Was macht die Sozionik mit der Gesellschaft?

Wissenschaftler haben anhand von Milliarden von Telefongesprächen den sozialen räumlichen Zusammenhang der Menschen in Großbritannien analysiert

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Dank der digitalen Medien und Netzwerke können nicht nur bislang unvorstellbare Massen an Daten gesammelt und veröffentlicht werden, wie der Fall WikiLeaks wieder eindrucksvoll dokumentiert hat, es können auch immer erstaunlichere Datenmassen von Millionen von Menschen ausgewertet werden, um empirische Aufschlüsse über ihre Verhalten zu gewinnen, was auf der anderen Seite aber höchst beunruhigende Aspekte einer immer weiter fortschreitenden Transparenz hat.

Britische und US-amerikanische Wissenschaftler haben in einer noch eher harmloseren Variante der räumlichen Massendatenanalyse im Rahmen der Sozionik (computational social sciences) versucht, am Beispiel Großbritanniens aus Telefonverbindungen zu schließen, ob die Länder und ihre Verwaltungseinheiten sich auch in der Telekommunikationsdichte als einem Zeichen für den räumlichen Zusammenhang abbilden. Dazu wurden, wie sie in ihrer Studie schreiben, die in der Open-Source-Publikation PLoS One erschienen ist, 12 Milliarden Festnetz-Telefongespräche in einem Monat von mehr als 20 Millionen Menschen ausgewertet. Die Telefonnummern seien anonymisiert und die genaue Lokalisierung erschwert worden, was aber natürlich auch heißt, dass sich aus einem solchen Data-Mining-Verfahren auch persönliche Daten über Individuen ermitteln lassen. Das Territorium Großbritanniens wurde relativ grobmaschig in räumliche Knoten unterteilt, die eine Fläche von jeweils 9,5 x 9,5 km besitzen. Dargestellt werden die Gebiete mit den stärksten Verbindungen, wobei die Länge der Gesamtsprechzeit zugrunde gelegt wurde.

Die "Geografie der Telefongespräche". Dargestellt sind die gemäß der Gesprächszeit stärksten 80 Prozent der Verbindungen zwischen den Gebieten in Großbritannien. Bild: PLoS One

Mit ihren Berechnungen konnten die Wissenschaftler aus den Kommunikationsdaten eine Karte darstellen, die weitgehend mit den Verwaltungseinheiten übereinstimmt. Die Kommunikationsdichte zeigt nicht nur die Bevölkerungsverteilung im Raum an, "sondern auch die regionalen Grenzen". Bestätigt werden die räumlichen Kommunikationsmuster auch durch Flugverbindungen und die Bewegung von Geldscheinen. Vermutlich wäre die Analyse noch genauer, meinen die Wissenschaftler, wenn sich über die Telefonkommunikation hinaus auch die Mobil- und Internetkommunikation einbeziehen ließe.

Entdeckt haben sie im westlichen London eine dicht zusammen hängende, wohlhabende Region, die durch Hightech-Aktivitäten strukturiert wird. Wales und Yorkshire haben sich in Regionen integriert, die von den großen Städten dominiert werden. Während Wales mit seiner kulturellen und sprachlichen Tradition nach den Kommunikationsdaten gut mit den englischen Nachbarn im Osten verbunden ist, was auch für die Verbindung zwischen walisischen und englischen Städten zutrifft, scheint es aber eine große Distanz zwischen Schottland und dem Rest Großbritanniens zu geben. Nur etwas mehr als 23 Prozent der Telefonkommunikation kommt aus einem anderen Teil des Landes oder geht dorthin. Bei einem Zufallsnetzwerk würde man hingegen von 37 Prozent ausgehen. Da es in Schottland eine starke Bewegung nach Unabhängigkeit vom Rest Großbritanniens gibt, würde das zumindest die Menschen dort kaum beeinträchtigen. Das könnten man in Schottland noch einmal als Bestätigung sehen, sich von Großbritannien zu lösen.

Interessant, wenn auch nicht überraschend ist, dass die Sozioniker gerne immer mehr und unterschiedliche Daten erhalten und analysieren wollen. Das erinnert daran, dass Wissenschaft, Aufklärung, staatliche Kontrolle und Geheimdienste einen gemeinsamen Ursprung haben. Schön wäre es, so die Wissenschaftler wenn neben der Mobil- und Internetkommunikation etwas auch die Kreditkartendaten ausgewertet werden könnten, um die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen den Individuen zu erschließen, oder die Bewegungsmuster, um für Politik und Planung bessere Daten zu liefern.

"Wir sind besonders daran interessiert, inwiefern umfassende Daten auf der individuellen Ebene ein besseres Verständnis unserer Gesellschaft ermöglichen, was in der Zukunft zu demokratischeren, Bottom-up-Regierungsstrukturen führen kann", sagt etwa Mitautor Francesco Calabrese vom MIT. Das ist freilich zu bezweifeln und scheint eher ein verschleierndes Legitimationsargument zu sein. Denn entweder ergeben sich Entwicklungen von unten durch demokratische Selbstorganisation - oder man versucht, ausgehend von wissenschaftlichen Analysen, von oben einzuwirken.