Was ist schon ein Trauma?

Kritik am Bericht des Auswärtigen Amt über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Türkei

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Flüchtlingsinitiativen und Menschenrechtsorganisationen befürchten verstärkt Abschiebungen von psychisch kranken Flüchtlingen in die Türkei. Der aktuelle Bericht des Auswärtigen Amtes (AA) "über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Türkei" stellt fest, traumatisierte Folteropfer können dort nun fachärztlich betreut werden. Der letzte Lagebericht ging noch von fehlenden Behandlungsmöglichkeiten aus. Daher wurden Traumatisierte aus humanitären Gründen selten abgeschoben - falls die Ärzte deren Erkrankung anerkannten.

Ein spezieller Anhang des "nur für den Dienstgebrauch" bestimmten Lageberichts des AA vom Juni letzten Jahres erklärte: "Dauereinrichtungen für psychisch kranke Erwachsene, seien es offene oder geschlossene Psychiatrien (...) oder betreute Wohneinheiten (...), sind nicht vorhanden." Zwar hätten sich Stiftungen gegründet, "die bestehenden Mängel abzubauen", aber deren Arbeit leide "unter finanzieller Einschränkungen", da sie keine staatlichen Fördergelder erhielten. "Traumatisierte Menschen, vergewaltigte Frauen, Menschen mit Angsttrauma nach Misshandlungen, stark selbstmordgefährdete Menschen" befänden sich in der Türkei in einer Situation "fast völliger Ausweglosigkeit", so das AA im Juni 2000 in der 8-seitigen Anlage.

Im aktuellen Bericht von Juli 2001 - beide "streng vertraulichen" Papiere liegen Telepolis vor - fehlt der Anhang. Lediglich zwei vertiefende Sätze finden sich zum Thema: "Die Behandlung psychisch kranker Menschen ist in allen Krankenhäusern mit einer psychiatrischen Abteilung möglich. Die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen kann durch medikamentöse und psychotherapeutische Therapien erfolgen."

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen kommentiert diese "Kehrtwende" als möglichen "politisch motivierten Versuch, die Gewährung von Abschiebehindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG einzuschränken. Angesichts der Tatsache, dass Ärzte, die in der Türkei Folteropfer behandeln, permanent unter Druck gesetzt werden (von den türkischen Behörden; mk) und nur unter erschwerten Bedingungen arbeiten können und die Arbeit des Folteropferzentrums TIHV regelmäßig blockiert wird, mutet die Einschätzung des AA geradezu zynisch an."

Die Lageberichte des AA dienen dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, den Innenbehörden der Bundesländer und den Verwaltungsgerichten als Entscheidungshilfe, ob im Heimatland eines Flüchtlings asylrelevante Verfolgung stattfindet oder ob es andere Gründe für die Duldung eines Asylsuchenden gibt. Die Berichte beruhen auf Erkenntnissen der Auslandsvertretungen und Nichtregierungsorganisationen, zur Illustration der allgemeinen Menschenrechtslage werden Einzelfälle abgelehnter und abgeschobener Asylbewerber dokumentiert.

Flüchtlingsinitiativen werfen dem AA, gerade wenn es um den Lagebericht über den Nato-Partner Türkei geht, einen "diplomatisch zurückhaltenden" Ton vor. Die dokumentierten Abschiebefälle sind für Menschenrechtorganisationen wie Pro Asyl mangelhaft recherchiert. Der Aachener Unterstützerkreis des nordrhein-westfälischen Wanderkirchenasyl (WKA) beanstandet am aktuellen Lagebericht zudem, dass das AA ganz konkret den "einseitig" dargestellten Fall des im Oktober letzten Jahres abgeschobenen Hüseyin Calhan als "Legitimation" für weitere Abschiebungen "missbraucht".

Der heute 28-Jährige war nach wochenlanger Abschiebehaft in der Justizvollzugsanstalt in Büren abgeschoben worden. Vor seiner Flucht 1995 aus der Türkei hatte der Kurde versucht, sich dem Militärdienst zu entziehen, war inhaftiert, misshandelt und gefoltert worden. Sein Asylantrag wurde zweimal abgelehnt, schließlich ging er als "Illegaler" ins Kirchenasyl und erhielt 1999 mit dem WKA - die Flüchtlinge wanderten zwischen einzelnen katholischen und evangelischen Gemeinden - den Aachener Friedenspreis. Fünf Gutachten von Fachärzten attestieren Calhan eine posttraumatische Störung und hohe Suizidgefährdung.

Lebte der Kurde anfangs in billigen Hotels, ist er nun bei einer Bekannten in Istanbul untergekommen. An der latenten Suizidgefahr, so Andrea Genten, Flüchtlingsbeauftragte des Bistum Aachen gegenüber Telepolis, habe sich nichts geändert. Calhan schrieb ihr kürzlich: "Ihr macht mir viel Mut, mein Leben nicht aufzugeben." Betreuer und Freunde besuchen den Kurden regelmäßig und unterstützen ihn finanziell. Aus Angst vor den Behörden kann er keine reguläre Arbeit aufnehmen. Laut Genten leidet er unter psychosomatischen Störungen, findet aber selbst in der Großstadt keine fachärztliche Betreuung.

Zu all diesen Ausführungen schweigt sich das AA in seinem Bericht aus. Verschiedene Flüchtlingsinitiativen glauben vielmehr, dass AA nutze die Abschiebung von Calhan und eines weiteren Kurden, um darzustellen, dass beiden keine staatlichen Repressionen in der Türkei drohe. Beide waren nämlich "exilpolitisch" tätig als Sprecher des WKA, welches bei den türkischen Behörden als von der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK initiiert gilt. Der Flüchtlingsrat Niedersachsen kritisiert deswegen die neu im Bericht genannten Abschiebefälle von Hüseyin Calhan und Mehmet K. "als ziemlich durchsichtig: Als Präzedenzfälle für die angebliche Gefahrlosigkeit einer Abschiebung von WKA-Teilnehmern."

Ausschlaggebend für Calhans Abschiebung nach seiner eher zufälligen Festnahme durch Beamte des Bundesgrenzschutz war ein amtsärztliches Gutachten. Der Leiter des Gesundheitsamt Paderborn, Peter Eicker, hatte seinem Patienten nach dessen Hungerstreik Reisefähigkeit attestiert und angemerkt, der Kurde sei mit Schlägen "quasi aufgewachsen" und sie "gewohnt gewesen". Der weitere Lebenslauf habe gezeigt, "dass er darunter nie nachträglich gelitten hat", eine posttraumatische Störung und Suizidgefahr lägen nicht vor. Die Kieler Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Helga Spranger, befand später in einem ausführlichen Gegengutachten, Eickers "Stellungnahme" sei "aus fachärztlicher Sicht nicht verwertbar" (vgl. hierzu Streit um Calhans ärztliches Gutachten).

Kurz darauf kritisierten auch Hans Wolfgang Gierlichs und 15 weitere Psychotherapeuten und Trauma-Spezialisten den Amtsarzt, er habe die "ethischen Richtlinien seines Berufsstandes verletzt" und Dank seiner Kurzdiagnose die Abschiebung eines Menschen befürwortet, dem "zuvor unabhängig fachlich qualifizierte Vollgutachten" Selbstmordgefahr und Traumatisierung attestierten (siehe Gierlichs' Beitrag in der Fachpublikation Dr. med. Mabuse). Der Psychoanalytiker initiierte daraufhin den Aachener Appell, dem sich im Frühjahr rund 450 Fachärzte, Institute und Fachverbände anschlossen, die verbindliche Richtlinien zur Untersuchung seelisch traumatisierter Flüchtlinge forderten (vgl. hierzu Was ist schon ein Trauma?).

Der aktuelle Lagebericht des AA könnte diese Forderung nach einer humanitären Vorgehensweise im Asylrecht wieder bremsen - zumindest mit Blick auf die Türkei. Der von der Politik derzeit inflationär geforderten Abschiebung von "Verfassungsfeinden" und "Extremisten" liefert der Bericht darüber hinaus eine Steilvorlage. Da das Wanderkirchenasyl laut türkischer Behörden von der "Terrorgruppe" PKK unterwandert ist, gäbe es keinen Grund mehr, ein Kirchenasyl nicht durch Polizeikräfte räumen zu lassen und die Flüchtlinge abzuschieben. Immerhin beobachtet auch der Deutsche Verfassungsschutz die PKK.