Was können wir von Kabul lernen?

Die Reurbanisierung von Kabul durch die internationale Helfergemeinschaft

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Für mehr als 25 Jahre herrschte mit nur kurzen Unterbrechungen Krieg in Afghanistan. Millionen von Afghanen flüchteten in die Nachbarländer oder, wenn sie es sich leisten konnten, nach Nordamerika oder Europa. Die Folgen der andauernden Kriegshandlungen waren für Kabul verheerend – als die US-Truppen 2001 einmarschierten, war weit über die Hälfte der Stadtstruktur zerstört. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte faktisch keine Stadtplanung stattgefunden, hatte man über eine Steuerung der Stadtentwicklung nicht nachgedacht.

Ansicht von Kabul (2007). Bild: Joe Burger/CC-Lizenz: Attribution-Share Alike, 2.0 Generic

Erst mit der Einsetzung einer Übergangsregierung unter Präsident Hamid Karzai (die im September 2005 durch Parlamentswahlen demokratisch legitimiert wurde) und den massiven finanziellen Zuwendungen der internationalen Staatengemeinschaft änderte sich die Lage: Es wurde massiv in den Wiederaufbau der städtischen Verkehrs-, Wohn- und Versorgungsinfrastruktur investiert, zugleich sollten institutionelle Strukturen etabliert werden, um diesen Prozess zu steuern.

Aber die weitere Entwicklung überrollte diese wichtigen und notwendigen Vorhaben, denn Kabul verdreifachte seine Bewohnerzahl von 2000 bis 2005, von ursprünglich etwa 1 Million auf geschätzte 3,5 Millionen Einwohner. Insbesondere der Iran und Pakistan drängten auf eine Repatriierung der Millionen afghanischer Flüchtlinge, die entgegen den Erwartungen der internationalen Staatengemeinschaft und des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) weder in die eigens eingerichteten Flüchtlingslager auf afghanischer Seite noch in ihre Heimatprovinzen zurückkehrten, sondern zumeist in die Städte Herat und Kabul strömten, wo sie sich eine größere Sicherheit und bessere Zukunftsperspektiven versprachen.1

Entsprechend trostlos erscheint Kabul heute, trotz des Aufbaus von Krankenhäusern und Schulen, der Reparatur und Einrichtung neuer Wasserversorgungsstellen, des Minenbeseitigungsprogramms und anderer wichtiger Wiederaufbaumaßnahmen. Endlos breiten sich die von den Migranten in Selbsthilfe errichteten illegalen Wohnsiedlungen in die Stadt hinein und die Hänge der sie umgebenden Berge hinauf aus, meist in der traditionellen, kostengünstigen Lehmbauweise oder, wenn die notwendigen Mittel verfügbar waren, als Betonkonstruktionen. Daneben werden die leerstehenden Kriegsruinen, so sie von Minen befreit sind, ebenso besetzt wie übrig gebliebene mehrgeschossige Stahlbetonskelette, und es finden sich vereinzelt immer noch Zeltlager des UNHCR.

Informelle Siedlung am Rand Kabuls. Bild: Akmal Dawi/IRIN

Über die Hälfte der Stadtstruktur besteht aus diesen informellen Siedlungen, die drei Vierteln der Stadtbevölkerung Wohnraum bieten. Neben diesen mit Wasser und Strom weitgehend unterversorgten Gebieten existiert eine Parallelwelt: mehrgeschossige Geschäftshäuser mit blauen oder grünen Spiegelglasscheiben im "Dubai-Stil" oder auch eine Shoppingmall, riesige Betonvillen hinter mit Stacheldraht bewehrten Mauern, deren Gestaltung sich durch einen viktorianisch-pakistanisch-römischen Freistil auszeichnet, die "Compounds", durch hohe Mauern abgegrenzte und wegen der angespannten Sicherheitslage schwer bewachte Dienst- und Wohngebäude der UN und verschiedener internationaler Hilfsorganisationen, sowie Geschäfte und zahlreiche Restaurants, die speziell auf das ausländische Klientel zugeschnitten sind.

Die "internationale Blase"

Der afghanische Staatshaushalt besteht fast ausschließlich aus finanziellen Zuwendungen der internationalen Gemeinschaft, und die afghanische Regierung darf zudem nur eingeschränkt über diese Gelder verfügen – was mit den unzureichenden institutionellen Strukturen und der Korruption begründet wird. Allerdings hat die internationale Gemeinschaft keine kohärente Strategie für Afghanistan, oftmals widersprechen sich die Interessen und Strategien der einzelnen Gebernationen. Da der afghanische Staat nicht in der Lage ist, die Grundversorgung zu gewährleisten, sind es vor allem die internationalen Nichtregierungsorganisationen ("NGOs") und die zuständigen Abteilungen der Vereinten Nationen, die die notwendigsten infrastrukturellen Vorhaben durchführen.

Dass die Beziehungen zwischen internationalen Organisationen, staatlichen Institutionen und lokaler Bevölkerung konfliktreich sind, wird besonders in Postkonfliktsituationen deutlich, wie das Beispiel Kabul zeigt.2 Es ist eine geschäftige Welt, die aus der neuen afghanischen Elite von Kriegsgewinnlern, gut ausgebildeten Rückkehrern aus den westlichen Ländern und vermögenden Geschäftsleuten einerseits und ausländischen Investoren, kosmopolitisch eingestellten NGO-Mitarbeitern und den aus aller Herren Länder stammenden UN-Experten andererseits besteht.3 Es ist die Welt der weißen Toyota Land Cruiser, des bevorzugten Fortbewegungsmittels der "Internationals", und die Akronyme auf den Türen rezitieren das Mantra dieser neuen Form der "Governance": UN, UNESCO, UNDP, UNHCR, IOM, FAO, MSF, ACF, MACA, IRC, WFP … Zu ihr gehören Fahrer und Bedienstete, und natürlich Übersetzer, denn die meisten Internationals sind erst seit Kurzem in Afghanistan und mit Sprache und Kultur kaum vertraut.

Kabul ist der Tummelplatz von über 1000 registrierten internationalen und nationalen NGOs. Es gibt nahezu keine Koordination für die zahlreichen Projekte internationaler Hilfsorganisationen, und diese stehen unter einem hohen Zeitdruck, Vorzeigeprojekte fertigzustellen, die ihre Arbeit rechtfertigen – in einem völlig rechtsfreien Raum. Zudem wird es meist überhaupt nicht in Betracht gezogen, die im Aufbau befindlichen zuständigen staatlichen Organe zu konsultieren. Allenfalls vermeidet man tunlichst Interessenkonflikte mit der Baumafia, zu der auch Regierungsautoritäten wie ehemalige Warlords gerechnet werden.

Zehntausende von UN-Mitarbeitern, NGO-Vertretern und mehrheitlich ausländischen Unternehmensangestellten sind an den Wiederaufbauprojekten in Kabul beteiligt. Die Stadt ist geteilt in "wir" und "die", wobei nicht mehr die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation darüber bestimmt, wer wohin gehört. "Wir", das ist die kosmopolitische Gemeinschaft gleichgesinnter, gut ausgebildeter Experten, die für die Vereinten Nationen, eine der internationalen Organisationen oder für ausländische Investoren arbeiten (und zu der selbstverständlich auch Afghanen mit entsprechenden Fähigkeiten gehören). Oder "wir" bezeichnet umgekehrt die davon Ausgeschlossenen, die sich aber weniger einer nationalen afghanischen Identität verpflichtet sehen als vielmehr als Teil einer bestimmten ethnischen Gemeinschaft – die Stadt ist auch gespalten entlang der unterschiedlichen afghanischen Ethnien. Auch diese sind dank der neuen Kommunikationsmöglichkeiten in dem Maße internationalisiert, in dem sie mit den in der Diaspora – in Europa, Nordamerika oder den Golfstaaten, lebende – und arbeitenden Verwandten verbunden sind, von deren Geldüberweisungen sie in erheblichem Maße abhängen.

In den Slums gibt es weder Elektrizität noch Trinkwasser oder Kanalisation. Bild: Akmal Dawi/IRIN

In Kabul manifestiert sich eine neue Form globaler Herrschaftsverhältnisse, wie sie Mary Kaldor als "The New Divide" beschrieben hat: auf der einen Seite mittellose Migranten, die ihren Ort in ethnischen Gemeinschaften finden und sich auf der Suche nach einem besseren Leben über die ganze Welt verteilen, auf der anderen Seite die Weltbürger und die mit ihnen verbundene nationale, zumeist im Ausland ausgebildete Elite mit ihren Sicherheitskräften.4

Diese Spaltung drückt sich räumlich in unterschiedlichen Formen aus. Einen erheblichen Einfluss auf die stadträumliche Struktur haben die Präsenz der US-Truppen und deren militärische Unterstützung durch die International Security Assistance Force (ISAF). Neben den Militärcamps am Stadtrand und der aus Sicherheitsgründen weiträumig abgesperrten US-Botschaft lagert sich ein abgeschotteter, nur schwer zugänglicher translokaler Arbeits-, Lebens- und Wohnbereich in die Stadt Kabul ein, der auf die Bedürfnisse der Ausländer, der "Expats", und der neureichen afghanischen Elite ausgerichtet ist. Mit verheerenden Auswirkungen auf dem Wohnungsmarkt: Die hohe Nachfrage in den weitgehend intakten Villenvierteln wie Wazir Akbar Khan oder Qala-e-Fatullah hat angesichts des ohnehin knappen Wohnraums zu einem sprunghaften Anstieg der Mieten geführt. Selbst in den nach sowjetischen Planungsprinzipien errichteten und besonders bei Regierungsangestellten beliebten Mikrorayons werden für eine Plattenbauwohnung mehrere hundert US-Dollar monatlich Miete gezahlt – der Durchschnittsverdienst eines Regierungsangestellten liegt bei 50 US-Dollar.

Außerdem finden sich zahlreiche Restaurants, die hinter hohen Mauern verborgen sind; die traditionelle Hofhausbauweise mit ihrer Innenorientierung und ihrer Abgrenzung nach außen kommt hier den Sicherheitsbedürfnissen entgegen. Mit Kalaschnikows bewaffnete private Wachleute sorgen dafür, dass nur Ausländer und ausgewählte afghanische Gäste Zutritt erhalten. Was sonst noch an kulturellen Ereignissen und Freizeitaktivitäten in der Stadt stattfindet, erfährt die internationale Gemeinschaft aus dem englischsprachigen Afghan Scene Magazine, in dem sich auch Anzeigen amerikanischer Firmen finden, die ein komplettes Facility Management bei der Errichtung von Compounds, lagerähnlichen überwachten Arbeits- und Wohnstätten mit eigener Energieversorgung, anbieten. Von dieser Welt sieht der normale Kabuler Stadtbewohner nur die zahlreichen in ihren Geländewagen umherfahrenden Ausländer, die er allenfalls einmal in einer der Geschäftsstraßen zu Fuß antrifft.

Kabul ist prototypisch für die Stadtentwicklung in Nachkriegssituationen (wenn man für Afghanistan überhaupt davon sprechen kann, dass der Konflikt schon beendet sei): ein massenhafter Zuzug von Landmigranten und zurückgekehrten Flüchtlingen in eine weitgehend zerstörte Stadt mit der Folge eines aus der Not heraus unregulierten flächengreifenden Baugeschehens, ein Hochschnellen der Bodenwerte und das Entstehen einer Baumafia, da auf dem weitgehend unkontrollierten Immobilienmarkt sehr schnell hohe Gewinne erzielt werden können – insbesondere durch die herbeiströmenden internationalen Organisationen mit ihren besonderen Ansprüchen an Wohn- und Lebensqualität und Sicherheit.

Diese wiederum stehen unter einem so hohen Zeitdruck, die Erwartungen ihrer Auftraggeber zu erfüllen, und sind mit der Lösung so drängender Probleme konfrontiert, dass ungewollte Nebeneffekte in Kauf genommen werden und über eine nachhaltige Strategie bei der Implementierung der eigenen Infrastruktur nicht nachgedacht wird. An dieser Stelle setzte das Bauhaus-Kolleg an, indem es Strukturen und Strategien diskutierte, die stärker kontextualisiert sind – ohne die notwendigen Sicherheitsanforderungen außer Acht zu lassen – und die auch nach Abzug der internationalen Organisationen noch tragfähig wären.

Der Beitrag ist dem Band UN Urbanismus. Post-conflict Cities Mostar Kabul entnommen, der von Regina Bittner/Wilfried Hackenbroich/Kai Vöckler herausgegeben wurde und im Rahmen des gleichnamigen Bauhaus-Kollegs erschienen ist. Jovis Verlag, 224 Seiten, deutsch/englisch, 29,80.

Staatenloser Urbanismus oder "Good Governance"?

Wie das Beispiel Kabul zeigt, finden Architektur und Städtebau in Postkonfliktsituationen ihr Arbeitsfeld in einem politischen und ökonomischen Gefüge, dass in immer stärkerem Maße internationalisiert ist. Dabei kommt den raumgestaltenden Disziplinen die Aufgabe zu, neue Planungsformen zu entwickeln, die in diesem neu entstandenen Raum- und Machtgefüge eine über die Gestaltung von Räumen hinausweisende Perspektive eines "besseren Lebens" bieten können.5 Das verlangt eine Neupositionierung von Planung und die Diskussion von Planungsstrategien.

Die zahlreichen Weltkonferenzen seit den 1990er Jahren, die Welt-Umwelt-Konferenz in Rio de Janeiro 1992, HABITAT II in Istanbul 1996 und URBAN 21 in Berlin 2000, haben Planung im Sinne der Beeinflussung und Steuerung von gesellschaftlichen Prozessen wieder rehabilitiert. Diese als "Good Governance" bezeichnete Strategie adressierte direkt die städtischen Agglomerationsräume als die eigentlichen Drehpunkte gesellschaftlicher Transformation und trug damit einer Entwicklung Rechnung, die in den letzten zwei Jahrzehnten immer deutlicher sichtbar wurde: Mit der signifikanten Ausweitung von grenzüberschreitenden Austauschprozessen entstanden supranationale Strukturen, die Ausdruck der neuartigen Beziehungen des Lokalen zum Globalen sind.

Dabei hat sich oberhalb des Nationalstaats ein dichtes Geflecht von internationalen Institutionen und transnationalen Nichtregierungsorganisationen gebildet, zwischen denen und durch die vorrangig die Formulierung von Politiken erfolgt – die allerdings immer noch durch die Nationalstaaten umgesetzt werden. Denn obwohl das nationalstaatliche Konzept offensichtlich an seine Grenzen stößt, da sich die gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge nicht mehr auf einen Raum beschränken, der mit dem nationalstaatlichen Territorium zusammenfällt, bedarf es doch immer noch des "efficient state", um Politik umzusetzen. Aber gerade auf lokaler Ebene manifestiert sich ein zentraler Widerspruch dieses neuen Raumregimes – die Bedeutung städtischer Politik nimmt einerseits zu, andererseits wird ihr Spielraum wesentlich von globalen Mechanismen bestimmt, auf die sie wenig Einfluss hat. In besonderem Maße gilt das für Länder wie Afghanistan, wo staatliche Strukturen außerordentlich schwach ausgebildet sind.

Damit geht ein tiefgreifender Wandel von Staatlichkeit und damit auch von Planung einher: Es ist nicht mehr der hierarchische und zentralistische Staat, der das Zentrum der Politik bildet und der im Sinne des "comprehensive planning" Entwicklungen steuert. Stattdessen differenziert sich staatliches Handeln auf verschiedenen räumlichen Ebenen aus. Dabei werden zunehmend nichtstaatliche Akteure in Entscheidungs- und Implementierungsprozesse involviert, worauf der "Governance"-Begriff zielt, verstanden als die Summe aller möglichen Wege, wie öffentliche und private Institutionen und Organisationen in einem kontinuierlichen Prozess ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln, um auf diese Weise zu einem Interessenausgleich zu kommen und kooperatives Handeln zu ermöglichen.6

In diesem Gefüge sind allerdings Machtverhältnisse wirksam, denen [unsere?] besondere Aufmerksamkeit gilt. Architektur und Städtebau haben als Disziplinen nur eine Perspektive, wenn sie sich als Teil dieser übergreifenden Politiken, also von "Governance", begreifen.7

Bild: Obinna Anyadike/IRIN

Für eine Planung, die sich in diesem Sinne auch als politisches Projekt versteht, ergeben sich grundlegende Prinzipien. Sie ist strategisch insofern, als sie auf unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle Kontexte reagieren muss und hier zwischen den besonderen Bedürfnissen einzelner gesellschaftlicher Gruppen und dem internationalen Machtgefüge und seinen Wirkungsmechanismen vermittelt. Sie muss aber auch kooperativ sein, indem sie unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren neue Kontexte bereitstellt, ihnen Handlungsräume eröffnet, die über lokale (und nationale) Zusammenhänge hinausreichen.

In diesem Sinne müssen Planungen kommunikativ sein, weil sich nur über dialogische Strukturen Akteure mobilisieren lassen. Dieser Dialog ist aber nicht nur lokal, sondern auch international zu führen. Planung ist in dem neuen "Governance"-Gefüge "advocacy planning", sie bedient sich unterschiedlicher Empowerment-Strategien, um Entwicklungen zu ermöglichen oder zu beeinflussen. In dem konfliktreichen Gefüge einer wesentlich international formulierten Politik, die sich durch staatliche Strukturen lokalisiert, eines globalisierten Marktgeschehens und der Zivilgesellschaft kann sie neue Formen kooperativen und kommunikativen Planens entwickeln, die insbesondere die zumeist schwachen zivilgesellschaftlichen Kräfte unterstützen, indem sie sie stärker in die internationalen Kontexte einbinden.8 Dabei ist ihre Positionierung von entscheidender Bedeutung, denn die Planung hat nach beiden Seiten, zu den staatlichen Institutionen wie zur Zivilgesellschaft hin, Beziehungen zu entwickeln, zugleich aber auch unterschiedliche, internationale wie lokale räumliche Ebenen einzubeziehen.

Planen in verunsicherten Städten - Ausblick auf eine urbanistische Postkonfliktstrategie

Städte, die sich in der Umbruchphase nach einem Konflikt befinden, haben immer wiederkehrende, vergleichbare Probleme. Im staatlichen Machtvakuum und durch fehlende zivilgesellschaftliche Selbstkontrolle entfalten sich unkontrolliert Kräfte, die das urbane Gefüge der Städte nachhaltig schädigen. Es ist daher notwendig, die bisher angewandten Hilfs- und Planungsstrategien zu hinterfragen und die Diskussion über mögliche Alternativen zu intensivieren. Einige wesentliche Fragestellungen werden hier skizziert.9

Urbane Vison

In Bezug auf die Stadtentwicklung in Kabul erscheint es als problematisch, dass zwar bei Konferenzen auf hohem Niveau neueste Planungsstrategien und Partizipationsverfahren diskutiert werden, aber offensichtlich sowohl UN-Habitat als der zuständigen Abteilung der Vereinten Nationen wie auch den anderen internationalen Organisationen eine urbane Vision fehlt.10

Allzu sehr gilt das Augenmerk den zweifellos gewaltigen praktischen Problemen des Wiederaufbaus. Die Vision der lokalen Planer beschränkt sich auf die Rekonstruktion des historischen Stadtkerns (das entspricht auch der Intention der Aga Khan Stiftung, das islamische Kulturerbe zu bewahren), was insofern nachvollziehbar ist, als damit der ökonomisch so wichtige Tourismus eines Tages ins Land geholt werden kann. Das Ministerium für Stadtentwicklung (Ministry of Urban Development, MoUD verfolgt zudem die Idee einer Satellitenstadt für fast eine Million Einwohner ("New Kabul Project") im Nordosten der Stadt, die flächenmäßig das bestehende Kabul sogar übertreffen würde. Wie dies zu finanzieren ist und wie die notwendigen infrastrukturellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden sollen, bleibt unklar.

Sehr viel wichtiger erscheinen die Legalisierung der informellen Siedlungen und ihre infrastrukturelle Versorgung sowie die Entwicklung von Brachflächen in der Stadt.11 Hier ist UN-Habitat bereits aktiv. Die ungeklärte Entwicklungsrichtung und ein fehlendes urbanistisches Leitbild bei UN-Habitat wie auch bei anderen internationalen Organisationen führen aber dazu, dass gerade Entwicklungen wie das Entstehen einer neuen Investorenarchitektur mit ihrer problematischen Überformung der Stadtstruktur nicht thematisiert werden.

Ebenso fehlt eine Planungsstrategie, die eine Planung für verunsicherte und instabile Städte ermöglichen würde, eine Strategie, die auf den kriegsbedingten Austausch der Stadtbevölkerung und die enormen Migrationsschübe mit ihren informellen Bautätigkeiten zu reagieren weiß und diesen angesichts ungeklärter und umkämpfter rechtlicher Bedingungen einen Entwicklungsrahmen bietet. Dazu gehört es auch, die räumliche Präsenz der internationalen Organisationen mit ihren hohen Standards als Potenzial für die Stadtentwicklung zu nutzen, indem diese stärker raumstrukturell in die Stadtentwicklung eingebunden werden.

Planung in Postkonfliktsituationen geht weit über die Herstellung sicherer und guter Lebensbedingungen hinaus, sie beinhaltet auch das Versprechen einer besseren Zukunft. Doch kann eine urbane Vision nicht als modernistische Tabula-rasa-Fantasie implementiert werden, vielmehr muss sie sich an die unterschiedlichen kulturellen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen anpassen und diese zu nutzen wissen. Und sie wird die Gegensätze und Widersprüche, die das Raumgefüge prägen, berücksichtigen müssen.

Planung ohne Plan

In den ersten Jahren nach dem Ende eines Konfliktes konzentrieren sich lokale und internationale Organisationen auf die notwendigen Hilfsmaßnahmen wie medizinische Versorgung und die Bereitstellung einfacher Unterkünfte und Nahrung sowie wichtiger Infrastrukturen (beispielsweise zur Wasserversorgung). In dieser Zeit werden die städtischen Entwicklungspläne immer wieder zurückgestellt, da es zumeist keine funktionsfähige Stadtverwaltung gibt. Zwangsläufig gibt es daher auch keine Planung, die die Stadtentwicklung koordiniert. Damit geht wegen des hohen Wohnraumbedarfs ein Bauboom im informellen Sektor einher, der von Investorenarchitekturen (Büro- und Geschäftsgebäuden) begleitet ist.

Diese Entwicklung kann weder durch traditionelle Planungswerkzeuge (Masterplan) noch durch die bewährten Regularien (Bauordnung) oder die sonst übliche Bauüberwachung sinnvoll strukturiert werden, da in der Postkonfliktära für all diese Maßnahmen keine Kapazitäten bzw. institutionelle Strukturen vorhanden sind. Immer wieder finden in dieser Zeit Eingriffe in die urbane Struktur statt, die später nur mit außerordentlichem Aufwand in eine kohärente Stadtstruktur zurückzuführen sind.

Eine urbanistische Postkonfliktstrategie sollte daher nach Wegen suchen, wie parallel zu den wichtigen und notwendigen Hilfsmaßnahmen die Stadtentwicklung strukturiert und koordiniert werden kann. Dabei sind die verschiedenen Maßstäbe und die damit zusammenhängenden Probleme zu beachten. Im städtischen Maßstab fehlt oft ein Masterplan, der die Postkonfliktsituation berücksichtigt. Da es meist keine Planungsinstitutionen mehr gibt und auch grundsätzliche Informationen wie statistische Bevölkerungsdaten (Zensus) nicht vorhanden sind, ist es kurzfristig nicht möglich, eine adäquate oder sogar vorausschauende Planung durchzuführen.

Hier stellt sich die Frage, wie eine Planung ohne Masterplan praktikabel wäre. Anstelle des üblichen, hochkomplexen Planungsverfahrens müsste ein System entwickelt werden, welches Areale für grundsätzliche Nutzungen freigibt, ohne diese schon genau zu bestimmen. Eine Möglichkeit besteht darin, Investoren bei Bauvorhaben darauf zu verpflichten, zugleich "Mini-Masterpläne" vorzulegen, die die Einbindung in das Grundstücksumfeld beinhalten. Diese Miniatur-Masterpläne können dann später in einen Flächennutzungsplanung (»formal guide plan«) eingebunden werden.12 Diese an Investoren adressierte Planungsform müsste für private, familienbasierte Bauaktivitäten entsprechend modifiziert werden.

Planung ohne Nachbarschaft

Typisch für Postkonfliktsituationen ist die stark ansteigende Bevölkerungszahl durch den Zuzug von Landmigranten und die Rückkehr von Flüchtlingen; oftmals findet sogar ein hoher Bevölkerungsaustausch statt. Durch die Wirren des Konfliktes wurde zumeist das nachbarschaftliche Gefüge in den einzelnen Quartieren zerstört, bzw. es entstanden völlig neue Nachbarschaften. Es entwickelt sich eine rege individuelle und informelle Bautätigkeit, die sich allen Fragen kollektiver Notwendigkeiten entzieht. So gibt es keine gemeinschaftlichen Lösungsansätze für Probleme der technischen und sozialen Infrastruktur, zur Gestaltung von Stadträumen und deren Nutzung.

Das Ziel einer Strategie für diese neu entstandenen Nachbarschaften müsste es daher sein, schon in einer frühen Entwicklungsphase einen Gemeinschaftssinn herzustellen und die Individuen zu motivieren, über das persönliche Grundstück hinaus aktiv zu werden. Zu diesem frühen Zeitpunkt könnten die oft erst viel später eingesetzten Nachbarschaftsprogramme der internationalen Hilfsgemeinschaft (beispielsweise die "Urban Community Upgrading"-Strategie von UN-Habitat) sehr viel wirkungsvoller sein.

Planung ohne Eigentum

Häufig wurden Baugrundstücke illegal angeeignet oder die Rechtslage ist unklar: Entweder ist der Eigentümer nicht bekannt, oder es handelt sich um öffentliche Freiflächen, die zur privaten Nutzung transformiert wurden. Zum einen müsste hier schon sehr früh über eine offizielle Möglichkeit des Bauens nachgedacht werden, die sich auch ohne Masterplan realisieren ließe, zum anderen über alternative Eigentums- oder Besitzverhältnisse, die eine nachhaltige Nutzung erlauben, ohne dass die eigentlichen Eigentümer ihr Land verlieren. Zu diskutieren wäre, welche Möglichkeiten ein vereinfachtes Pachtsystem, das grundsätzliche Rechte und Pflichten klärt, bieten könnte.

Legalität ohne Baugesetz

Die einzelnen Bauprojekte entstehen in der Regel ohne Baugenehmigung, da der Entwicklungsdruck hoch ist und die lokale Verwaltung diesen Service oft gar nicht leisten kann oder auch die Korruption Genehmigungen unerschwinglich macht. Die informellen Gebäude werden meist nach traditionellen Bautechniken errichtet, und da dieses Wissen nicht verloren gegangen ist, sind diese Gebäude grundsätzlich funktionsfähig. Die wegen der mangelnden Baukontrolle dennoch auftretenden Probleme liegen zum einen in der Bauform an sich, die häufig Abstandsflächen, Rettungswege, Belichtung und andere Notwendigkeiten außer Acht lässt, aber auch in der Ausführung und der Statik, die überwiegend keine dauerhafte Qualität besitzen.

Für diese Problemkonstellation müsste man über ein Post-Konflikt-Baugesetz mit vereinfachtem Anforderungsprofil nachdenken, das nur die minimalen Notwendigkeiten herausstellt und unbürokratisch zu vermitteln ist. Für ein solches Baugesetz muss sowohl der Inhalt als auch das Format neu entwickelt werden, da eine abstrakte Gesetzesregelung nicht durchsetzbar wäre. Vorstellbar wäre eine Art Handbuch, das mit einfachsten, auch grafischen Darstellungen die wichtigsten Grundprinzipien aufzeigt und den Bauherren die Sicherheitsanforderungen und die Potenziale einer wertbeständigen Immobilie vermittelt. Auch hier ist zu berücksichtigen, inwieweit sich bestimmte Grundprinzipien auf unterschiedliche kulturelle Kontexte übertragen lassen.

Durchsetzbarkeit

In den meisten Fällen existieren noch gültige Baugesetze aus der Zeit vor dem Konflikt. Diese kommen aber in der Regel nicht zur Anwendung, da keine oder keine ausreichend qualifizierten Kapazitäten zu ihrer Durchsetzung vorhanden sind. Selbst wenn die Zuständigkeit zwischen den internationalen und lokalen Autoritäten geklärt wurde, ist aufgrund der ungenügenden Kapazitäten die Durchsetzung komplexer Gesetze mit zahlreichen Einzelfallentscheidungen nicht zu leisten.

Ziel einer vereinfachten Baugesetzgebung ist es daher, von autorisierten, aber fachlich nicht speziell ausgebildeten Kräften kontrollierbar zu sein. Dies wäre vorrangig das internationale Militär, da dieses auch über das Gewaltmonopol in diesen Situationen verfügt – was allerdings auch politisch brisant ist. Daher sind nicht nur die Nachvollziehbarkeit in den Anforderungen, die Einfachheit in den Grundsätzen und Verständlichkeit in der Darstellung Grundvoraussetzungen, sondern es bedarf neben einer Kommunikationsstrategie auch der Einbeziehung der Betroffenen selbst (etwa durch Nachbarschaftsforen). Hier würde der Planung eine wesentliche Vermittlerrolle zukommen.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass eine urbanistische Postkonfliktstrategie eine urbane Vision entwerfen sollte, die eine Entwicklungsperspektive und "Images of Tomorrow" aufzeigt. Sie sollte neue Formen der Koordination und Durchführung von Entwicklungsmaßnahmen erarbeiten und zwischen der internationalen und der lokalen Ebene vermitteln – und nicht zuletzt auf diese Weise architektonische Werte in die Planung einbringen.