Was gehen uns die Armenier an?

Der Völkermord an den Armeniern – unser Schweigen

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Was gehen uns denn die Armenier an?1 Genauer: Was geht uns, nach 90 Jahren, heute noch der Völkermord an den Armeniern an? Speziell – und nur auf diese Frage konzentriert sich dieser Beitrag: Was spielt es für eine Rolle, ob wir außer der Schoa, dem jüdischen Holocaust, auch diesen Völkermord als "Völkermord" bezeichnen oder nicht?

I. Vorklärungen

Zwei Klärungen vorweg: Was heißt "Völkermord"? Und: War die Tötung von 800 000 Armeniern oder, je nach Brille, von mehr als 1,5 Millionen Menschen dieses Volkes tatsächlich Völkermord?

I.1 Begriff: Den Tatbestand des Völkermords erfüllen, so der Kern der UNO-Definition von 1948, insbesondere solche Handlungen gegen die Mitglieder einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe, die in der Absicht begangen werden, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.2

I.2 Faktum: Haben die betreffenden Handlungen gegen die Armenier diese Bedingung tatsächlich erfüllt? Dazu nur 3 Feststellungen:

  1. Diese Handlungen haben diese Gruppe mehr als nur teilweise zerstört.
  2. Diese Handlungen waren gegen diese Gruppe als solche gerichtet. Die Armenier wurden getötet oder in den Tod getrieben, weil sie Armenier waren.
  3. Diese Handlungen geschahen nicht sporadisch; sie waren (mit dem Ziel, die Armenier als Armenier zu beseitigen) systematisch vorgeplant.

Ergo: Diese Handlungen erfüllen den Tatbestand des Völkermords. La question armenienne n'existe plus.3

I.3 Der Standardeinwand: Menschen, die das anders sehen wollen, bestreiten bekanntlich entweder eine der Prämissen – was im Fall des jüdischen Holocausts schlicht dessen Leugnung wäre und in Deutschland unter Strafandrohung fiele – oder sie argumentieren so: Armenier als Armenier zu töten, das war nicht das oberste Ziel der Täter. Diese Tötungen waren, um nur die häufigste Argumentations-Variante zu nennen, mit Blick auf den drohenden militärischen Angriff von Seiten Russlands notwendiger Bestandteil der türkischen Präventivstrategie, die letztlich ihrerseits klar defensiven Zwecken dienen sollte. Oder so: Die betreffenden Handlungen waren kein Selbstzweck, sie waren nur ein Mittel zu einem höheren bzw. gar heiligen (nationalen) Zweck.

Für die zentrale Frage (Völkermord oder nicht?) sind solche Argumente aber völlig irrelevant. Die Völkermorddefinition verlangt gar nicht, dass sich die betreffende Absicht nicht ihrerseits aus weiterreichenden Absichten ergeben darf. Es kommt nur darauf an, ob die Absicht selbst gegeben ist oder nicht. Ihre Genese bzw. ihre weitere Begründung spielt dafür, ob die von ihr geleiteten Handlungen Völkermord sind oder nicht, keine Rolle. Völkermord und (subjektive) Zweckrationalität sind keine Gegensätze; auch Völkermord kann rational sein – für die Völkermörder. Aus der Sicht der Nazis war auch die Vernichtung der Juden und der Sinti und der Roma rational; trotzdem: der Holocaust war Völkermord. Das ist bei der armenischen Apokalypse nicht anders.

Für ein tieferes historisches Verstehen der Völkermord-konstitutiven Absicht hinter den Handlungen des jungtürkischen Osmanen-Regimes im Frühjahr 1915 sind weitere Begründungen und Motiverklärungen zweifellos nötig und nützlich, für die zentrale Frage (Völkermord oder nicht?) aber schlicht unerheblich. Alle Forderungen, diese Frage erst einmal einer Historikerkommission zur Beantwortung vorzulegen, gehen somit – es sei denn, man bezweifelt wirklich die Prämissen (1 bis 3) – an der Sache vorbei. Der "Völkermord" an den Armeniern war Völkermord. Und bleibt das auch in alle Ewigkeit.

I.4 Das Notwehrargument: Die übliche Rechtfertigung von Seiten aller Kriegs- und Völkermord-Verbrecher ist das Plädoyer auf Notwehr: Nicht jede Tötung, auch nicht jeder Totschlag, sei schon Mord. Zum Beispiel nicht bei Notwehr; zumindest nicht, wenn diese der Bedrohung angemessen sei.

Kann Völker-Totschlag jemals legitime Notwehr sein? Aus der Sicht der Täter wohl. Auch das spielt aber keine Rolle. Schon rein begrifflich nicht: Jede Art von Gruppen-Totschlag – auch der aus vermeintlicher Notwehr – zählt, sofern er seine Opfer als Mitglieder der betreffenden (ethnischen, religiösen etc.) Gruppe trifft, bereits als Völkermord.4

Gezielter Völker-Totschlag = Völkermord. Wer ersteren als gegeben ansieht, kann sich, um den letzteren Begriff zu vermeiden, nicht auf die übliche Differenz zwischen Mord und Totschlag berufen. War die Hekatomben-Tötung von Armeniern gezielter Völkertotschlag? Sicher. Also ... Wenn Völker-Totschlag zugestanden ist, ist die Frage, ob auch Völkermord gegeben ist, keine Faktenfrage mehr.

II. Die Wahrheit über Kain und Abel

Wann ist es richtig, Mord auch "Mord" zu nennen, und wann Völkermord auch "Völkermord"? Das ist mehr als nur ein Kampf um Worte.

Wer hier auch nur etwas klarer sehen will, der braucht Distanz.5 Fangen wir noch einmal an. Zwar nicht bei Adam und bei Eva, aber doch bei deren Söhnen Kain und Abel.

II.1 Die allgemeine Wahrheitsfrage ist: Nein, jetzt nicht schon wieder die Pilatusfrage, was denn Wahrheit sei. Sondern relevanter: Wann dürfen/sollen/müssen wir die Wahrheit sagen? Manche meinen: immer. Das ist falsch. Nicht jeder hat das Recht, zu wissen, was ich weiß. Ich muss nicht jedem alles sagen; oft sollte ich es auch nicht. Darf ich es? Aber klar – doch nur, wenn niemand grundlos dadurch Schaden leidet.

Also: Wem schadet es, wenn man den Mörder "Mörder" nennt? Vielleicht dem Mörder selbst. Wäre das allein ein guter Grund für uns, ihn deshalb nicht als Mörder zu bezeichnen? Nein. Ich darf den Mörder "Mörder" nennen – ihm selbst wie andern gegenüber; und sollte das wohl auch – etwa, um neue Morde zu verhindern. Ich muss es zudem laut Gesetz, zumindest vor Gericht.

All dies gilt auch für Völkermord.

II.2 Auch Täter haben Kinder; Opfer auch. Kain, der erste Mensch, der einen Mord beging - Kain soll ab jetzt die Tochter Karin haben, die Tochter seines Bruders Abel heiße Anna (der dritte Sohn von Adam und von Eva war bekanntlich Set6).

Des Täters Tat betrifft nicht nur das Opfer – sie trifft auch dessen Kinder. Auch diese leiden in der Regel mit. Der Tod von Abel durch die Hand des Kain trifft auch die Anna. Auch sie ist (indirektes) Opfer. Kain versündigt sich nicht nur an Abel, auch an Anna. Er steht damit auch Anna gegenüber in der Schuld. Soweit ist, so scheint mir, alles klar: Auch Opfer-Kinder haben Schadens-Folge-Rechte gegenüber ihren Schädigern.

Sind Täter-Kinder selber Täter? Nein – nicht automatisch. Kains Tochter Karin ist nicht schon deshalb eine Mörderin, weil ihr Vater Mörder war. Trotzdem ... .

Trotzdem was genau? Sie alle wissen: Das ist von allen menschlichen Problemen eines der größten. Für das Selbstbild, das wir Nazi-nachgeborenen Deutschen von uns selber haben sollten, ist es wohl das allergrößte. Es ist bis heute, scheint mir, nicht gelöst. Das ist gefährlich.

Was bisher vor allem übersehen worden ist: Auch Täter-Kinder können (indirekte) Opfer ihrer Väter-Taten sein. Testen Sie sich selbst: Kain und Abel – zu wessen Nachkommenschaft möchten, wenn Sie wählen könnten, Sie gehören? Zum Stamm von Kain? Zum Stamm von Abel? Anders gefragt: Wären Sie lieber Karin oder lieber Anna? (Alle, die ich bisher fragen durfte, sagen: lieber Anna. Das sag ich auch. Und Sie?)

Ob normale Opfer-Kinder überhaupt verstehen können, dass vielleicht auch Täter-Kinder selber Opfer-Kinder sind? Und dass deren Leid vielleicht sogar mitunter größer ist?7

II.3 Recht auf Unwissenheit? Kinder von Tätern = Täter-Kinder. Ist es daher richtig, sie auch offen so zu nennen? Auch wenn dies weh tut? Ist, wenn Täter-Kinder unter ihrer Täter-Kindschaft selber leiden, das ein guter Grund, sie nicht so zu bezeichnen? Zum Beispiel ihnen selber nicht zu sagen, dass ihre Väter Täter (Mörder, Volkermörder) waren oder sind?

Ja, das könnte sein. Es könnte in der Tat mitunter für die Täter-Kinder besser sein, sie wüssten nichts von deren Taten - oder von den Taten ihrer Mütter, je nachdem. Zum Beispiel, wenn diese Kinder noch zu klein und schwach sind, um von diesem Wissen nicht zerstört zu werden; oder wenn sie gerade dadurch zu dem Glauben kämen, ihre "lieben Eltern" hätten Recht; wenn sie durch dieses Wissen selbst zu Tätern würden, usw.

Aber: ein solches Recht auf Unwissenheit dauert nicht ewig. Es schwindet in dem Maße, wie auch unsere Täter-Kinder auf den eigenen Beinen stehen können – und auch stehen wollen, kurz: je mehr sie selbst zu zurechnungsfähigen Akteuren – und damit selbst zu potentiellen Tätern – werden, kurz: zu Personen. Personen nämlich wollen ernstgenommen werden – und sollten das gewöhnlich auch. Neumodisch-technisch ausgedrückt: Je stärker ihre personale Identität, desto größer unsere Pflicht, ihnen gegenüber diesem Anspruch, ernstgenommen zu werden, auch gerecht zu werden. Umso stärker also unsere Pflicht, die Wahrheit auch Ihnen gegenüber nicht zu verschweigen.

II.4 Recht auf Wissen: Karin und Anna sind erwachsen. Darf Anna gegenüber Karin deren Vater Kain den Mörder ihres Vaters Abel nennen? Ja – im Prinzip schon. Zum Beispiel, wenn Karin von dem Mord des Vaters an dem Onkel Abel bisher nichts gewusst hat, dieses aber wissen sollte. Wie etwa dann, wenn die Beziehung zwischen ihr und Anna eine echte und so auf Dauer angelegt sein soll. Ist diese Echtheit beiderseits gewollt, dann gilt sogar, dass Anna Karin diese Wahrheit sagen muss; denn die zu kennen, darauf hat Karin – auch wenn ihr diese Wahrheit grausam weh tun wird – in diesem Falle fraglos auch ein Recht. Und so hat Anna jetzt sogar die Pflicht, der Karin weh zu tun – selbst grausam weh.

Was wäre denn, wenn Karin ohne Annas Hilfe die Kain-und-Abel-Wahrheit selbst entdecken würde? Müsste sie dann Anna nicht zu Recht den Vorwurf machen, dass diese sie, die Karin, bislang ersichtlich nicht für voll genommen hat? Und das soll Freundschaft sein?

Was ändert sich daran, wenn Karin selbst, obwohl erwachsen, sich gegen diese Wahrheit sträubt? Ist dies auf Dauer für sie selber gut? Soll Anna dieser Selbstblockade durch erneutes – gar durch ein nie mehr gebrochenes - Schweigen Rechnung tragen?

Und was bedeutet Karins Einfach-nicht-wissen-Wollen für Anna selber? Würde deren Waisenschmerz dank dieser Verdrängung etwa gemindert – oder nur noch größer? Und wäre dieser Schmerz nicht umso stärker, je länger sich Cousine Karin der bösen Kain-und-Abel-Wahrheit selbst verweigert?

Daraus folgt nicht, dass Anna ohne Wenn und Aber Karin gegen deren Willen zur Anerkenntnis dieser Wahrheit zwingen darf. Anerkennung zählt als Anerkennung ausschließlich dann, wenn sie freiwillig und eine ernstgemeinte ist. Dem Leid des Opfers und der Opferkinder gegenüber wäre ein Lippenbekenntnis bestimmt nicht das, worauf es diesen ankommt.

II.5 Identitäten. Sie wissen selbst, was zu beachten auch noch wichtig wäre: Zum Beispiel, dass Kain und Abel weitere Geschwister hatten - der Bibel nach, die außer Eva lange Zeit allein die Männer nennt, etwa auch noch den Bruder Set. Dass dieser am Brudermord des Kains an Abel mit-beteiligt war, in etwa so, wie es das Deutsche Reich beim Völkermord an den Armeniern war. Dass keiner von uns wirklich weiß, ob er nicht selbst zum Stamm des Kain, des Abel oder Sets gehört. Und äußerst wichtig wären schließlich noch: Die ganzen Rituale, mit denen öffentlich bekundet und bekräftigt werden kann, wie Menschen zueinander stehen – bzw. gerne stehen würden; und derer man sich aufrichtig wie auch unaufrichtig dann bedienen kann. Zu sehr verschiedenen Zwecken.

All dies gilt, ganz grob gesprochen, nicht nur für Individuen und Familien, vielmehr für alle Kollektive, für alle, wie man heute lieber sagt: "kollektiven Identitäten".( Wir sagen auch von diesen, dass sie "schwach" oder "stark", "veränderbar", "auf Sand gebaut", "belastbar", "brüchig" und dergleichen sind.8 )

III. Der Umgang mit der Wahrheit – und der Völkermord

Der Völkermord an den Armeniern war "Völkermord". Das wird von der Türkei nicht anerkannt. Allein den Völkermord auch "Völkermord" zu nennen, ist dort strafbar; auch wer auf diesen Fall bezogen bei uns von "Genozid" und "Völkermord" zu sprechen wagen würde, müsste mit Bedrohung und Gefährdung rechnen. Auf entsprechende Resolutionen fremder Staaten hin löst die Türkei auch heute noch bilaterale Krisen aus.

Was ist davon zu halten? Und wie reagieren wir darauf? Und wie am besten? Das kommt drauf an:

III.1 Noch einmal: Klärungen: Worauf es ankommt, wissen wir seit Kain und Abel:

  1. Können wir – Armenier, Deutsche, Türken, Europäer usw. – auch in diesem Fall die harte Wahrheit (des Völkermords an den Armeniern) wirklich "schon" ertragen? Sind wir dazu groß genug, gar schon erwachsen?
  2. Speziell: Haben die Täterkinder in ihrem Derzeitstadium ein Recht auf Unwissenheit?
  3. Wollen wir wirklich so etwas wie Freunde sein?
  4. Ist uns diese Freundschaft so viel wert, dass wir sogar der Pflicht nachkommen wollen, unsern Freunden, wo notwendig, weh zu tun – auch furchtbar weh?

III.2 Wenn-Dann: Wenn die Antwort auf alle diese Fragen Ja sein sollte, was wäre dann? Was würde daraus folgen? Eines mit Sicherheit: Dass wir den Völkermord an den Armeniern furchtlos auch beim Namen nennen dürften – ja, auch müssten. Nicht heimlich – offen. Nicht selektiv, mal hier mal da – ganz generell, sei es gelegen oder ungelegen. Egal, ob das nun wehtut oder nicht.

III.3 Die Wirklichkeit von heute – passt die zu diesem großen Wenn? Ich zweifle – schon bei den ersten Fragen. Nicht alle der betroffenen Gruppen sind in dieser Wahrheitsfrage (des Völkermords an den Armeniern) gleichermaßen weit entwickelt.

III.3.1 Die Gruppe der Armenier. Als Gruppe hatten sie bei diesem Völkermord die Rolle Abels. Was nicht heißt, dass es mehr als nur einen Kain nicht auch in dieser Gruppe gab (auch Massaker von Seiten der Armenier an den Türken sind nicht zu bestreiten9).

Heute gibt es, nach mehr als drei Generationen, in dieser Abel-Gruppe fast nur noch Opfer-Kinder oder Kindeskinder. Genauer: So wäre es, wenn alles, was den Völkermord an dieser Gruppe ausmacht, mit dem Völkertotschlag 1915/16 abgeschlossen wäre. Dem ist nicht so. Totschlag an dieser Gruppe gab es auch später. Zum Leiden dieser Abel-Anna-Gruppe gehört zudem nicht nur, was früher war. Erinnerung an Abel tut auch Anna von heute weh. Und es geht weiter: die alten Kirchen, Klöster, Zentren – sie zerfallen. Auch die Zerstörung von Kultur zerstört die Gruppe, deren Kultur sie ist, jedenfalls die Gruppe als Gruppe. Und dann: Die Opfer-Kindeskinder-Gruppe weiß, dass all dies Leid die Täter-Kindeskindergruppe ignoriert. Erfährt genau dies jeden Tag.

Das macht es für die Gruppe der Armenier sicher schwer, die Kindeskindergruppe ihres Kains nicht selbst als Kain zu sehen. Auch wenn es in der Türken-Gruppe Täter-Kinder gibt, die durch die Scham über die Schande ihrer Väter selber leiden – es sind bisher nur wenige. Und wie sollten die, die ihrer eigenen Täter-Gruppe als Verräter gelten, als Entlastung ihrer Gruppe gegenüber deren Opfer-Gruppe gelten können?

III.3.2 Die Gruppe der Türken. In dieser gibt es, wie bei allen größeren Gruppen, große Unterschiede, je nachdem, wohin man schaut. Die zwei Extreme wären: die staatliche Eliteschicht versus ein paar versprengte Intellektuelle. Der größte Teil der Gruppe läge irgendwo dazwischen.

Die nationale Führungsschicht steckt, im Bild des Heranwachsens ausgedrückt, noch in den Kinderschuhen. Sie ist fixiert auf nahezu totale "Genozid"-Begriffs-Blockade. Nach innen, wie nach außen.

Ein paar große intellektuelle Einzelne (Schriftsteller, Regisseure) versuchen zunehmend, diese Blockade zu durchbrechen. Deren Mut lässt auf einen Ausbruch aus dem Leugnungs-Ghetto hoffen. Aber erst dieser Tage erhielt ein Schriftsteller, Orhan Pamuk, Morddrohungen, weil er sich kritisch zum Völkermord an den Armeniern äußerte. Und Kollegen von ihm ist es nicht gelungen, für eine an die Armenier gerichtete Zeitungsanzeige mit dem schlichte Titel "Wir teilen Euer Leid" Unterschriften zu bekommen. Die Angesprochenen winkten aus Angst ab.10

Zur Türkei-Gruppe (wenn auch nicht nur Gruppe aller Türken) zählen auch die Kurden. Unter diesen ist das "Völkermord"-Tabu nicht so stark. Das verwundert nicht. Zum einen gehörten kurdische Stämme selber zu den blutigsten Werkzeugen des Genozids; zum anderen richtete sich nach der Vernichtung der Armenier die türkische Unterdrückung zunehmend gegen die Kurden. Ich vermute daher: Die türkische Leugnung des Völkermords an den Armeniern wird sich in dem Maße lockern, wie sich auch die Lage der türkischen Kurden verbessert. Aber auch umgekehrt: Je stärker die Blockade-Politik der Türkei sich gegen Wahrheitszumutungen von außen wehren zu müssen glaubt, desto stärker wird auch die Repression gegen die Kurden wieder werden. (Zur Erinnerung: Ein Hauptargument für die Vernichtung der türkischen Armenier soll gewesen sein, dass sich Türkei nur so weiterer westlicher (englischer und französischer) Einmischungen erwehren zu können glaubte. Sollte sich auch hier Geschichte wiederholen?)

III.3.3 Und wir? Wie steht es mit uns? Wie "groß" sind wir, was das Sich-selbst-und-andere-Erinnern an den Völkermord an den Armeniern angeht?

Unser Größter ist schon lange tot: Johannes Lepsius (1858-1926), ein Theologe und Armenien-Kenner, der im Auftrag des Auswärtigen Amtes eine Sammlung diplomatischer Akten: "Deutschland und Armenien 1914-1918" herausgegeben und dort den Völkermord an den Armeniern dokumentiert hat. Franz Werfels großartiger Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh – ein Werk, das jeder an unserem Thema wirklich Interessierte gelesen haben wird – erscheint 1933, das Jahr, in dem seine Bücher in Deutschland verbrannt werden. Beide LepsiusLEPSIUS und Werfel – sind ein Licht in der endlos langen Nacht des Schweigens, die sich nach den auf Druck der Alliierten 1921 anberaumten Kriegsverbrechertribunalen vor dem Reichsgericht zu Leipzig zunehmend verfinsterte.

Von den deutschen Vergessensleistungen stark beeindruckt soll jemand gewesen sein, dessen Namen ich nach den beiden vorigen hier gar nicht nennen will. Berüchtigt ist sein Wort: "Wer erinnert sich denn heute noch an die Armenier!" Manche sehen darin einen Grund für des Gröfas-Erwartung, auch für die nächsten Genozide würde schon nach Kurzem gleiches gelten. Diese wären vielleicht weniger wahrscheinlich gewesen, wenn die Deutschen diesen ersten Genozid des 20. Jahrhunderts nicht gar so rasch vergessen hätten. Deshalb: Wer (wie ich selbst) "Nie wieder Auschwitz" sagt, der sollte andere Genozide besser nicht vergessen.

In den deutschen Büchern zur Geschichte rangiert der Völkermord an den Armeniern größtenteils unter der gleichen Rubrik wie in den türkischen: tragische Ereignisse. Die Todesmärsche in die Wüste Syriens heißen in einem populären Band schlicht: "Evakuierung".11 Und in den Schulbüchern? Fehlanzeige; kein mir bislang bekannter Eintrag. Der vor kurzem unternommene Versuch in Brandenburg, dieses Schulbuchdefizit durch den auf die Stichworte "Entgrenzung von Kriegen; Ausrottung und Völkermord" folgenden minimal kurzen Klammerzusatz "(zum Beispiel Genozid an der armenischen Bevölkerung Kleinasiens)" erstmals zu beheben, scheint nach Einspruch von Seiten der Türkei gestoppt.12

III.4 Deutschlands Sonderrolle. Beim Völkermord an den Armeniern gab es nicht nur einen kollektiven Täter, sondern zwei: das jungtürkische Osmanische Reich – und das Deutsche. Auch Deutschland steht in Sachen Völkermord an den Armeniern vor dem Gericht der Geschichte (Völkermord verjährt nicht; und strafbar ist nach Artikel 3 der 48-er Genozid-Konvention auch die Beihilfe13). Was Deutschland in dieser Sache vorbringt, hat, wie immer das Wort eines Tatbeteiligten, größeres Gewicht als das Wort anderer. Schwerer wiegt somit auch, wenn Deutschland schweigt. Das tat und tut das offizielle Deutschland bisher sehr beredt.

Die Vernichtung der Armenier als Genozid entsprechend der UN-Völkermordkonvention von 1948 wurde, was Europas Länder angeht, anerkannt: von Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Schweden, der Schweiz und dem Vatikan – und jüngst von Polen; von Deutschland nicht. Nicht bisher.

Der am 21. April 05 dem Bundestag vorgelegte Resolutionsantrag der CDU/CSU, über den im Einvernehmen mit der Regierung erst nach Schröders Türkeireise im Mai abgestimmt werden soll, ist zweifellos ein ungeheurer Fortschritt.

Auch dieser Antrag ist freilich keine explizite Anerkennung des Völkermords als Völkermord. Das Schlüsselwort "Völkermord" bzw. "Genozid" kommt dort gar nicht vor. Schon aus logischen Gründen kommt er aber doch einer impliziten Anerkennung gleich. Alle für den Tatbestand des Völkermords laut UN-Konvention notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen sind als gegeben behandelt (vgl. oben I.1 und I.4). Warum wurde das damit Gemeinte (Völkertotschlag bzw., gleichbedeutend: Völkermord) nicht auch explizit gesagt?

Wie schon im Deutschen Reich aus Staatsraison?

Freilich: Auch die UN nennen nicht alle Völkermorde "Völkermorde". Das tun sie erst dann, wenn sie (bzw. der Sicherheitsrat) sich schon entschlossen haben, gegen diese auch etwas zu tun. Ist das der Hintergrund der Bundestagssprachregelung?

Tagesschau.de meldet am 21. April 2005): Armenien fordert klare deutsche Position. Das fordern zudem Abel, Karin, Anna - und ich auch. Und, wenn sie groß ist, gewiß auch unsre Freundin Karin.

(Was ich zum Thema Völkermord an den Armeniern weiß, das weiß ich großteils durch und über Jürgen Gispert, Leipzig. Wie schön, dass es an unseren Unis solche Kollegen gibt bzw., wenn sie Arbeit hätten, dort solche gäbe.)

Prof. Dr. Georg Meggle lehrt Philosophie an Universität Leipzig. Bei dem Artikel handelt es sich um den Text eines Vortrags, den er am Freitag, den 22. April 05, auf der Gedenkveranstaltung an den Völkermord an den Armeniern in der Bibliotheca Albertina der Universität Leipzig gehalten hat.