich eine Nummer ist, die nach Gutdünken ins "Köpfchen oder Kröpfchen" der Vermittlung wandert.

Es muss an mir liegen

Innerhalb der Gesellschaft wird diese Entmenschlichung derjenigen, die nicht mehr durch eigene Arbeitskraft offiziell an der Wertschöpfung mitarbeiten, weitergehen. Da aber zeitgleich die Menge derer steigt, die auf Lohnersatzleistungen angewiesen sind, entsteht ein Gefälle, in dem eine immer kleiner werdende Elite auf diese Menge herabblickt und sie zynisch beurteilt und verurteilt. Daher ist es umso wichtiger, stets zu kommunizieren, dass die "Verurteilten" selbst schuld sind, dass sie Schmarotzer sind und dergleichen.

Durch in die Privatsphäre eingreifende Maßnahmen wie die Kontrolle der Wohnungen und der Wäsche sowie die stete Furcht vor der Kürzung oder Streichung der Leistungen beim Aufbegehren muss der Arbeitslose an die Idee, dass er, solange er Sozialleistungen bezieht, immer weniger Rechte hat, gewöhnt werden und die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung nicht nur hinnehmen sondern sie vollkommen akzeptieren und in sein Denken aufnehmen. Arbeitsersatzleistungsempfänger müssen weiterhin gegeneinander ausgespielt werden - der Rentner bekommt so das Gefühl, seine kleine Rente liegt auch daran, dass es so viele Arbeitslose gibt, die nicht arbeiten wollen usw.

Würde eine solche Entwicklung nicht fortgeführt, könnte zwischen denen, die nicht mehr zu den offiziell als "wertvoll" gewürdigten Menschen zählen, Solidarität entstehen. Angesichts der Tatsache, dass sie keine unbedeutende Minderheit sind, wäre der soziale Frieden mehr denn je in Gefahr. Damit dies nicht passiert, sind die weitere Kürzung von Sozialleistungen sowie die Fortführung der Repressionen gegenüber den Arbeitslosen unabdingbar. Gleiches gilt für eine verzerrte Kommunikation der aktuellen Situation, so dass sich falsche Zahlen in den Köpfen festsetzen etc.

Solange Menschen wie Arndt Angst haben, viel zu verlieren, werden sie sich eventuell kurzfristig aufregen, dennoch aber folgsam bleiben. "Ich benötige das Geld", sagt Arndt. "Was soll ich denn machen?" Abends überlegt er, ob er die falschen Programmiersprachen gelernt hat oder vielleicht die Bewerbungsschreiben immer noch nicht perfekt schreibt. Er überlegt, was er falsch macht. Deshalb würde er auch nie gegen irgendwelche Maßnahmen protestieren. "Andere haben doch auch Arbeit als Programmierer. Wenn ich also keine Arbeit finde, muss es doch an mir liegen." Darauf angesprochen, wie er seinen "Wert" als Mensch einschätzt, schweigt er. "Na ja, nicht so hoch", sagt er dann. "Aber wenn ich erst wieder Arbeit habe..."