Was nun, Piraten?

Interview mit Thorsten Wirth, dem neuen Vorsitzenden der Piratenpartei

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Beim jüngsten Parteitag der Piratenpartei wurde Thorsten Wirth zum neuen Vorsitzenden der Piratenpartei gewählt. Inzwischen gibt es eine große Koalition, die netzpolitisch wenig Beweglichkeit erkennen lässt und auch den Überwachungswahn offenbar fortsetzen will. Werden sich die Piraten bis zur Europawahl erholen?

Disclosure: Der Frager ist Mitglied in den Parteien DIE PARTEI und Piratenpartei.

"Zensursula" von der Leyen greift zu den Waffen und wird Kronprinzessin. Alexander Dobrindt wird gewissermaßen Internetminister. Pinkelt die CDU den Piraten ins Gesicht?

Thorsten Wirth: Sie pinkelt allen ins Gesicht und nicht nur, seit sie die Regierungsriege aufgestellt hat. Dass nun eine Frau Verteidigungsministerin ist, ist zwar schön, weil nicht so testosterongesteuert, aber auch kein echter Trost, da uns Frau von der Leyen in der Vergangenheit gezeigt hat, dass sie eine fremdgesteuerte Drohne der Lobbymaschine in Berlin ist. Aber da ist sie ja nicht allein.

Dobrindt, der Die Linke überwachen und verbieten lassen will, ist alles Mögliche, aber keine Person, die die Netzgemeinde hinter sich versammeln wird. Es riecht nach Napalm!

Thorsten Wirth. Foto: Tobias M. Eckrich. Lizenz: CC BY 2.0.

Die kommende Europawahl ist für die Kernthemen der Piraten wichtiger als alle anderen, da die Richtlinien für Urheberrecht und Überwachung von den Lobbyisten in Brüssel und Straßburg entschieden werden. Halten die Piraten im Wahlkampf wieder an ihrem Motto - allgemeinpolitische - "Themen statt Köpfe" fest?

Thorsten Wirth: Nein! Die Listenkandidaten werden die Botschafter unserer Vorstellung von Europa werden und dieses "Themen statt Köpfe" ist in der Piratenpartei eh schon ein alter Hut. Wir werden in Zukunft schon auch verstärkt die Personen, die unsere Themen transportieren, in die Öffentlichkeitsarbeit mit einbinden und ihnen den Raum geben, den sie brauchen. Die Passivität der Vergangenheit ist Vergangenheit. ;)

Ihre Parteifreundin Marina Weisband sagte Anfang des Jahres, die Partei sei "im Arsch", aber in keinem, aus dem sie nicht wieder herauskämen. Wie wollen Sie die Partei aus der rektalen Position befreien?

Thorsten Wirth: Die viel beschworene Professionalisierung der Piratenpartei hat einige Leute dazu bewogen, zu übersteuern. Es wurden Attitüden an den Tag gelegt, die wir so nur von Parteien erwarten würden, die sich schon seit Jahrzehnten in unseren System festgefressen haben. Leeres Geschwurbel und überspielte Ahnungslosigkeit haben den Verlust an Glaubwürdigkeit zur Folge. Das können wir besser - und wenn wir eine Währung haben, die wir verwenden können, dann ist das unsere Authentizität. - Wir sind die mit den Fragen!

Die Piraten haben auch auf ihrem jüngsten Parteitag bezahlte Funktionäre abgelehnt. Verdienen die Themen der Piraten keine professionelle Vertretung?

Thorsten Wirth: Das tun unsere Themen, aber wir haben das Geld einfach nicht. Da können wir aktuell nicht viel machen, außer natürlich die Bitte an die Menschen richten, dass sie uns doch mit etwas Geld in unserer Arbeit unterstützen.

Anfang des Jahres war selbst manchem politischen Journalist nicht bekannt, dass die "Internet-Partei" für Datenschutz und gegen Überwachung eintritt. Letzte Woche wurden Sie Ohrenzeuge, dass selbst einem für Filesharing-Abwehr bekannten Rechtsanwalt die tatsächliche Position der Piraten zum Urheberrecht nicht bekannt ist. Wie beurteilen Sie die Öffentlichkeitsarbeit Ihrer Partei?

Thorsten Wirth: Fangen wir doch einmal mit der Öffentlichkeit selbst an und rufen uns mal vor unser inneres Auge zurück, über was Medien in den - bundestagswahlkampfentscheidenden - Jahren 2012 bis 2013 bevorzugt berichtet haben. Insbesondere für die Zeit ab Mitte 2012 bis Mitte 2013 werden wir sehen, dass nicht nur der viel zitierte und netz- und medienöffentlich ausgetragene BuVo-Streit unsere mediale Außendarstellung geprägt hat. Nein, es gab und gibt immer wieder Landes- und Kreisvorstände, die sich hier und da netzöffentlich an die Gurgel gehen oder sich mehr als unglücklich äußern.

Reihenweise traten Piraten netzöffentlich per Blogpost oder Twitter-Tweet zurück und aus, da sie die nervenzerreibenden Umstände, unter denen Parteiarbeit bei uns noch zu oft stattfindet, nicht mehr aushalten. Piraten verbreiteten über Monate jeden Tag und jede Minute über alle erdenklichen virtuellen Kanäle von Mailinglisten über Twitter bis hin zu Blogs so viel Gossip und so viel Streit, dass sich sogar ein eigens für diesen Gossip gewidmeter Blog namens Popcornpiraten gründete: bis seinem Macher die ständige Wiederholung des immer gleichen - und auch die persönlichen Drohungen gegen seine Person - selbst über waren.

Und die Betonung bei all dem liegt bereits hier auf dem Wort "netzöffentlich" und der entscheidenden Frage: Wie soll die Öffentlichkeitsarbeit der Piratenpartei verhindern, dass die Medien über Streit, Konflikt oder Ausfälligkeiten berichten, wenn wir sie doch öffentlich vor ihnen breittreten und austragen?

Würden Medien selbst, die die Aufgabe haben, auch die Entwicklung von Parteien kritisch zu beobachten, ihrer Rolle gerecht werden, würde sie vor dem ganzen Streit und der Häme auf Twitter die Augen verschließen? Ja, auch Medien sind sicher nicht unpolitisch. Doch könnten wir Piraten unsere eigene Öffentlichkeitsarbeit massiv unterstützen, würden wir unseren persönlichen Streit auf Wegen lösen, die nicht über die politische oder mediale Agenda führen.

Gleichzeitig, und auch das stimmt, haben wir versäumt, ausreichend für unsere politischen Ziele zu kämpfen und dementsprechend Öffentlichkeit für sie zu schaffen. Wir haben als Partei und politische Vertretung nicht nur über unsere Skandale Vertrauen verspielt, sondern über eine bisher noch ungenügende Vermittlung unserer Positionen - nimmt man das Wahlergebnis - auch wenig Vertrauen hinzugewonnen. Seit Mitte 2013 und mit dem Wahlkampf sehe ich aber eine Tendenz weg von den Skandalen hin zu einer eher durch inhaltliche Positionen geprägte Außendarstellung. Hier müssen wir weiterarbeiten. Das heißt für mich auch, dass wir Blockaden, die eine gute Öffentlichkeitsarbeit in den vergangenen Jahren verhindert haben, auflösen.

So erhalten die Themenbeauftragten mehr Freiräume und wir werden sie auch auffordern, diese zu nutzen. Wir schaffen mehr Freiräume für die einzelnen Servicegruppen, damit diese schneller und eigenständiger Arbeiten und sich besser und schneller vernetzen können. Auch müssen wir als Bundesvorstand darauf achten, dass die Öffentlichkeitsarbeit der Partei nicht länger ein parteiinternes Politikum bleibt und die Arbeit nicht von Personen behindert wird, welche die Deutungshoheit an sich reißen wollen und deren persönliche Integrität gegenüber unseren gemeinsamen Zielen durchaus infrage gestellt werden kann.

Das ist eine menschliche Komponente die viel Kraft und Aufmerksamkeit kostet und mit der man sich auch schnell der Kritik aussetzt. Jetzt sehe ich ein Team, an dessen Integrität ich nicht zweifele, und das auch gut zusammenarbeitet und auch Spaß daran hat. Einen berechtigten Anlass, die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zum Sündenbock des verfehlten Bundestagseinzugs zu machen, kann ich nicht erkennen.

In Ihr persönliches Team haben Sie eine für Provokation bekannte Ex-Vorständin aufgenommen, deren polarisierendes Internet-Exhibitionistinnen-Buch die Piraten Marktanteile in Sachen Datenschutz und Glaubwürdigkeit gekostet haben dürfte. Ist genug Gras über die Sache gewachsen oder geraucht worden?

Thorsten Wirth: Oh, alleine diese Frage schon! Es geht um Julia Schramm. Julia ist, in meinen Augen, eine Künstlerin. Sie macht Dinge, die polarisieren, an denen sich die Menschen reiben, weil sie mit unter auch gefangen sind in Denkmustern, die mit einer normalen Ansprache nicht aufgebrochen werden können. Um es mit den Worten von Prof. Peter Kruse zu sagen: Ein System braucht Menschen die das System in Unruhe versetzt, damit neue Gedanken gedacht werden können. Ich verweise dazu auf diesen Vortrag von Professor Peter Kruse.

"Der Umgangston unter den Piraten, der auch öffentlich gepflegt wird, gilt als beschissen. Etliche dieser Vollpfosten pissen sich gegenseitig an. Wie, zum Fick, werden Sie mit diesem Scheiß klar kommen?"

Auch der für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortliche Pirat, dessen eigenwilliger Wahlwerbespot nicht durchgehend auf Begeisterung stieß, ist Mitglied in ihrem persönlichen Team. Im Presseteam scheint man ebenfalls Kontinuität zu wahren. Sieht so ein Neustart aus?

Thorsten Wirth: Nichts, was gemacht wird, wird allen gefallen. Heute nicht und morgen nicht. Christophe Chan Hin hat viel Rückhalt bei den Menschen, die in den Servicegruppen arbeiten. Er hat angefangen, neue, und auch unabhängig arbeitende Strukturen zu schaffen und nun hilft er mir dabei, das weiter zu machen. Dafür danke ich ihm sehr. Und wenn man es genau nimmt, er hat den Stand, genau den Menschen, die viele andere Leute bei ihrer Arbeit behindern, deutliche Ansagen zu erteilen. Dass das nicht immer ohne Kritik abläuft, ist klar, aber es ist notwendig.

Diese Woche sendet das ZDF ein Interview - nicht mit Ihnen als neuem Häuptling, sondern mit dem vormaligen politischen Geschäftsführer, der die Peinlichkeiten des "BuVo-Theaters" maximierte und den die Basis in einer parteiinternen Umfrage mit "6" bewertete. Werden sich die für ihre Toleranz bekannten Piraten auch weiterhin von Egozentrikern, Sektierern und datenschutzkritischen Spacken die Schau stehlen lassen?

Thorsten Wirth: Wenn Johannes dem ZDF ein Interview gibt, dann hat das zwei Ursachen: Das ZDF bittet ihn und Johannes sagt zu. Ich spiele in diesem Frage-Antwort-Roulette keine Rolle. Wir werden uns auf unsere Arbeit konzentrieren, und wenn die gut ist, wird alles Weitere ganz von alleine passieren. Aufregung generiert Aufregung, einfach mal locker bleiben und das tun, was man selber für das Beste erachtet. Vielen dieser, wie du es schreibst "Egozentrikern", bereiten wir durch künstliche Aufregung ja erst den Hof. Das nervt.

Der profilierteste Politiker der FDP war zuletzt mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eine Frau. Auch bei der CDU dominieren gegenwärtig Frauen. Die SPD hingegen gilt als "Männerpartei" - trotz 25 Jahren Frauenquote. Die grünen QuotenpionierInnen leisten sich in NRW eine Gesundheitsministerin mit Vorliebe für Homöopathie. Bei den Piraten überwiegen nunmehr auch ohne Quote Frauen im Bundesvorstand, der größte Landesverband wird von einer Frau geführt, bei den Aufstellungsversammlungen erhielten Bewerberinnen 2,6-mal mehr Stimmen als männliche Piraten, im Wahljahr präsentierte sich die Partei in Talkshows fast nur noch feminin, mit Marina Weisband und Katharina Nocun haben zwei politische Talente eine rasante Karriere gemacht und sind hochrespektiert. Dennoch fordern bekannte Berliner Piratinnen und Piraten eine 50-%-Frauenquote. Brauchen die Piraten Ideologien und -Ismen?

Thorsten Wirth: Was die Piraten brauchen oder nicht, entscheidet die Mitgliederversammlung.

Der Umgangston unter den Piraten, der auch öffentlich gepflegt wird, gilt als beschissen. Etliche dieser Vollpfosten pissen sich gegenseitig an. Wie, zum Fick, werden Sie mit diesem Scheiß klarkommen?

Thorsten Wirth: "Den Umgangston" gibt es so gar nicht und schon gar nicht auf eine gesamte Partei bezogen. Die meisten Leute, mit denen ich kommuniziere, sind höflich bis freundlich und sogar locker und freundschaftlich. Die Leute, die ehrverletzend unterwegs sind, sind, auch in der Piratenpartei, eine verschwindend geringe Minderheit. Aber leider eine sehr laute Minderheit, und wer laut schreit, den nehmen die Leute halt wahr und, was das Schlimmste ist, sie schenken ihnen Aufmerksamkeit.

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