Was haben Fliegen mit Surfern gemeinsam?

Das Verhalten von Surfern als Informationssuchern aus der Sicht einer verhaltensbiologisch begründeten Theorie der Nahrungssuche

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Möglicherweise ist die Analogie, die schon McLuhan zwischen den Informationssammlern und den Nahrungssuchenden in den frühen Jäger- und Sammlergesellschaften gesehen hat, auch hilfreich zur Beschreibung des Verhaltens der Surfer. Zumindest meinen Wissenschaftler des Palo Alto Research Center (Parc) von Xerox, dass die Informationsjäger im Web genauso wie Tiere auf Nahrungssuche gehen und Kosten-Nutzen-Berechnungen zur Entscheidungsfindung ansetzen. Wie bei Ameisen spielen dabei "Informationsduftmarken" (information scents) eine Rolle.

In "Information Foraging", ein Artikel, der in der Psychological Review veröffentlicht wird, stellen Stuart Card und Peter Pirolli ihre Theorie der Informationssuche auf der Grundlage der in der Verhaltensbiologie entwickelten Theorie der Nahrungssuche vor. Menschen suchen, sammeln, teilen und konsumieren Informationen in einem weit höherem Maße als andere Organismen, weswegen man uns, so die Wissenschaftler, in Analogie zu Pflanzen- oder Fleischfressern als Informationsfresser bezeichnen könnte. Allerdings könnte die Suche nach Informationen im Web ja auch wieder direkt dazu führen, sich Lebensmittel zu bestellen. Der Informationssucher braucht im Gegensatz seinen Jäger- und Sammler-Vorfahren bloß die Höhle nicht mehr verlassen, weil er nicht in der Landschaft, sondern im virtuellen Raum auf die Suche geht, was mitunter mindestens so lange dauern kann.

Die Größe und die strukturelle Komplexität des Web machen aus ihm eine Wissensökologie mit Relationen, "Nahrungsketten" aus Informationen und die dynamischen Interaktionen, die bald so reichhaltig, wenn nicht reichhaltiger als natürliche Ökosysteme werden könnten.

Strong Regularities in World Wide Web Surfing, Huberman, Pirolli et. al.

Ähnlich wie bei der Nahrungssuche müssen im Hinblick auf die Ökonomie der Zeit und der Energie permanent strategische Entscheidungen getroffen werden, um den Nutzen zu maximieren. Um die für die Suche verwendeten Strategien zu verstehen und sie dann womöglich im Aufbau von Seiten oder Suchmaschinen gewinnbringend umzusetzen, haben die beiden Wissenschaftler die Informationssuche im Web in Analogie zu kognitiven Adaptionsmechanismen untersucht, wie sie Organismen bei der Suche nach Nahrung entwickeln. Da die Informationsumwelt für die Menschen auf explosive Weise komplexer wird, müssen sie, wenn Aufmerksamkeit und Zeit begrenzt sind, neue Anpassungsstrategien für eine optimale Suche nach nützlicher Information entwickeln (den Wert von Nahrung kann man "objektiv" in Energie umrechnen, bei Informationen ist die Bewertung freilich schon viel schwieriger). Dabei geht es etwa darum, wie man erkennt, ob es sich an einem Ort lohnt, weiter zu suchen, wie lange man sich dort aufhält, bevor man weiter geht, wie Informationen, die dort zu finden sind, bewertet werden. Die Informationssuche ist normalerweise kein Selbstzweck, sondern Teil einer größeren Aufgabe, aus der sich erst der Wert der Information oder die Wichtigkeit einer Informationsquelle ableiten lässt. Nicht jeder, der an einen Ort geht, hat, was in Sachen Information noch viel weitgehender zutrifft, dasselbe Ziel, was die Gestaltung einer Website als Falle schwierig macht.

Die Informationsumwelt im Web ist geprägt durch Informationsinseln (patches), d.h. von Websites, zwischen denen unterschiedlich lange Wege zurückzulegen sind und auch innerhalb derer Informationen gefunden werden können. Das ist so wie bei einem Vogel, der auf der Suche nach Beeren von einem Strauch zu einem anderen fliegt und bei einem Strauch die einzelnen Beeren abpickt, die auch hier wiederum an einzelnen Stellen dichter als an anderen hängen. Die Theorie der Nahrungssuche bietet Berechnungsmodelle für die Entscheidung ab, wann der Vogel, wenn die Nahrung an einem Ort abnimmt, in der Erwartung, woanders zu einem besseren Ausbeute zu kommen, zu einem anderen Ort fliegt. Für den Surfer besteht die Entscheidung in Analogie darin, wie lange er auf einer Website sucht, bevor er zu einer anderen geht. Die optimale Strategie besteht darin, dann weiter zu gehen, wenn die Ausbeute an einem Ort unter den Durchschnitt der gesamten Region sinkt. Die Frage ist nur, wie man das wissen kann. Teilweise sicher aus Erfahrung.

Für die Wissenschaftler kommen vornehmlich zwei Optimierungsstrategien in Betracht. Der Informationssucher kann einen Teil der Informationsumwelt zur Minimierung der Suchkosten abändern, beispielsweise durch die Verwendung von Filtern für die Mails oder durch die Verbesserung der Angaben bei der Benutzung einer Suchmaschine. Die andere Strategie ist die Bewertung von Informationsquellen aufgrund der (stets unvollständigen) Wahrnehmung von Zeichen. Die Wissenschaftler nennen dies in Analogie zum kollektiven Nahrungssuchverhalten bei Ameisen das Verfolgen von Duftspuren (information scents). Je "stärker" die Duftspuren sind, desto eher würde es sich lohnen, noch an demselben Ort in bestimmten Richtungen weiter zu suchen, anstatt zufällig zu suchen. Solche Duftspuren könnten etwa in Form von Abstracts, Inhaltsangaben, viele Links zu anderen Seiten auf derselben Site vorliegen. Ähnliche Informationen, so die Vorstellung, haben in Bezug auf ein bestimmtes Ziel auch eine größere Affinität und können daher Schritt für Schritt über entsprechende Selektion durch eine Kette von größer werdenden Ähnlichkeiten zu diesem führen.

Die Duftmarken von Websites

Um das Informationssuchverhalten näher zu aus der Perspektive der Nahrungssuche zu analysieren, haben die Wissenschaftler empirische Beobachtungen durchgeführt und ein Simulationsmodell entwickelt. Vorgestellt haben Card, Pirolli und Kollegen bereits ein Auswertungsverfahren von Web-Protokollen, um das Verhalten eines Surfers im Detail festhalten und mit dem anderer vergleichen zu können ("Information Scent as a Driver of Web Behavior Graphs: Results of a Protocol Analysis Method for Web Usability"). Ziel ist, genaue Modelle aus den von Moment zu Moment folgenden Entscheidungen des Surfers zu entwickeln, um etwa erkennen zu können, wie sich im Prozess des Suchens Ziele herausbilden, oder wie Menschen die Inhalte von Webseiten wahrnehmen und verarbeiten.

Die Wissenschaftler haben mit ihrem Verfahren das Verhalten von 14 Stanford-Studenten untersucht, die das Webtäglich benutzen und bei denen man die Bewegung der Augen aufzeichnen konnte. Den Studenten wurde die Aufgabe erklärt, und sie wurden angewiesen, dabei möglichst alle Denkvorgänge laut zu äußern. Sie sollten die Suche wie gewohnt durchführen, allerdings nur mit einem geöffneten Browserfenster. Mit dem Programm WebLogger wurden Tastenanschläge, Mausbewegungen, Benutzung der Browserbuttons, Aktionen von Browserapplikationen und alle besuchten Webseiten aufgezeichnet. Mit dem Eye Tracker wurde aufgezeichnet, wohin sich auf einer Webseite die Augen bewegen, und mit der Videokamera das Bild auf dem Bildschirm und die kommentierenden Äußerungen. Untersucht wurden dabei die Entscheidungen in den Problemräumen URL (Tippen einer URL in das Adressfenster eines Browsers - Bookmarks wurden nicht berücksichtigt), Link (Klicken auf einen Text- oder Bildlink oder Benutzung der Zurücktaste), Suchwort (Worteingaben und Suchausgaben bei Suchmaschinen) und visuelle Suche (welche Punkte werden bei visuellen Objekten angeschaut, Scrollen).

Eine Suche besteht normalerweise darin, eine bestimmte Website aufzurufen (beispielsweise eine Suchmaschine) und mehrere der obigen Problemräume zu durchlaufen. Bestätigt seien durch die Beobachtung der Versuchspersonen zwei Phänomene des Suchverhaltens geworden: die Neigung, die Auswahl der Links augrund einer Informationsduftspur von Links zu treffen (Äußerungen wie: "Das sieht ganz vielversprechend aus", "Das ist genau, was ich wollte", oder "Hier ist nichts"), sowie die Neigung, zu einer anderen Website oder Suchmaschine zu gehen, wenn der "information scent" niedriger wird. Normalerweise folgen die Benutzer einer Site (kein Portal und keine Suchmaschine) drei oder mehr Links, bis sie zu einer anderen Site, einem Portal oder einer Suchmaschine wechseln. Kommt man auf eine Site, ist der "information scent" erst einmal hoch, fällt er nach einigen internen Schritten, wird die Site gewechselt. Der Benutzer, so die Interpretation, schätzt dabei die möglichen Erfolge bei der Suche auf einer Site auf der Grundlage des "information scent" ab, solange dieser über einer bestimmten Schwelle liegt.

Dabei verhalten sich Surfer auf Informationssuche ähnlich wie Fliegen, meinen die Wissenschaftler, wenn man das Verhalten von Hausfliegen in der Nähe von Nahrung im Hinblick auf die Menge der Rückflüge und die Fluggeschwindigkeit analysiert. Je mehr Zeit vergangen ist, seitdem die Fliege etwas Brauchbares zum Fressen gefunden hat, desto weniger oft fliegt sie zurück und desto schneller fliegt sie, was ihre Suche weiter weg führt.

Der virtuelle Informationssucher basiert auf der Kognitionstheorie ACT (Adaptice Character of Thought) von John Anderson. Für das Computermodell ACT-IF wurde eine Datenbank mit mehr als 740000 Dokumenten aus Zeitungen oder von Behörden verwendet, die mit dem Programm "Scatter/Gather" durchsucht und aufbereitet werden. Das Programm vollzieht eine Volltextsuche und trägt jedes Dokument, in dem ähnliche Begriffe vorkommen, in eine von 10 Gruppen ein. Der Benutzer kann dann eine oder mehrere Gruppen auswählen, um den nächsten Verteilprozess starten, bis er die Dokumentenmenge so weit eingeengt hat, dass er die gesammelten Texte dann direkt liest.

Um den schnellsten Weg zur gesuchten Menge zu finden, arbeiteten sich die beiden Wissenschaftler mit dem Programm vom Ergebnis rückwärts zur Ausgangsmenge. Das zu dieser Aufgabe veränderte Programm, das jeweils einzelne Nutzer mit bestimmten Zielvorgaben, die jeweils mit den gefundenen Mengen abgeglichen werden, modelliert, konnte mit den Dokumenten der Datenbank ohne große Probleme die optimale Route finden. Eine vergleichbare Aufgabe wurde anschließend auch 8 Studenten Versuchspersonen gestellt, die das kostenlos oder gegen Bezahlung von 10 Dollar pro Stunde erledigten. Sie mussten aus einer Datenbank mit 2,2 Gigabyte an Texten die Artikel heraussuchen, die für bestimmte Fragestellungen wichtig sind. Nach den in jeder Gruppe angegebenen Titeln mussten die Entscheidungen für die Auswahl der Gruppen getroffen werden. Eine Gruppe hatte die Aufgabe in der Zeit von einer Stunde zu erledigen, die andere Gruppe musste hingegen ihre jeweiligen Entscheidungen auf Fragebögen begründen und schätzen, wie viele Texte in einer Gruppe wichtig sein könnten. Daraus kann man die Kriterien für den "information scent" entwickeln. Die menschlichen Versuchspersonen waren ähnlich erfolgreich darin, auf möglichst kurzem Weg zu dem verlangten Ziel zu kommen.

Optimierung der Suche oder Fallen für den Surfer?

Ganz ähnlich erfolgt auch die Suche in der Datenbank des Web. Und die Umsetzung einer Theorie der Informationssuche geht natürlich letztlich dahin, Webseiten so mit den "Geruchsmarken" auszustatten, dass die Surfer versucht sind, darauf weiter herumzusuchen, weil sie meinen, hier gäbe es genügend erfolgversprechende Hinweise. Eigentlich sollen also Fallen gebaut werden, die klebrig sind, was wiederum mit der Aufmerksamkeitsökonomie zu tun hat. Man könnte aus der genauen und verallgemeinerbaren Kenntnis des Suchverhaltens heraus, die Eingangsseite einer Website so aufbauen, dass sie die Surfer ähnlich wie eine Pflanzenblüte eine Biene anlockt und hält. Pirolli und Card sehen daher ihr Modell nicht nur aus der Perspektive des Surfers, der seinen Pfad optimiert, sondern auch aus der des Fallenstellers. Dabei verweisen sie auf die Theorie der Meme, wie sie von Richard Dawkins oder Daniel Dennett entwickelt wurde. Meme, also Informationen, suchen aus dieser Perspektive zum Überleben nach Menschen, in die sie sich einnisten. So haben die beiden Wissenschaftler auch in früheren Untersuchungen belegen können, dass die Überlebensrate von Websites mit der Menge und der Art der Besucher zusammen hängt.

Allerdings arten die Strategien der Informationssucher und Fallensteller manchmal auch in ein Wettrüsten wie zwischen Jäger und Beute aus. Oder aber es geht darum, auch eine in der Evolution exzessiv benutzte Strategie, die Erwartungen von anderen für den eigenen Profit durch Täuschungen auszutricksen. Normalerweise aber sollten im Fall des Web beide Parteien, die eher in einem wechselseitigen Parasit-Wirts-Verhältnis stehen, etwas voneinander haben, weil ansonsten keine längerfristige Bindung entstehen würde. "Wir entwickeln Technologien", so auch Pirolli, "um Designern zu helfen, Seiten so zu gestalten, dass sie gute Informationsduftmarken abgeben, die es den Besuchern ermöglichen, die von ihnen gewünschten Informationen und den Weg, um zu ihnen zu gelangen, zu finden." Sein Kollege Card macht jedoch deutlich, dass die Theorie der Informationssuche natürlich auch anders eingesetzt werden könnte, sofern sie sich tatsächlich praktisch in Gestaltungsprinzipien umsetzen lassen sollte: "Die Interessen des Verkäufers müssen nicht mit denen des Suchenden übereinstimmen. Sie können Informationen verkleiden, um sie zu verbergen oder um etwas vorzuspiegeln, was der Besucher wünscht. Bannerwerbung, besonders wenn sie vorgetäuschte Tasten enthält, ist ein Beispiel."

Doch wahrscheinlich sind die Kosten-Nutzen-Relationen bei den einzelnen Informationssuchern so unterschiedlich, dass sich höchstens vorübergehend einmal ein erfolgreicher Trend beim Fallenstellen durchsetzen kann. Wäre das anders, gäbe es auch die perfekte Werbung, die jeden zu jeder Zeit anspricht. Überdies nutzen sich Aufmerksamkeitsfallen durch Gewöhnung ab, bleibt das Wettrüsten zumal in einer Informationsumgebung dynamisch.